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Torrevieja: Kleines Russland an der Costa Blanca

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Von: Marco Schicker

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Nostalgie und Folklore: Die vielen Russen und Bürger aus der Ex-Sowjetunion in Torrevieja haben sich ein Stück Heimat an die Costa Blanca mitgenommen. © Marco Schicker

Etwa 250.000 Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion leben in Spanien. Jeder Zehnte davon hat sich in Torrevieja niedergelassen, viele mittlerweile in zweiter Generation. Wie sie leben, warum sie kamen und weshalb sie bleiben erzählt eine Bewohnerin, die als Achtjährige nach Spanien kam.

Torrevieja - Das Bild „des Russen“ wird bei vielen Westeuropäern von triefenden Klischees dominiert. Da heißt es „Mafia“, „Wodka“, denkt man an Luxusleben, finstere Geldproleten und kapriziöse weibliche Anhängsel. Doch Klischees fallen nicht vom Himmel: Ein Tag im Jachthafen Campomanes in Altea oder im Puerto Banús von Marbella scheint diese Vorurteile zu bestätigen, wo Protzautos von Luxus-Jachten geladen werden und in den Edelbars die Champagnerkorken knallen.

Von Russland nach Torrevieja: Einen besseren Platz zum Leben gesucht

Torreviejas prosaisch bis ärmlich anmutende Innenstadt hingegen, da wo tausende Russen und Ex-Sowjetbürger sich ein Klein-Sotschi nachgebaut haben, bildet das ganze Gegenteil davon. Die Stadt beherbergt heute die größte russischsprachige Gemeinde Spaniens. Aber warum?

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Anna Semjonowa ist mit dem Russischen Filmfestival und dem Globus-Kulturzentrum in Torrevieja zu einer inoffiziellen Botschafterin Russlands in Spanien geworden. © Marco Schicker

Wir treffen Anna Semjonowa, eine quirlige Mittzwanzigerin, verheiratet, fünfjähriger Sohn, Geschäftsfrau und in gewissem Sinne inoffizielle Kulturbotschafterin ihrer Geburtsheimat in Spanien. Sie empfängt uns im Euro-Kinesia, einem großen Fitness-Studio mitten im verbauten Zentrum Torreviejas, das ihrer Familie ebenso gehört wie die Globus-Gruppe mit Kulturzentrum, Cafetería, Buch- und Souvenirladen, Reise- und Immobilienbüro.

Wieso kam sie her? „In den Neunzigern hatten wir alle paar Jahre eine Wirtschaftskrise in Russland. Danach waren Geld und Gut der normal arbeitenden Menschen nur noch die Hälfte wert. Nach dem dritten Mal hatten meine Eltern genug und schauten sich nach einem besseren Platz zum Leben um“, erzählt sie uns.

Anna stammt aus dem Süden Russlands, der Gegend zwischen Krasnodar und Sotschi am Schwarzen Meer. „Einige versuchten es in den USA, hatten aber immer Ärger mit den Papieren“, so hörten sie über Bekannte von Spanien und den dortigen Möglichkeiten.

Die Saratow-Connection

„Im Jahr 2000 zogen wir nach Spanien, damals war ich acht Jahre alt. Erst lebten wir in Elche, mein Vater montierte im ganzen Land TV-Schüsseln, damit die Leute russisches Fernsehen schauen konnten. Dann zogen wir von Job zu Job, erst nach Guardamar, dann nach Torrevieja.“

Warum sich gerade hier im wirklich nicht gerade mondänen Küstenort so viele Ex-Sowjetler ansiedelten? „Naja, Mafia, das Wort gefällt mir nicht so. Aber es gab schon eine gewisse Connection, Leute aus Saratow, die in den Neunzigern viele Landsleute zum Arbeiten hierher lockten. Sie behielten als Gegenleistung für die Vermittlung von Jobs und Papieren ein paar Gehälter ein, naja, das war schon nicht so ganz sauber“, grübelt Anna.

Sol heißt auf Spanisch Sonne und auf Russisch Salz, das passt doch prima nach Torrevieja.

Anna Semjonowa, Organisatorin des russischen Filmfestivals

Im Ergebnis kamen Familien nach Torrevieja nach und konnten bleiben, weil der spanische Staat Mitte 2003 eine Art Aufenthaltsamnestie für Nicht-EU-Bürger erließ. Wer bis dahin hier war, zwei Jahre Tätigkeiten und ein leeres Strafregister vorweisen konnte, durfte bleiben. Anna Semjonowa hat bereits den spanischen Pass und somit keine Probleme mehr.

Doch fühlt sie sich auch heimisch? „Es ist wohl eine Generationenfrage“, meint sie. Sie genießt „die Freiheit und die Ordnung“ in Europa. „Ich bin heute noch am Ausflippen, wenn ich höre, dass der Schwager des spanischen Königs ins Gefängnis muss. Das würde es in Russland niemals geben“, erklärt sie in perfektem Spanisch mit einem unvermeidbaren Russland-Gedächtnis-Akzent und in Anspielung an die russische „Zarenfamilie“. „Die Älteren halten natürlich die Fahne ihrer Heimat hoch, haben Heimweh“, aber sie wüssten die Vorzüge Europas schon zu schätzen, sagt Anna.

