Ukrainer und Russen in Spanien: Wie der Krieg Torrevieja verändert

Die vielen Geflüchteten aus der Ukraine lassen die Einwohnerzahl und Schulklassen stark anwachsen. Die russische Gemeinschaft hingegen ist auffällig still.
Torrevieja - Man könnte meinen, dass im Sommer die Normalität nach Torrevieja zurückgekehrt sei. Dass die Touristenhochburg in der Hochsaison 2022 aus allen Nähten platzte, kennt man ja von Zeiten vor Corona. Rekord-Auslastungen von bis zu 95 Prozent meldeten die Hotels der Stadt an Spaniens Mittelmeerküste in den Sommermonaten. Aber in der Salinenstadt an der Costa Blanca gibt es unabhängig vom Tourismus noch einen zweiten Grund für vollere Straßen als sonst, und der ist nicht gerade sonnig. Deutlich angewachsen ist 2022 die Bevölkerungszahl, und zwar in erster Linie wegen des Krieges in der Ukraine.
Russen und Ukrainer in Spanien: Wie der Krieg Torrevieja verändert
Von 87900 auf 88800 Menschen sprang 2022 die Zahl der gemeldeten Einwohner laut Daten des städtischen Statistikamts vom Sommer. Das ist überaus auffällig, zumal etwa nach dem Brexit vor allem der Schwund von Bürgern im sehr britisch geprägten Süden der Costa Blanca für Kopfschmerzen sorgte. Und wahrscheinlich wäre Torreviejas Bevölkerung auch in diesem Jahr geschrumpft, hätte das Putin-regierte Russland die Ukraine nicht am 24. Februar angegriffen. Seit der Eskalation des Kriegs hat sich Torrevieja, in dem seit Jahrzehnten Russen und Ukrainer friedlich zusammenleben, grundlegend verändert.
Nicht zuletzt zu Beginn des neuen Schuljahres machten sich die Auswirkungen des Krieges bis an die Costa Blanca bemerkbar. Einen beachtlichen Zuwachs an Schülern stellte besonders der Raum Torrevieja fest: 2000 Kinder mehr als noch vor einem Jahr müssen 2022/23 in den Klassen untergebracht werden. Dahinter steckt aber eben keine außergewöhnliche Geburtenquote, sondern in erster Linie der von Vladimir Putin ausgelöste Krieg. Tausende geflüchtete Menschen aus der Ukraine nahmen die Gemeinden an Spaniens Mittelmeerküste auf, seit das Land durch Russland überfallen wurde.
1400 Ukrainer neu in Torrevieja: Aus „russisch“ wird „international“
Schon im zweiten Halbjahr des vergangenen Schuljahres schufen die Schulen der Stadt an der Costa Blanca Räume für die kleinen Geflüchteten. Der Ukraine-Krieg ist das entscheidende Motiv für die gewachsene Schüler- und Einwohnerzahl. Denn 1393 Menschen aus dem kriegserschütterten Land meldeten sich allein dieses Jahr in Torrevieja an. Also deutlich mehr, als die Differenz von 900 in den Einwohnerzahlen von Januar und August 2022. Nun stellen die Menschen der Ukraine mit 4596 Bewohnern sogar die zweitgrößte ausländische Bevölkerungsgruppe der Stadt und nähern sich langsam den britischen Spitzenreitern (4813) an.
Auch wenn Torreviejas Ukrainer im Tourismustrubel des Sommers etwas untergingen: Nach wie vor laufen ihre Hilfsaktionen für ihr Land auf Hochtouren. Und zu Wort melden sie sich auch lautstark, etwa im Juli vor Eröffnung des internationalen Sol-Filmfestivals. Aufgrund einer vermeintlich Putin-freundlichen Haltung der russischen Veranstalter protestierte der Ukraine-Verein gegen das Event und rief zum Boykott auf. Dabei hatten die Sol-Organisatoren vieles dafür getan, das Russische aus dem einstigen russischen Festival von Torrevieja möglichst zurückzustellen und den internationalen Charakter des Events zu betonen.
Kleines Russland an Costa Blanca: Wenn alles Russische verschwimmt
Und dies entspricht einer bemerkenswerten Tendenz in der bunten Stadt der internationalen Residenten: Bis zum 24. Februar waren die russischen Bewohner von Torrevieja noch eine schillernde Gruppe der Salinenstadt. Doch seit der Krieg in der Ukraine tobt, sind sie irgendwie vom Erdboden verschluckt. Allein im Stadtbild sind die Russen nur noch ein Schatten ihrer selbst. Längst ist das ukrainische Blau-Gelb das omnipräsente Zeichen der allgemeinen Solidarität mit dem angegriffenen Land geworden. Fast gänzlich zurückgezogen haben sich in der Stadt der vielen Nationalflaggen dagegen die russischen Kennzeichen, so farbenfroh, glänzend bis zu kitschig, und doch so typisch für Torreviejas Schaufenster, Theken oder auch Scheiben von (luxuriösen) Autos.
