Einen Europäer, einen Spanier mit hochfliegenden Ambitionen haben wir vergessen und mit ihm eine ganze Geistesschule verdrängt. Unter den vielen klugen Köpfen, die in der ersten, noch toleranteren Epoche von Al Ándalus - mit Unterbrechungen und regional unterschiedlich - von etwa 750 bis ungefähr 1150 wirkten, bevor erst islamistische Eiferer aus Nordafrika und dann die Katholiban der „Reconquista“ jeden Anflug von Toleranz niederkämpften, war unser heutiger Held eigentlich nur eine Nebenfigur. Aber er kann als Prototyp gelten, für den kurzen Freiflug der Gedanken, wo - unter dem eisernen Primat des Islam zwar - Dialoge über Religionsgrenzen hinweg, eine andere Gesellschaft als das Konzept des schlichten Verbots alles „Andersdenkenden“, das das europäische Mittelalter dominierte, eine Weile möglich waren. Fliegen können wir mittlerweile fast unfallfrei, der Zustand der europäischen wie orientalischen Geisteswelten und deren Austausch hingegen schwanken wieder zwischen unentschieden und umnachtet.
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Was wir wirklich über unseren maurischen Luftikus wissen, ist nicht allzu viel. Abu l-Qāsim Abbās ibn Firnās, kurz Abbás Ibn Firnas, wurde um 810 in Ronda geboren, das heute zur Provinz Málaga gehört und damals als Malaka Teil des Emirats von Córdoba war. Er muss zur gehobenen Schicht gehört haben, denn eine quasi universitäre Ausbildung als Philosoph, Astronom, Mathematiker und Chemiker erhielt nicht jeder dahergelaufene Eselstreiber, schon gar nicht die Möglichkeit, zweimal zu Studienreisen nach Bagdad aufzubrechen, dem damaligen Zentrum der islamischen Welt, in der gerade die Geschichten aus 1.001 Nacht aus dem Persischen ins Arabische übersetzt und gelebt wurden. Es war dann auch das offenbar sehr angeregte Talent für Poesie und Philosophie, das Abbás den Eintritt an den Hof in Córdoba unter Abderramán II (822-852) verschafften, wo er zunächst als Hauslehrer des Emirs angestellt wurde.
Dessen Sohn und Nachfolger, Mohammed I. (852-886), übrigens der Gründer von Madrid, war verspielter und wollte, so wie wir es vom französischen Hof des Sonnenkönigs kennen, mehr Feste und amüsante Kinkerlitzchen um sich haben. Ibn Firnas mutierte so vom Hauslehrer zum Zeremonienmeister und Wundertäter. Er erfand seinem Chef eine Wasseruhr mit nie dagewesener Genauigkeit, basierend auf dem Prinzip der griechischen Klepsydra, aber um eine Mechanik aus Zahnrädern und Überläufen verfeinert. Diese Al-Maqata-Maqata steht heute noch in arabischen Lehrbüchern, erst seit wenigen Jahren erinnerten auch Ausstellungen in der Alhambra von Granada oder eine Wanderschau der Caixa-Bank an dieses wissenschaftliche Erbe, das aber bis heute mehr als Kuriosum überliefert wird, denn als genuin „spanische“ Errungenschaft.
Ibn Firnas baute seinem Emir ein Anschauungsplanetarium, um die Bewegungen der Sterne und Planeten darzustellen – die Erde im Zentrum –, das verblüffende Ähnlichkeit mit Modellen aufweist, die in der christlichen Welt erst 600 bis 700 Jahre später „modern“ wurden. Er erweckte eine ägyptische Handwerkskunst wieder zum Leben, mit der Bergkristall bruchfrei geschliffen werden konnte. Mit der Weiterentwicklung der altindischen Sinhind-Astronomietafeln legte er zudem Grundsteine für Vermessungstechnik und Navigation, von denen venezianische Handelsschiffe und portugiesische Weltumsegler noch 800 Jahre später profitierten. Und er dichtete und philosophierte, was damals auch für Naturwissenschaftler zum guten Ton gehörte.
Doch unser Abu Da Vinci wollte höher hinaus und seinen neuen Herrn im Jahr des Amtsantritts besonders beeindrucken. 852, so belegen es arabische Chronisten in blumigen Worten, stürzte sich der mit 42 Jahren schon als alt geltende Ibn Firnas von „einem Turm in Córdoba“, manche sagen vom Minarett der berühmten Moschee, in die Tiefe, geschützt nur von einem riesigen Segeltuch an einer Bast-Holzkonstruktion. Der Erfinder des Fallschirms war also weder der Franzose Sebastien Lenormand im 18., noch der Brite Robert Cocking im 19. Jahrhundert, aber doch ein Europäer, Ibn Firnas im 9. Jahrhundert. Leichte Verletzungen und ein paar Wochen Bettruhe waren der Lohn für die Kühnheit.
