Bologna, wo Nebrija 1465-1470 an der spanischen Fakultät studierte, lehrte und forschte, war damals sozusagen die Schreib- und Studierstube der italienischen und europäischen Renaissance. Hier herrschte freie Luft zu atmen, fand sich Nebrija unter klugen freien Geistern wieder, während sein Land zwar physisch in neue Welten aufbrach, rechtlich, geistig und moralisch aber in ein tiefes Mittelalter verfiel. Das spanische Paradoxon.
Nach Bologna und dem internationalen Austausch kam das andere Extrem: Fast 12 Jahre zieht sich der Gelehrte in die Stille der Extremadura zurück, um seine Hauptwerke zu verfassen. Er schuf dort die erste Grammatik, die das Kastillische als eigenständige Sprache definierte, unter wissenschaftlicher Systematik und nicht als Produkt des Zufalls und der Straße. Sich dabei aber - neben dem Primat des Lateins als "überlegener Sprache" - auch an der gelebten Praxis orientiert zu haben, dem Volk aufs Maul zu schauen, statt ihm einen akademischen Maulkorb überzustülpen, ist das Verdienst Nebrijas.
Er wurde so über den Linguisten hinaus zum Humanisten, auch nach außerakademischen Kriterien. Satzbau und Satzteile, grammatikalische Formen, Deklinationen, Artikel, Präpositionen, Orthograohie, Sytnax definierte Nebrija so, dass sie bis heute für viele europäische Sprachen Gültigkeit behielten. Aufbauend auf den großen Grammatikern der Antike, sorgte er für sprachliche Ordnung im Vielvölkerstaat. Und er verschaffte den Spaniern mit der endgültigen Verankerung des Buchstaben ñ, der zuvor vor allem als Abkürzung für Doppelbuchstaben diente, eine unverwechselbare Sprach-Marke. Spanien machte die Welle.
Es ist auch Nebrija zu verdanken, dass mehrere tausend arabische Begriffe, die bei den Mozarabern, also den unter den Arabern lebenden Christen und den Konvertiten noch lange nach Ende der "Reconquista" zum Alltag gehörten, bis heute im Spanischen überdauerten, organischer Teil ihrer Sprache und ein Spezifikum des Spanischen wurden. Daher konnte er die Grammatik auch nicht ohne Wöterbücher stehen lassen. Es gab zwar schon einige davon vor ihm, unter anderem von Alfonso de Palencia, die aber grobe Mängel und Lücken aufwiesen, die spanische Sprache mehr zensierten als sie darstellten und ordneten. Vor allem fehlte der verbindliche Bezug zur lateinischen Entsprechung. Die lieferte Nebrija.
Daneben musste er die anderen Sprachen, Dialekte und Mundarten auf spanischem Territorium berücksichtigen, schließlich spülte es Portugiesisches über das Galicische hinein, es gab archaisches Asturianisch, das völlig aus dem Rahmen fallende Baskisch und das Katalanisch-Oxitanische, dessen Wurzeln schon im 10. Jahrhundert liegen, das aber wiederum auch französische Dialekte und italienische Einflüsse mitbrachte. Und dann erst das völlig verwilderte Andalusisch! Spanisch wurde so ein Patchwork, Lebrija war die ordnende Hand, der das Strickmuster bestimmte.
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Nebrija war nicht nur ein Pioner und der Gründervater der spanischen Lingusitik, sondern brachte auch die Gutenbergsche Drucktechnik nach Salamanca, installierte eine Druckerei und bereits das zweite dort gedruckte Werk stammte von ihm. Seine Kinder und Enkel machten aus dem Buchdruck und dem Verlegen ihre Berufe. Nebrija war auch einer der ersten, der ein System der Autoren- und Urheberrechte reklamierte und zumindest im akademischen Spanien teilweise durchsetzen konnte, Jahrhunderte bevor die Briten diesem System zu geltendem Recht verhalfen.
