Bei "Entdeckungen, wegen der die Geschichte der Menschheit neu geschrieben werden muss", schrillen jedem Archäologen, Journalisten und hoffentlich auch Leser die Alarmglocken der Skepsis, denn oft genug stellte sich die "Jahrhundertentdeckung" als geschicktes Marketing einer Fachzeitschrift oder einer um öffentliche oder private Mittel bangenden Zunft heraus, die in Spanien zwar unendliche Betätigungsfelder hat, aber leider sehr stiefmütterlich behandelt wird. Oft zerbröselt Spaniens Kultuererbe.
Die Ausgrabungsstätte in der Sierra de Atapuerca ist indes schon seit langem eine, im Wortsinne, ergiebige Fundgrube, in der seit Jahrzehnten systematisch gegraben wird. Die Stätte ist UNESCO-Weltkuturerbe, kann für Führungen besucht werden und dient zudem als eine der wichtigsten Ausbildungsstätten für Archäologen, Historiker, Anthropologen, aber auch Schüler aus ganz Kastilien, Kantabrien oder dem Baskenland.
Schon 2007 fand sich bei Grabungen im Abschnitt Sima de Elefante, damals in Schicht 9, ein Stück Unterkiefer, das bis maximal 1,2 Millionen Jahre alt sein könnte. Allerdings war das Fragment so unspezifisch, dass keinem seriösen Experten eine stichhaltige Zuordnung zu einem Homo Soundso gelang. Ähnlich ging es mit einem Fund in der Cueva de Victoria bei Cartagena. Diesmal ist das anders. Denn der Fund in Burgos, diesmal in der tieferen Schicht 7, lässt sich aufgrund seiner anatomischen Charakteristika ganz klar einer "Menschenart" zuordnen und das macht den Fund so sensationell.
Gemeint ist der Homo Erectus und damit praktisch der Stammvater Abraham unter den Hominiden. Denn vom Homo Erectus, der, wie der Name sagt, der erste war, der vollständig aufrecht ging, stammen höchstwahrscheinlich viele andere maßgebliche Menschenformen ab, einschließlich Neanderthaler und Sapiens. Nachweisbar ist der Erectus vor etwa 1,9 Millionen Jahren bis "gerade erst", denn die jüngsten Spuren deuten auf ein isoliertes Überleben auf Java bis vor rund 117.000 Jahren hin.
Evolutionsbiologen gehen davon aus, dass Stämme des Homo Erectus zunächst von Afrika nach Asien wanderten, während der Homo Sapiens, also unsereiner, sich später aus in Afrika verbliebenen Gruppen des Erectus entwickelte. In Eurasien haben sich, so der Status quo der Forschung, aus dem Erectus unter anderem der Homo Heidelbergensis sowie der Neanderthaler gebildet, die bekanntlich beide ausgestorben sind, auch wenn - ebenfalls in Spanien nachweisbar - Neanderthaler und Sapiens lange Zeit Nachbarn waren und sich dabei so nahe kamen, dass jeder von uns bis heute noch etwas Neanderthaler-DNA in sich trägt.
Was die Wissenschaftler in Spanien nun brennend interessiert, ist die Frage, ob der Erectus, dessen Überreste in Atapuerca gefunden wurden, über Asien oder Afrika nach Burgos kam und ob er womöglich zu jener Gruppe gehörte, aus denen - über mehrere Entwicklugnsstufen - der moderne Mensch entstand oder er einfach einem wandernden Stamm angehörte, der sich evolutionstechnisch aber im Sande verlief. Die Bedeutung des Fundes ist immens, es ist der älteste Hominide in Europa, für einen älteren Erectus muss man nach Georgien oder dann gleich nach Afrika reisen.
Wie Europa "sozialisiert" und besiedelt wurde - immer wieder aufs Neue - das ist die Geschichte, welche dahinter von Interesse ist. Der geht man in Atapuerca nach, bei Gibraltar, aber auch entlang der Costa del Sol hinsichtlich der Neanderthaler (ab 400.000 Jahre) und für die "jüngere" Zeit im gerade 150 Kilometer nördlich von Burgos gelegenen Altamira. Dort sprechen wir von gerade 15.000-20.000 Jahren, in Atapuerca aber von 1,4 Millionen Jahren, also einer unfassbar langen Zeitspanne.
Vom Homo Erectus wissen wir, dass er als erster Hominide und überhaupt erstes "Tier" durchgehen aufrecht lief, er jagte, Steinwerkzeuge herstellte, höchstwahrscheinlich das Feuer beherrschte und so durch das Garmachen von Nahrung, die Kalorien- und Eiweißzufuhr massiv erhöhen konnte, was zu einer sprunghaften Entwicklung des Gehirns und dessen Fähigkeiten führte.
Georgien: Frühester Homo außerhalb Afrikas gefunden (Video auf Deutsch)
Laut den Archäologen in Atapuerca, die sich ein Jahr Zeit ließen, um mit Experten in der ganzen Welt Alter und Zuordnung des Fossils zu bestimmen, ist der Fund deshalb von Interesse, da der Erectus zu jenen Menschengattungen gehörte, die als erste größere und dauerhaftere Siedlungen gründeten, die Sozialgeschichte des Menschen beginnt damit, auch, wenn, wie die Forscher einräumen, durchaus noch ältere Hominiden auch in Europa gewesen sein könnten, allerdings keine, so glaubt man, die eine direkte Linie zu uns aufweiesen. Der jetzige Fund ist insofern eine Überraschung, da er zwar einem recht frühen Exeemplar des Erectus zuzuordnen ist, die Kiefernfragmente aber schon deutlich näher an der Form des "modernen" Menschen sind als bei Funden in anderen Gebieten.
Das spannende daran, fast alles dieses Wissen hat man hier vor Ort im Norden Kastiliens machen können, an der Grabungsstätte Gran Dolina, die Teil von Atapuerca ist, da fand man seit 1997 170 Fossilien, die man dem Homo Antecessor von vor rund 860.000 Jahren zuordnet, der wiederum ein Vorfahre des Heidelbergensis sein könnte, während beide zwischen Erectus und Sapiens liegen. Die ersten Sapiens Sapiens sind in Afrika vor 250.000 Jahren nachweisbar, doch eine frühere Entwicklung - möglicherweise auch in Europa - ist gar nicht mehr ausgeschlossen, erst recht nicht, nach dem aktuellen Fund in der Sierra de Atapuerca.
Weitere Infos, auch zu Führungen in der Ausgrabungsstätte Atapuerca.
Spaniens erste Residenten: Itálica - Das Little Italy bei Sevilla.