Doch im Jahr 875, Ibn Firnas war mit 65 Jahren nun bereits eine Art Methusalem, folgte sein größter Wurf. Poesie und Philisterei warf er über Bord, baute sich große Flügel aus Holz, die mit Stoff bespannt und Federn von Raubvögeln besetzt waren. Er lud die halbe Stadt vor die Tore, ließ einen Turm errichten und glitt von diesem sekundenlang in die Ebene. Die Landung war dann eher unsanft, beide Beine brach er sich zum Entsetzen des Publikums. Die Schuld dafür gab er sich selbst, er hätte sich auch einen Vogelschwanz montieren sollen, wovon sogar Zeichnungen, regelrechte Design-Entwürfe überliefert wurden, die an Da Vincis 600 Jahre später entstandene Skizzen erinnern. Die Chronisten verzeichnen außerdem, dass ihn seine Jugend in Ronda zum Fliegen inspiriert hätte, der Ort, der durch seine Felsenschluchten geradezu zum Segelflug einlädt.
Eine Figur wie Abbas Ibn Firnas war in Al Andalus - die Bezeichnung umfasst alle islamisch dominierten Reiche auf der Iberischen Halbinsel von 711 bis 1492 - beileibe kein Zufall. Im Emirat, später im Kalifat von Córdoba und nach dessen Untergang vor fast genau 1.000 Jahren (1031) in den Dutzenden Taifas auf dem Gebiet des heutigen Spanien, lebte an den Höfen, in Übersetzerschulen und Vorläufern der Universitäten der Wissendurst des Orients und des antiken Griechenlands in seiner ganzen Universalität weiter und wieder auf.
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Die Mauren, speziell die Ummeyaden, die erste islamische Dynastie überhaupt, die nach einem Putsch in Damaskus als Emire und dann Kalifen von Córdoba weitermachten, verfügten über das Wissen des alten Babylon, Persien und Ägypten genauso wie über Werke griechischer Philosophen und römischer Geschichtsschreiber, die ihnen Mönche in Syriens frühchristlichen Klöstern ins Arabische übersetzt hatten. Auf ihrer Expansion nach Westen nahmen bereits die ersten islamischen Eroberer Hispaniens (711) auch die Kriegskunst der Berber mit in ihren Kanon auf, aber auch die Ingenieursleistungen der Römer nutzten sie, wie auch die jüdische Gelehrtheit, die im tunesischen Djerba bis im ewigen Gadir (Cádiz), schon lange, zumindest seit den Phöniziern ansässig war.
Mit Abd ar-Rahman I., dem einzigen seiner Ummeyaden-Familie, der das Massaker durch die Abessiden in Damaskus überlebte, kam ab 756 auch eine ordnende Herrscherhand in Form eines Emirs auf die vor allem von nordafrikanischen Berbern und einer kleinen arabischen Beamtenschicht eroberte Ibererhalbinsel. Diese Ballung von Kulturen und Wissen, zu dem ja auch die durch Goten und Byzanz geprägten „Hispanier“ gehörten, in Kombination mit einem organisierten Zentralstaat, führte dazu, dass Córdoba im mittelalterlichen Europa neben Konstantinopel und noch weit vor Venedig zur bedeutendsten Stadt und Al Ándalus, speziell das Kalifat von Córdoba, zur progressivsten Zivilisation neben Byzanz aufstieg. Auch, weil im frühen Islam Bildung und Forschung zum Habitus eines Herrschers gehörten, Teil des System waren. Attribute, die im christlichen Europa damals nur individuell auftraten.
Um das Jahr 1.000 lebten in Córdoba rund 450.000-500.000 Menschen, etwa so viele wie in Konstantinopel, gefolgt von 350.000 in Palermo auf Sizilien, das damals ebenfalls islamisch war. Venedig war die nächstgrößte Stadt mit 40.000 Bewohnern, London zählte 25.000, so viel passten fast in die Hauptmoschee von Córdoba.
Vom maurischen Spanien her fanden Platon und Aristoteles überhaupt erst zurück in die europäische Geisteswelt, weil man sie Dank der Übersetzerschulen von Al Ándalus wieder lesen und verstehen konnte. Auf deren Interpretationen beriefen sich noch Thomas von Aquin und Luther. Des Cordobesen Averroes Abhandlungen über die Vernunft nach Aristoteles inspirierten Girodano Bruno ebenso wie Giovanni Pico della Mirandola, Humanisten der italienischen Renaissance, die vom islamischen Spanien mit Stoff beliefert wurden. Die Meriten dafür strichen andere ein.
