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Der Mann, der den Spaniern Spanisch beibrachte: Antonio de Nebrija

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Von: Marco Schicker

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König Felipe VI in Lebrija
„Schön sprechen, bitte!“ - Spaniens König Felipe VI. stattet der früheren „Grundschule“ von Antonio de Nebrija in Lebrija einen Besuch ab. 5. Oktober 2022. © Casa de S.M. el Rey

Vor 500 Jahren, 1522, starb Antonio de Nebrija, Verfasser der ersten spanischen Grammatik und des ersten wirklichen Wörterbuchs. Dass Spaniens erster Sprachlehrer Andalusier und womöglich jüdischer Abstammung war, macht seine Geschichte so unwahrscheinlich wie reizvoll ironisch.

Lebrija - Die Leute der 27.000-Einwohner-Stadt waren ganz aus dem Häuschen, einen König sahen sie hier lange nicht, nur Zuckerrohr, Baumwolle, Wein für die Sherry-Produktion. Anfang Oktober 2022 nahm Spaniens König Felipe VI. ein Bad in der Menge in der Kleinstadt Lebrija, gelegen am Guadalquivir, auf halbem Wege zwischen Sevilla und Cádiz. Dabei ist Lebrija sozusagen in aller Munde, aller Spanier und aller Menschen, die Spanisch sprechen, jeden Tag. Ihr größter Sohn, Antonio de Nebrija, eigentlich Antonio Martínez de Cala y Xarana, wurde 1444 hier geboren. Er starb im Jahre 1522, also vor 500 Jahren. Dieses Jubiläum war auch der Grund für Felipes Aufwartung.

Denn Antonio de Nebrija, ausgestattet mit einer überragenden Intelligenz und einer unendlichen Stoik, ein wahrer Renaissance-Gelehrter, schenkte den Spaniern ihre erste Sprachlehre, die "Gramática castellana" mit dem Untertitel "Die Kunst der kastilischen Sprache"; und im gleichen Jahr, 1492, auch das erste Wörterbuch Latein-Kastilisch. Beides wurde verbindliches Fundament einer gemeinsamen spanischen Sprache aller Völker und Regionen der sich gerade vereinigenden Königreiche. Nebrijas Grammatik war auch die erste einer romanischen Sprache überhaupt.

1492: Spaniens Schicksalsjahr findet eine gemeinsame Sprache

Nebrija verhalf dem Kastilischen zum Spanischen, definierte die sogenannte Vulgär- zur Kultur- und Weltsprache. Sie wurde und blieb der kleinste gemeinsame Nenner für ein von regionalen Kulturen und vielen lokalen wie historischen Sprachen durchtränkten Kultur, Säule einer Nation, eines Staatsvolkes und mit ihrem Export nach Übersee auch die Verkehrssprache für das kommende Weltreich. Diese Konvertierung trug er sozusagen im eigenen Namen, denn als Nebrija, dem römisch-lateinischen Namen seiner Geburtsstadt folgend, wuchs er auf, Lebrija, die nun kastillianisierte Version, nannte man ihn später.

Den Erscheinungstermin seiner Hauptwerke hätte Nebrija gar nicht besser wählen können. 1492 war die "Reconquista" mit der Übergabe Granadas gerade erfolgreich beendet, die Iberische Halbinsel nun gänzlich christlich beherrscht. Im selben Jahr, drei Monate nach dem Erscheinen der "Gramática castellana", landete Kolumbus unter Kastiliens Flagge in Amerika, teilten Spanien und Portugal die Welt unter sich auf. Als Kolumbus nach in Spanien zurückkherte, erschien das Wörterbuch. Die große Zeitenwende, Spaniens Urknall wurde sozusagen vertont. Spanien lernte sprechen.

Doch 1492 fand auch ein Ereignis statt, dessen Folgen Nebrija fast zum Schweigen gebracht hätten, ihn als Gelehrten und Person hätten vernichten können. Die Deportation und Unterdrückung aller Andersgläubigen, der muslimischen wie der jüdischen Spanier, als "Edikt von Granada" ausgeheckt und ausgeführt von eifernden Kardinälen der Katholischen Kirche und gewollt von den siegestrunkenen Katholischen Königen. Die von denselben einige Jahre zuvor installierte Heilige Inquisition hatte dafür zu sorgen, dass nur noch Spanier "reinen Geblüts" an die Schaltstellen der Macht gelangten, dass Konvertiten und "marranas", getaufte Juden, die als "Kryptojuden" ihren Kulten nachhingen, erkannt, enteignet und aussortiert, notfalls deportiert oder exekutiert würden. Auch Bücherverbrennungen waren in Spanien an der Tagesordnung, kein gutes Klima für weltoffene Intellektuelle.

