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„Sterben die Tablaos, stirbt der Flamenco“: Der letzte Fandango in Madrid

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Von: Marco Schicker

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Zwei Tänzer tanzen Flamenco vor einer bunt gekachelten Wand.
Im Tablao de Flamenco Villa Rosa in Madrid. Es war seit 1911 geöffnet, musste aber nun endgültig schließen. © Villa Rosa

In Madrid schließen reihenweise die traditionellen Tablaos de Flamenco. Das ist ein schwerer Kulturverlust, aber für die Flamenco-Künstler und die Perspektiven junger Gitanos in Spanien vor allem eine ökonomische und soziale Katastrophe.

Madrid - Die letzte Hiobsbotschaft erreichte die Flamenco-Szene in Spanien Ende August: "Das Café de Chinitas ist gefallen". Just zu seinem 50. Geburtstag. Mittlerweile haben sieben der 21 in Madrid offiziell als Tablaos de Flamenco anerkannten Lokale den letzten Vorhang fallen lassen müssen. Doch auch in rund 60 anderen Lokalen, die regelmäßig Live-Flamenco anbieten, hängen die Gitarren am Nagel, ob sie jemals wieder eine schnarrende "Alegría" anstimmen können, ist sehr ungewiss.

Tablaos: Neben Andalusien gab es den besten Flamenco in Madrid

Neben dem Chinitas traf der Corona-Hammer laut dem Fachmagazin ExpoFlamenco auch die Casa Patas, Flamenco Real, La Cueva de Lola, La Fragua und die Villa Rosa, die seit 1911 durchgängig bespielt war und als ältestes aktives Flamenco-Tablao der Welt galt. Es war der „Tempel" des Flamenco in Madrid. Das ebenfalls berühmte Tablao Cardamomo hält hingegen durch.

Das Café de Chinitas war eine doppelte Legende. 1857 wurde es in Málaga gegründet, der Name geht auf einen Theaterdichter und Barden des 18. Jahrhunderts zurück. Seit 1970 gab es das Café Chinitas in Madrid in der Calle Torija, unweit des Palacio Real. Der Name war Reverenz an die Institution in Málaga, die sogar Federico García Lorca in einer Copla besungen hatte und das 1937 schließen musste.

Eine Flamencotruppe auf einer Bühne eines Tablaos in Madrid.
Das Café de Chinitas in Madrid, das jüngste Opfer der Schließungswelle von Flamenco-Tablaos in der Coronavirus-Krise in Spanien. © Café de Chinitas

Namen, die in der Flamenco-Szene mit Ehrfurcht ausgesprochen werden, verkehrten auch im Madrider Chinitas-Nachfolger: die Familie Habichuela, José Mercé, Enrique Morente, Carmen Linares, El Lebrijano, Dolores Amaya, Antonio Canales, Rafael Amargo und so weiter. Etliche spätere Stars dieser Weltmusik der Gitanos starteten in Madrid ihre Karrieren in den teatrillos oder cafés cantantes, wie sie im 19. Jahrhundert hießen. In den Hinterhöfen und Bars von Triana in Sevilla, den engen Gassen von Cádiz und in den Bodegas von Jerez gibt es den besten Flamenco. Doch wer keinen Zugang zu den Gitano-Familien hat, bekam diesen besten Flamenco in auch in Madrid zu hören, seit über 100 Jahren.

Coronavirus-Krise in Spanien als letzter Sargnagel für den Live-Flamenco

"Traurigerweise stimmt es, wir müssen zu machen, die Pandemie hat viel damit zu tun, aber wir hatten schon vorher viele Probleme mit dem Mietvertrag". Was Mari Carmen Mira, die Chefin des Lokals anspricht, betrifft fast alle Tablaos. Die Gentrifizierung der Madrider Innenstadt setzte ihnen seit Jahren zu. "Die wollen was anderers daraus machen, was mehr Geld bringt", fasst Mira dieses zerstörerische Phänomen der Städte schlüssig zusammen.

Viele Tablaos in Madrid hielten sich noch gerade so über Wasser. Doch dann kam Corona. Die meisten Lokale sind schon über ein halbes Jahr geschlossen. Denn nach Ende der Quarantäne kam die Erkenntnis hinzu, dass es in einem Tablao noch schwerer ist, die Hygienevorschriften, vor allem den Mindestabstand umzusetzen, als in normalen Bars: "Mit 30% des Publikums kann man kein Tablao betreiben", so Mira.