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Russisches Torrevieja: Die größte Russisch sprechende Gemeinde in Spanien hat im Zentrum von Torrevieja viele Läden und Kultureinrichtungen gegründet. © Marco Schicker

„Es ist besser in Spanien arm zu sein als in Russland“

Das bestätigt uns auch Olga, Mitte 50, aus Kiew, bis 1995 in Moskau. Die Lehrerin arbeitet in Torrevieja in einem Friseursalon von der Sorte „Unisex, jeder Schnitt fünf Euro“. „Das Leben ist hart, es ist nicht leicht, Arbeit zu finden, wenn man nicht gut Spanisch spricht, und mein Chef, aus der Ukraine, ist nicht gerade der Großzügigste.“ – Aber, so Olga: „Es ist viel besser in Spanien arm zu sein als in Russland.“

Heimweh will gestillt sein, die russische Seele – Hallo Klischee! – braucht Nahrung. „In Torrevieja konnte man vor 15 Jahren nicht einmal eine russische Zeitung oder ein Buch kaufen“, erzählt Anna von den Anfängen ihres kleinen Imperiums. So bestellte ihre Familie Lesbares in Deutschland, das wegen seiner Millionen Russlanddeutschen eigene Druckereien hat und eröffneten „Globus“. Am Anfang ein kleiner Zeitungskiosk mit ein paar Büchern, vor allem für Kinder.

Ein Russe ohne Kefir ist wie ein Deutscher ohne Bier

Mit der Zeit wuchs nicht nur ihr Geschäft, sondern eine eigene Stadt in der Stadt, mit russischen Kindergärten und Schulen, an einer kann man sogar das russische Abitur machen, natürlich Lebensmittelläden, Ballettgruppen, Kneipen und einer Fahrschule namens CCCP. Sogar einen Lieferservice für die reiche russische Küche gibt es, der bringt hausgemachte, dampfende Pelmeni mit dicker Smetana-Creme und erfrischende Kalte-Gurken-Suppe, die Ukroschka, ins Haus oder auch den Olivier-Salat, der in Spanien als Ensaladilla rusa bekannt ist.

Die Facebook-GruppeRussisches Torrevieja“ hat über 20.000 Mitglieder und klärt neben den üblichen Expat-Problemen auch Überlebenswichtiges: Wie kommt man an die Pilzkultur, die man zum Ansetzen des Kefir (Sauermilch) benötigt. Ohne Kefir und Kwas hält ein Russe nämlich genauso lange durch wie ein Spanier ohne Chorizo oder ein Deutscher ohne Bier und Meckern. Ein paar Tage – mit Glück. Anna preist uns ihre Globus-„Stolowaja“ an „Deine Leser müssen mal unseren Borschtsch“ probieren, „den aus der Kubansker Region“, schwärmt sie.

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Ein bisschen Glamour: Das Russische Filmfestival Sol in Torrevieja. © Sol Russian Film Festival

Neben dem Business gibt es auch den Verein Globus. Der stellt in diesem Jahr zum sechsten Mal in Folge das Kino- und Theaterfestival Sol auf die Beine, das größte russische Kulturfest in Spanien. Wegen der Coronavirus-Krise nicht im Frühling, sondern ab 29. Oktober 2020, bringt Anna, zusammen mit Chefin Anastasia, ihrer Mutter, etwas Glanz in die Torreviejenser Hütte.

Die Russen mögen es, wenn man ihnen ein bisschen das Gefühl von Glamour und Luxus gibt.“ So holt sie, gemeinsam mit dem Moskauer Filmstudio Sol, echte russische Stars an die Costa Blanca, vom Kaliber vergleichbar mit unseren Mario Adorfs oder Veronika Ferres, und dazu brandneue Kinoproduktionen, zwei Theaterstücke, Stand-Up-Comedy, Live-Musik. „Sol“ heißt auf Spanisch Sonne, auf Russisch „Salz“: „Passt doch prima!“, freut sich die geschäftige Frau.

Russland oder Spanien: Die nationale Gretchenfrage

Doch was ist nun mit der Mafia, den Bodyguards von Putin, die angeblich auf Altea Hills eine so ausschweifende Orgie feierten, dass sie von der Polizei geräuschlos zu einem Privatjet verfrachtet wurden? „Das sind doch alles nur Gerüchte“ sagt Annas Ehemann streng aus dem Hintergrund. Sie lächelt ein Lächeln, das Nachfragen unterbindet: „Wir hier in Torrevieja haben noch nie was mit irgendeiner Mafia zu tun gehabt.“ Und: „Mit unserer Arbeit engagieren wir uns ja auch für ein normales Bild von den Russen in Spanien“, ergänzt sie wie eine professionelle Diplomatin.

Kann sie sich vorstellen, nach Russland zurückzukehren? „Um dort zu leben?“, fragt sie fast schockiert zurück. „Zum Urlaub schon. Ich mag Moskau, genieße es dort. Aber ohne Geld bist du dort ein Niemand. Ich sehe ja, wie meine alten Freunde leben.“

Wir machen den ultimativen Patriotentest: Fußball-WM. Spanien gegen Russland? „Wenn ich dir darauf antworte, bekomme ich ernste Probleme mit meiner Familie“, lacht Anna und verabschiedet sich mit zwei Küsschen. Bei einer Russin wären es drei gewesen...

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