Glaubensprobe: Der Gelehrte unter "Judenverdacht"

Nach allem, was wir heute wissen, stammte ausgerechnet der "Erfinder" des Spanischen aus einer solchen Familie Kryptojuden, die nach den Juden-Pogromen in Sevilla 1391 konvertierten, um sich und ihren Besitz zu retten. Häufig wurden die Gerüchte der fehlenden "Reinheit" auch nur von Neidern gestreut, doch im Falle Nebrijas war die Familienlinie ziemlich verdächtig.

Antonio de Nebrija
Antonio de Nebrija erteilt eine Grammatik-Lektion in Salamanca. © Wikimedia/Public Domain

In Salamanca ließ man ihn noch umstandslos studieren, als er sich aber für ein "Erasmus"-Studium an der Spanischen Universtiät in Bologna bewarb, das auch mit einem bischöflichen Stipendium verbunden war, musste er sich in Salamanca einem inquisitorischen Tribunal stellen, zwei Dekaden vor der offiziellen Gründung dieser Institution, drüben in Triana von Sevilla. Er wurde denunziert, das "santo oficio" sollte festellen, ob er ein Altchrist von reinem Blut oder ein "converso" sei. Nebrija hat selbst nie über seine Herkunft geschrieben, doch machte ihn zusätzlich suspekt, dass er fließend Hebräisch sprach und sephardische, also judenspanische Quellen studierte. Für einen Gelehrten, der zwischen Kastilien und Al-Ándalus aufwuchs, in dessen heimatlichen Gassen die Menschen neben allen babylonischen Möglichkeiten eben auch noch Arabsich sprachen, war das eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Nicht aber für religiös-rassistische Eiferer mit politischem Auftrag.

Ein Nachbar aus Jugendtagen sprang Nebrija zur Seite, die Inqusitionsakten belegen seine Aussage, die ihn rettete: Pedro Tejero bestätigte, dass er Nebrijas Vorfahren kannte, "die alte Christen sind und keine Mauren, noch Juden, noch Konvertiten oder auch nur irgendwas davon". Nebrija hatte auch universitäre Fürsprecher, selbst Bischöfe legten ein gutes Wort für ihn ein. Offenbar ging es ihnen am Ende mehr um eine Glaubensprobe, als um den forensischen Beweis seiner Reinheit, obwohl das Christentum in Spanien längst von einer Bekenntnis-Religion, als die sie erfunden wurde, zu einer völkischen Abstammungslehre verkommen war. Die Kleriker erhofften sich von den Talenten des jungen Gelehrten Großes und so auch ein bisschen Ruhm für sich selbst und ließen ihn ziehen.

Bologna und die Renaissance - Spanien und das Mittelalter

Bologna, wo Nebrija 1465-1470 an der spanischen Fakultät studierte, lehrte und forschte, war damals sozusagen die Schreib- und Studierstube der italienischen und europäischen Renaissance. Hier herrschte freie Luft zu atmen, fand sich Nebrija unter klugen freien Geistern wieder, während sein Land zwar physisch in neue Welten aufbrach, rechtlich, geistig und moralisch aber in ein tiefes Mittelalter verfiel. Das spanische Paradoxon.

Gemälde von Goya zur spanischen Inquisition.
Szenen der Inquisition, Gemälde von Francisco de Goya 1812, kurz bevor diese Institution aufgelöst wurde. © Wikipedia

Nach Bologna und dem internationalen Austausch kam das andere Extrem: Fast 12 Jahre zieht sich der Gelehrte in die Stille der Extremadura zurück, um seine Hauptwerke zu verfassen. Er schuf dort die erste Grammatik, die das Kastillische als eigenständige Sprache definierte, unter wissenschaftlicher Systematik und nicht als Produkt des Zufalls und der Straße. Sich dabei aber - neben dem Primat des Lateins als "überlegener Sprache" - auch an der gelebten Praxis orientiert zu haben, dem Volk aufs Maul zu schauen, statt ihm einen akademischen Maulkorb überzustülpen, ist das Verdienst Nebrijas.