Flamenco unplugged: Bretter-Bühne und viele Zuschauer bilden eigenen Resonanzraum - Open Air keine Alternative

Tablaos sind nicht einfach Kneipen mit Live-Musik. Der eng gestellte, oft reich andalusisch-orientalisch und "zigeunerisch" verzierte Aufführungsraum, der fast einem Schrein gleicht, zusammen mit den Tischen und windschiefen Stühlen ist nicht nur eine optische Inszenierung, sondern dient auch wesentlich der typischen, unmittelbaren und intimen Akustik.

Fassade eines Flamenco-Tablaos in Madrid.
Patina und Erinnerung: Fassade der Villa Rosa, dem ältesten Flamenco Tablao von Madrid. © Villa Rosa

Zusammen mit dem eigentlichen "tablado", dem Bretterboden der als Bühne und Rhythmus-Kasten dient und der Füllmasse des Publikums, bildet der Raum sozusagen seinen eigenen Resonanzkörper. In einem echten Tablao wird wirklich unplugged gespielt, ohne jedes Mikrofon, ohne Verstärkung. Daher ist ein Ersatz mit Open Air Events in Burgen oder auf Kirch- oder Altstadtplätzen zwar mitunter stimmungsvoll und spektakulär, für den traditionellen Flamenco aber schlicht nicht umsetzbar.

Ebenso sind die kleinen Bodega-Tablaos in Andalusien ohne den knorrigen Tisch, auf dem die Alten mit ihrem Don Corleone-Ring den Takt (Palo) schlagen, das Ploppen der nächsten Sherry-Flasche, den modrigen Geruch und die Menschenmenge darin vielleicht denkbar, aber sinnlos. Der Flamenco auf großen Bühnen verkäme zum Estraden-Konzert. Auch Diego El Cigala, einer jener Flamenco-Stars, dessen Können und Ruhm ihn etwas unabhängiger machen als die Kollegen in den Tablaos, sieht die Misére: "Mit Gottes Hilfe geht es irgendwie weiter und wir erinnern uns an die Plage dann wie an einen Albtraum. Aber das muss bald geschehen, denn alle meine Kollegen leiden im Moment sehr."

Ohne Flamenco-Bars kein Einkommen: "Wenn die Tablaos verschwinden, verschwindet der Flamenco"

Wenn die Tablaos schließen, schließt also nicht nur irgendeine Bar, von denen es in Madrid noch ein paar tausend andere gibt, sondern ein ureigener Kulturraum der Gitanos und ihres Flamencos, dieses mitreißenden, gleichzeitig melancholischen, mal hysterischen und einzigartigen künstlerischen Ausdrucks, der klingenden Seele Andalusiens. "95 Prozent der Flamenco-Künstler in Spanien verdienen ihren Unterhalt in den Tablaos" rechnet Juan Manuel del Rey vor, Präsident der Madrider Vereinigung der Tablaos Flamencos, sie seien "die Fabriken des Flamenco". "Wenn die Tablaos verschwinden, verschwindet der Flamenco".

Leeres Flamenco-Lokal in Madrid.
Das Café de Chinitas bleibt leer. Für die Flamenco Tablaos in Madrid ist die Anpassung an die Corona-Regeln schlicht unmöglich. © Café de Chinitas

Selbst wer so gefragt ist, dass er in Theatern und Konzertsälen auftreten kann, "macht das vielleicht ein Dutzend Mal im Jahr, aber das tägliche Brot verdienen fast alle in den Tablaos, die laufen 365 Tage im Jahr", so del Rey. Und das manchmal mit zwei bis vier Vorstellungen täglich.

Die Stadt Madrid hat den Unterschied zwischen einer Bar und einem Tablao noch nicht erkannt. Zwar wurden die Einrichtungen kürzlich zum lokal anerkannten Kulturgut befördert, - was eigentlich schon vor 50 Jahren hätte geschehen müssen, aber konkret bringt ihnen das nichts. Denn der gesamten Gastronomie hat die Region gerade vier Millionen Euro an Kreditbürgschaften zugesagt. Aber worauf soll ein Tablao, das keine Einnahmen generieren kann, einen Kredit aufnehmen - und womit jemals zurückzahlen?

Subventionen für den Stierkampf - Warme Worte für den Flamenco

Stierkämpfer haben es in Madrid und in ganz Spanien leichter, Stierkämpfer bekommen Subventionen für ihre Ausfälle und haben eine Gewerkschaft. Die Flamencos bekommen warme Worte und haben Pech. Denn seit Ende der Quarantäne haben "genau 0 Prozent der Tablaos in Madrid wieder aufmachen können, wir sind der am stärksten betroffene Sektor", so del Rey, der immer noch auf konkrete Hilfen hofft und darüber mit der Landesregierung verhandelt.