Auch für die jüdische Welt war das maurische Spanien von immenser Bedeutung. Die wichtigsten Kapitel der Kabala – sozusagen die Gebrauchsanleitung der Tora und nach ihr das wichtigste Schriftwerk des Judentums – wurden von jüdischen Mystikern in den Taifas von Zaragóza und Guadalajara im 11. bis 13. Jahrhundert, von Spaniern also, geschrieben. Dichter und Philosophen wie Ibn Gabirol (Málaga) oder Maimónides (Córdoba) holten Hebräisch aus den Synagogen und machten es wieder zur Literatur- und Umgangssprache des jüdischen Volkes. Unter jüdischen Intellektuellen galt Al Ándalus für Jahrhunderte als das kulturelle Zentrum des gesamten Judentums, Forscher schätzen, dass um 1450 fast 90 Prozent aller Juden Spanisch oder Judenspanisch (Ladino) sprachen.
Das aus dem Mittelalter erwachende christliche Europa hielt wegen der Latinisierung der Namen dabei so manchen maurischen Denker für einen Christen und so manchen Juden für einen Mauren, zumal Sepharden an den maurischen Höfen die wirre arabische Namensblumigkeit annahmen und oft auch auf Arabisch publizierten. Viele Juden, um das Multikulti perfekt zu machen, suchten zudem ab Mitte des 11. Jahrhunderts Zuflucht vor nachrückenden islamistischen Berber-Fundamentalisten im ab 1085 wieder christlichen Toledo, später auch in Sevilla, wo die Toleranz noch ein wenig weiterlebte, bis auch Christenherrscher ihre Untertanen fanatisierten und Juden ab dem 14. Jahrhundert wieder vermehrt als Sündenböcke in Pogromen metzelte. Zwar an den gleichen Gott, aber in falscher Weise zu glauben, genügte, das Judentum in Spanien schließlich ganz zu vernichten, wie auch Mauren und konvertierte Morisken. Religion war dabei, wie jede Ideologie, in seinem Zweck ein Instrument und eine Lüge, um die Massen aufzustacheln und zu kontrollieren. Es ging um Besitz und Macht, nicht um Gott.
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Doch zurück zum Flugwesen: Im Jahre 887 starb Abu Firnas. Der internationale Flughafen in Bagdad ist nach ihm benannt, ein schwingendes Mahnmal wurde ihm dort errichtet. In den Emiraten gibt es Statuen von ihm, er ist in der arabischen Welt Schulstoff, auf dem Mond trägt ein Krater seinen Namen. In Europa wurde er - bis auf eine futuristische Brücke seines Namens in Córdoba, gebaut von einem Japaner - vergessen und verdrängt, wie seine gesamte Kultur.
Auch, weil islamistische wie später christliche Fanatiker ihre Schriften verbrennen oder verschwinden ließen, Toleranz in Spanien ziemlich lange aus der Mode geriet. Über 4.000 Bände aus der Nasriden-Bibliothek der Alhambra in Granada, darunter Werke aus der Epoche des Kalifats, ließ Kardinal Cisneros, Beichtvater der Katholischen Könige und Apologet der ersten europäischen Rassengesetze vom „reinen Blut“ 1499 auf der Plaza Bib-Rambla verbrennen. 800 Jahre Kulturgeschichte gingen in Flammen auf.
Nur die Werke zur Medizin, die schaffte Cisneros beiseite, in ihnen den Jungbrunnen suchend, das ewige Leben. So viel Vertrauen in die Worte seines Schöpfers schien er also doch nicht zu haben. Die Medizinbücher aus Al Ándalus, darunter möglicherweise das Krankenblatt unseres bruchgelandeten Flugpioniers, landeten letztlich in der Madrider Uni von Alcalá de Hernares. Cervantes wurde dort geboren. Wer weiß, vielleicht waren die Dämonen, die Don Quijote in den Wahnsinn und Cervantes zu literarischen Höhenflügen trieben, ja gar keine Windmühlen. Sondern maurische Flugmaschinen aus dem Córdoba des Abbás Ibn Firnas.
Neben den Welterbe-Highlights: Alhambra in Granada, Alcázares de Sevilla und natürlich die Moschee-Kathedrale von Córdoba, sowie den unzähligen Resten von Burgen, Türmen und Mauern im ganzen Land, seien für Interessierte empfohlen: Die Synagoge de Tránsito mit dem Sepharden-Museum in Toledo, museosefardi.mcu.es. Stiftung und Haus der Drei Kulturen in Sevilla, tresculturas.org. Die „Caminos de Sefarad“, ein Online-Reiseführer durch die einst jüdischen Stadtviertel, die juderías von Ávila, Barcelona, Sagunto bis Cáceres sowie natürlich in ganz Andalusien, redjuderias.org. Das Museo Vivo de Al Ándalus in Córdoba im Torre Calahorra (an der römischen Brücke), samt Bibliothek und Kulturzentrum, www.torrecalahorra.es. Sowie das Projekt der Landesregierung Andalusien (Foto rechts), „Das Erbe von Al Ándalus“, mit historisch-thematischen Routen, bei denen man Urlaub mit Kultur verbinden kann: www.legadoandalusi.es
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