Er wurde so über den Linguisten hinaus zum Humanisten, auch nach außerakademischen Kriterien. Satzbau und Satzteile, grammatikalische Formen, Deklinationen, Artikel, Präpositionen, Orthograohie, Sytnax definierte Nebrija so, dass sie bis heute für viele europäische Sprachen Gültigkeit behielten. Aufbauend auf den großen Grammatikern der Antike, sorgte er für sprachliche Ordnung im Vielvölkerstaat. Und er verschaffte den Spaniern mit der endgültigen Verankerung des Buchstaben ñ, der zuvor vor allem als Abkürzung für Doppelbuchstaben diente, eine unverwechselbare Sprach-Marke. Spanien machte die Welle.

Ordnung ins Kauderwelsch: Lebrija vereint in der spanischen Sprache das Akademische mit der Straße

Es ist auch Nebrija zu verdanken, dass mehrere tausend arabische Begriffe, die bei den Mozarabern, also den unter den Arabern lebenden Christen und den Konvertiten noch lange nach Ende der "Reconquista" zum Alltag gehörten, bis heute im Spanischen überdauerten, organischer Teil ihrer Sprache und ein Spezifikum des Spanischen wurden. Daher konnte er die Grammatik auch nicht ohne Wöterbücher stehen lassen. Es gab zwar schon einige davon vor ihm, unter anderem von Alfonso de Palencia, die aber grobe Mängel und Lücken aufwiesen, die spanische Sprache mehr zensierten als sie darstellten und ordneten. Vor allem fehlte der verbindliche Bezug zur lateinischen Entsprechung. Die lieferte Nebrija.

Latein-Spanisch-Wörterbuch
Cover des ersten Latein-Spanisch-Wörterbuchs von Antonio de Nebrija, hier eine Ausgabe von 1536. © Wikimedia/Public Domain

Daneben musste er die anderen Sprachen, Dialekte und Mundarten auf spanischem Territorium berücksichtigen, schließlich spülte es Portugiesisches über das Galicische hinein, es gab archaisches Asturianisch, das völlig aus dem Rahmen fallende Baskisch und das Katalanisch-Oxitanische, dessen Wurzeln schon im 10. Jahrhundert liegen, das aber wiederum auch französische Dialekte und italienische Einflüsse mitbrachte. Und dann erst das völlig verwilderte Andalusisch! Spanisch wurde so ein Patchwork, Lebrija war die ordnende Hand, der das Strickmuster bestimmte.

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Nebrija war nicht nur ein Pioner und der Gründervater der spanischen Lingusitik, sondern brachte auch die Gutenbergsche Drucktechnik nach Salamanca, installierte eine Druckerei und bereits das zweite dort gedruckte Werk stammte von ihm. Seine Kinder und Enkel machten aus dem Buchdruck und dem Verlegen ihre Berufe. Nebrija war auch einer der ersten, der ein System der Autoren- und Urheberrechte reklamierte und zumindest im akademischen Spanien teilweise durchsetzen konnte, Jahrhunderte bevor die Briten diesem System zu geltendem Recht verhalfen.

Lass die Finger von der Bibel: Die Inquisition ist wieder da

Nochmals sollte die Inquisition auf ihn aufmerksam werden. Der nun schon berühmte Gelehrte machte sich antastbar, als er ab 1507 Neuübersetzungen von Bibeltextem publizierte - übrigens 14 Jahre bevor Luther sie ins Deutsche übersetzte -, die nun in "seinem" Spanisch erschienen und zwangsläufig auch neue Interpretationen erforderten. Das war ein heikles Feld, zumal Nebrija dabei auf griechische und sogar hebräische und - unerhört - arabische Quellentexte zurückgriff, die wiederum auf verschollene hebräische Quellen deuteten. Er verzichtete hingegen auf mehrfach zensierte, entstellte lateinische Vorlagen. Dazu unterhielt er regen Austausch mit weitgehend als jüdisch bekannten Gelehrten, die in Salamanca und in anderne Städten Spaniens - wenn auch nur als Konvertiten - noch als "Auslaufmodelle" geduldet wurden. Die Kirche riet ihm, er solle die Bibel doch lieber den Theologen überlassen. Das würde er ja, soll er erwidert haben, doch von denen spreche keiner Hebräisch.