Das Ende der Tablaos wäre nicht nur ein kultureller Verlust für Madrid, sondern für ganz Europa, aber vor allem auch ein herber sozio-ökonomischer Schlag für die Gitanos in ganz Spanien, vor allem in Andalusien, der Flamenco-Schmiede des Landes. Denn "nach Madrid gehen" ist das Ziel fast aller jungen Tänzerinnen, angehenden Sänger und der Legionen Gitarristen, die zunächst in der Familie, dann mit Glück und manchmal auch mit Förderung in einem Konservatorium und in den kleinen Bodegas und Tablaos in Cádiz, Jerez oder Sevillas Triana ihr Handwerk lernen. Mehr noch, der Flamenco kann für die Gitanos in Andalusien, so ähnlich wie die Box-Schulen der Bronx in New York für Afroamerikaner, ein wirklicher Ausweg aus familiärer und sozialer Misere bedeuten. Ein Weg in ein selbstbestimmtes Leben für die Frauen, reguläre Einkünfte für die Männer.

Andalusien: Flamenco als Lebensschule, Madrid als gelobtes Land

So hat sich zum Beispiel die Stiftung zur Förderung der Gitano-Jugend in Sevilla, die Fundación Alalá, speziell den Tres Mil Viviendas, dem schon mythischen sozialen Brennpunkt-Viertel in Sevilla gewidmet. Professionelle Gitarrenlehrer unterrichten dort vor allem Kinder aus Familien, die an bezahlten Gitarren-Unterricht nicht mal denken können. Der Hintergedanke: Gemeinsames Musizieren und das Erlernen eines Instruments haben unendlich viele positive Auswirkungen auf die Entwicklung von Heranwachsenden: Kognitive Fähigkeiten, soziale Interaktion, Stressabbau, Selbstbewusstsein, sogar die Fähigkeit Sprachen zu erlernen werden durch Musizieren verbessert.

„So wie es jetzt läuft, schaffen wir es nicht bis 2021. Wir schaffen es einfach nicht.“

Manuel del Rey

Alalá bedeutet auf caló, dem Romani-Dialekt, der in Spanien vorherrscht, ja nicht umsonst: Freude. Dass nicht aus all den kleinen Gitarristen jedes Mal Flamenco-Profis werden, weiß auch die Stiftung. Doch immerhin konnte sie eine Tür öffnen, eine Perspektive aufzeigen. Ohne die Tablaos in Sevilla, Cádiz und vor allem Madrid, wird diese Tür aber brutal zugeschlagen.

Trübe Aussichten: Ohne Städtetourismus kein Flamenco in Madrid

Die Hygienevorschriften und der merkantile Druck des Immobilienmarktes in Madrid sind nicht alles, was den Tablaos zusetzt. Der größte Teil des Publikums waren Ausländer, vielleicht nicht immer die sachkundigsten Flamenco-Kenner, aber begeisterte und treue, vor allem gut zahlende Kundschaft. Trotz manchmal einer etwas ausufernden Preispolitik waren die Tablaos fast immer voll. Doch der Städtetourismus liegt brach.

Fassade der Casa de la Memoria Flamenco in Sevilla.
Der Flamenco nur noch ein Fall für´s Museum? In der „Casa de la Memoria“ in Sevilla wird zwar noch gespielt, aber Flamenco mit „Mindestabstand“ ist ein Stimmungskiller. © Marco Schicker

Vorwürfe, der Flamenco habe sich zu sehr touristisch vermarktet und fast nur noch auf ausländische Besucher bei ihren Städtereisen nach Madrid versteift und trage dafür jetzt die Konsequenzen, lässt der Präsident der Tablaos Madrids, Manuel del Rey, in einem Gespräch mit "ABC" nicht gelten: Die Zarzuela-Theater oder das Prado-Museum haben indes den gleichen Anteil an ausländischen Besuchern wie die Tablaos, "aber es käme niemand auf die Idee, dieser Institution das vorzuwerfen".

Daher dürfe der Flamenco als Kulturträger auch die gleichen Hilfen erwarten wie andere Einrichtungen. "Denn so wie es jetzt läuft, schaffen wir es nicht bis 2021. Wir schaffen es einfach nicht." Seit 2010 ist der Flamenco übrigens Weltkulturerbe der UNESCO, natürlich "immaterielles", könnte man sarkastisch ergänzen.

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