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Selbst der Name von Russland verschwimmt in Torrevieja, siehe das nicht mehr „russische“ sondern „internationale“ Filmfestival Sol. Und doch trügt der Schein. Immer noch stellen die Russen - nun hinter den Ukrainern - die drittgrößte Gruppe ausländischer Bürger in der so internationalen Stadt an Spaniens Mittelmeerküste. Im stetigen Diskurs zum Krieg in der Ukraine fällt jedoch auf, wie unsichtbar die russische Perspektive ausgerechnet im kleinen Russland an der Costa Blanca dasteht. Kurz nach der Invasion war das in Torrevieja und Umgebung noch etwas anders.
Nach der Solidaritätswelle die lange Funkstille
Als im Februar Vladmir Putin die Invasion in der Ukraine startete, meldeten sich im Raum Torrevieja russische Bürger und Kollektive mit solidarischen Äußerungen und auch Taten, indem sie Verwandte, die vor dem Krieg flüchteten, bei sich aufnahmen. Auch das vermeintlich weiter harmonische Miteinander der Russen und Ukrainer in Torrevieja betonten spanische Medien in den ersten Wochen des Krieges. Doch dann folgte die lange russische Funkstille, unterbrochen höchstens durch Schlagzeilen eher negativer Art. Etwa als ein Ukrainer in einer Bar in Torrevieja von drei Russen verprügelt wurde.
Anfang Herbst jedoch sammelte die „Información“ mal wieder einige russische Stimmen in Torrevieja, wenn auch durchweg anonymer Art. Für große Unruhe bis nach Torrevieja sorgte Vladmir Putins neuester Vorstoß mit der Teilmobilmachung, die die Front in der Ukraine durch 300000 Reservisten stärken soll. Mehrere Angestellte russischer Läden teilten der Zeitung mit, dass sie erleichtert seien, dass ihre Söhne in Spanien weilen und so trotz wehrfähigem Alter nicht eingezogen werden können. Zudem sorge das unmöglich gewordene Reisen nach Russland unter Torreviejas russischen Bürgern für Tristesse.
„Wir sind weit weg“: Putin in der Hosentasche
Allerdings, so die „Información“, scheint unter den Russen an der Costa Blanca durchaus die Meinung vorzuherrschen, dass es notwendig sei, Opfer zu bringen, um Territorien der Ukraine wiederzuerlangen. Sprich: Der Krieg sei im Wesentlichen gerechtfertigt. Das dürfte nicht verwundern. Schließlich war selbst in den Jahren nach 2014, also der Annexion der Krim, etwa das Portrait des Vladimir Putin in Torrevieja eines der verbreiteten Kennzeichen in russischen Ecken der Stadt. Auf der Linie des Präsidenten dürften viele russische Einwohner selbst 3500 Kilometer von Moskau entfernt sein.
Zum Thema: Kleine „Ukraine“ an der Costa Blanca
„Wir sind in Torrevieja seit 20 Jahren, wir sind weit weg“, ist eines der anonymen Zitate, die die „Información“ bei Globus einfing, einem der bekannteren russischen Vereine in Torrevieja. Eine Bar, ein Sozialclub, eine kyrillische Bibliothek finden sich hier, zudem direkt anbei ein Immobilienbüro. Dessen Angestellte hätten die Weisung, sich nicht zum Krieg zu äußern. „Am Anfang haben wir etwas gesagt, aber das war letztendlich immer zu unserem Nachteil“, hieß es.
Nur zu vermuten ist, wie sich die russische Community auf die nächste mögliche Flüchtlingswelle einstellt. Nun aber nicht mehr mit Menschen mit wehenden blau-gelben Flaggen als Protagonisten, sondern mit sich unauffällig gebenden Männern im wehrfähigen Alter, die die Farben Weiß, Blau und Rot höchstens verborgen in der Hosentasche tragen.
Ukraine-Hilfen in Torrevieja: Unterstützung für Geflüchtete sowie Spendenmöglichkeiten für kriegsbetroffene Regionen bietet der ukrainische Verein in der Calle Pedro Lorca 138, dienstags bis samstags von 10 bis 20 Uhr.