Relief von Kardinal Cisneros
Kardinal Cisneros, Chef der Inquisition, Beichtvater der Katholischen Könige, Bücherverbrenner. Relief aus dem 16. Jahrhundert. © Universidad Complutense Madrid

Das hat gesessen. Als Dank für diese Frechheit gab es wieder eine Einladung vor das Tribunal der Inqusition. Diego de Deza, damals der vom König eingesetzte Großinquisitor, bestand darauf, dass die Bibel weder übersetzt, noch erforscht gehört, schon gar nicht von irgendwelchen alten Quellen aus. Sie sei hinzunehmen, zu lesen, zu befolgen. Wieder hatte Nebrija Glück. Kardinal Francisco Jiménez de Cisneros löste Deza als Generalinqusitor ab. Der war zwar ein gnadenloser Verfolger, Bücherverbrenner, ein Katholiban radikalster Sorte, stammte aber wahrscheinlich selbst aus einer Konvertiten-Familien, auch wenn das damals niemand laut aussprach, und wenn, dann nur einmal. Cisneros hatte neben dem religiösen Eifer, der vielleicht auch aus Überkompensation entstand, ein streng elitäres Verständnis und würdigte daher den großen Geist Lebrijas als etwas Ebenbürtiges. 1507 schrieb ihm Lebrija eine Apología, eine Abbitte, Cisneros ließ ihn laufen.

Spaniens erster Sprachlehrer: Lebrijas Schwanengesang - auf Hebräisch

Lebrija war am Ende seines Lebens so geachtet und etabliert, dass er es sich erlauben konnte, 1515, als die Inqusition so entfesselt wütete, wie weder vorher noch nachher, sein Spätwerk „De literis hebraicis“ zu publizieren, das systematische Übersetzungen vom Hebräischen ins Latein und ins Kastilisch auf Grundlage der Phonetik behandelte und so die Übersetzerarbeit verbesserte. Dieses Werk half indirekt auch dabei mit, dass Hebräisch heute Amtssprache in Israel und wieder Muttersprache der meisten Juden ist, denn Ende des 15. Jahrhunderts sprachen weltweit mehr Juden Spanisch und das Judenspanisch „Ladino“ und sogar häufiger Arabisch als Hebräisch, das fast nur noch von Rabbis als Ritualsprache benutzt wurde. Vielleicht war das Lebrijas heimliches Geschenk an „sein“ Volk, dem er damit genauso eine unverwechselbare sprachliche Identität sichern konnte wie den Spaniern.

Mehrere Werke, zu Fachbegriffen der Medizin, Erweiterungen seiner Wörterbücher und Grammatik-Studien und sogar ein Latein-Französisch-Wörterbuch folgten bis zum Tode Lebrijas 1522 in Alcalá de Henares, dem Bolgona Spaniens. Dass auch sein Todesjahr mit einem epochalen Ereignis der spanischen Geschichte, der ersten Weltumrundung durch Magellan und Elcano, zusammenfällt, macht auch seine Geschichte so richtig rund.

In kollektiver Erinnerung der Spanier bleibt Antonio de Nebrija für seine Leistungen für das Spanische. Dass die erste Grammatik und die ersten Wörterbücher dafür aus Hand und Mund eines Mannes mit womöglichen hispano-jüdischer Abstammung kommen, ist - historisch gesehen - kurios genug. Das intellektuelle Potential und die Rolle der Sepharden in Hispanien und Ál-Andalus kennend, ist es eher folgerichtig. Dass das Hoch-Spanisch aber ausgerechnet durch einen Andalusier definiert wurde, die bis heute vor allem von akademischen Hauptstädtern, aber auch dünkelnden Zeitgenossen anderer Regionen - voran Katalanen - mit dem Etiektt des "Vulgärspanischen" bedacht werden, hat wiederum seine ganz eigene Ironie und ist auch irgendwie typisch spanisch.

Zum Thema: Ojalá! - die spanischste aller spanischen Vokabeln.

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