Nochmals sollte die Inquisition auf ihn aufmerksam werden. Der nun schon berühmte Gelehrte machte sich antastbar, als er ab 1507 Neuübersetzungen von Bibeltextem publizierte - übrigens 14 Jahre bevor Luther sie ins Deutsche übersetzte -, die nun in "seinem" Spanisch erschienen und zwangsläufig auch neue Interpretationen erforderten. Das war ein heikles Feld, zumal Nebrija dabei auf griechische und sogar hebräische und - unerhört - arabische Quellentexte zurückgriff, die wiederum auf verschollene hebräische Quellen deuteten. Er verzichtete hingegen auf mehrfach zensierte, entstellte lateinische Vorlagen. Dazu unterhielt er regen Austausch mit weitgehend als jüdisch bekannten Gelehrten, die in Salamanca und in anderne Städten Spaniens - wenn auch nur als Konvertiten - noch als "Auslaufmodelle" geduldet wurden. Die Kirche riet ihm, er solle die Bibel doch lieber den Theologen überlassen. Das würde er ja, soll er erwidert haben, doch von denen spreche keiner Hebräisch.
Das hat gesessen. Als Dank für diese Frechheit gab es wieder eine Einladung vor das Tribunal der Inqusition. Diego de Deza, damals der vom König eingesetzte Großinquisitor, bestand darauf, dass die Bibel weder übersetzt, noch erforscht gehört, schon gar nicht von irgendwelchen alten Quellen aus. Sie sei hinzunehmen, zu lesen, zu befolgen. Wieder hatte Nebrija Glück. Kardinal Francisco Jiménez de Cisneros löste Deza als Generalinqusitor ab. Der war zwar ein gnadenloser Verfolger, Bücherverbrenner, ein Katholiban radikalster Sorte, stammte aber wahrscheinlich selbst aus einer Konvertiten-Familien, auch wenn das damals niemand laut aussprach, und wenn, dann nur einmal. Cisneros hatte neben dem religiösen Eifer, der vielleicht auch aus Überkompensation entstand, ein streng elitäres Verständnis und würdigte daher den großen Geist Lebrijas als etwas Ebenbürtiges. 1507 schrieb ihm Lebrija eine Apología, eine Abbitte, Cisneros ließ ihn laufen.
Lebrija war am Ende seines Lebens so geachtet und etabliert, dass er es sich erlauben konnte, 1515, als die Inqusition so entfesselt wütete, wie weder vorher noch nachher, sein Spätwerk „De literis hebraicis“ zu publizieren, das systematische Übersetzungen vom Hebräischen ins Latein und ins Kastilisch auf Grundlage der Phonetik behandelte und so die Übersetzerarbeit verbesserte. Dieses Werk half indirekt auch dabei mit, dass Hebräisch heute Amtssprache in Israel und wieder Muttersprache der meisten Juden ist, denn Ende des 15. Jahrhunderts sprachen weltweit mehr Juden Spanisch und das Judenspanisch „Ladino“ und sogar häufiger Arabisch als Hebräisch, das fast nur noch von Rabbis als Ritualsprache benutzt wurde. Vielleicht war das Lebrijas heimliches Geschenk an „sein“ Volk, dem er damit genauso eine unverwechselbare sprachliche Identität sichern konnte wie den Spaniern.
Mehrere Werke, zu Fachbegriffen der Medizin, Erweiterungen seiner Wörterbücher und Grammatik-Studien und sogar ein Latein-Französisch-Wörterbuch folgten bis zum Tode Lebrijas 1522 in Alcalá de Henares, dem Bolgona Spaniens. Dass auch sein Todesjahr mit einem epochalen Ereignis der spanischen Geschichte, der ersten Weltumrundung durch Magellan und Elcano, zusammenfällt, macht auch seine Geschichte so richtig rund.
In kollektiver Erinnerung der Spanier bleibt Antonio de Nebrija für seine Leistungen für das Spanische. Dass die erste Grammatik und die ersten Wörterbücher dafür aus Hand und Mund eines Mannes mit womöglichen hispano-jüdischer Abstammung kommen, ist - historisch gesehen - kurios genug. Das intellektuelle Potential und die Rolle der Sepharden in Hispanien und Ál-Andalus kennend, ist es eher folgerichtig. Dass das Hoch-Spanisch aber ausgerechnet durch einen Andalusier definiert wurde, die bis heute vor allem von akademischen Hauptstädtern, aber auch dünkelnden Zeitgenossen anderer Regionen - voran Katalanen - mit dem Etiektt des "Vulgärspanischen" bedacht werden, hat wiederum seine ganz eigene Ironie und ist auch irgendwie typisch spanisch.
Zum Thema: Ojalá! - die spanischste aller spanischen Vokabeln.