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Stumme Patrioten: Warum hat Spaniens Nationalhymne keinen Text?

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Von: Marco Schicker

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Spanische Fußballfans halten im Stadion einen Spanien-Schal hoch.
Zwar ohne Text, aber dafür umso lauter: Spaniens Fußball-Fans gröhlen die Hymne begeistert mit. © Martin Meissner/dpa

Wenn Spaniens Fußball-Helden bei der WM 2022 in Katar antreten, brüllen ihre Fans ein inbrünstiges „Leeelelelele“ von den Rängen, die Spieler stehen dabei würdig aber stumm auf dem Rasen. Denn singen können die Spanier ihre Hymne nicht, - sie hat keinen Text. Warum?

Madrid - Offiziell handelt es sich bei der heutigen Nationalhymne von Spanien um einen kecken Grenadiermarsch, der aus fronttechnischer Pragmatik anfänglich nur für kurze Querflöten und Trommeln instrumentiert war. König Carlos III. (1716-1788) ließ den Marsch immer dann abspielen, wenn er oder seine Gemahlin irgendwo offiziell in Erscheinung traten und machte die Melodie per Dekret 1770 zum offiziellen Königsmarsch. In einer Abhandlung über Militärmusik taucht das Stück erstmals 1761 als Marcha Granadera auf, als Komponist wurde ihm Manuel de Espinosa zugeordnet.

Er blieb die offizielle Hymne des Landes und damit die dienstälteste Europas, mit kleinen Unterbrechungen während des Trienio Liberal in den 1820er Jahren, der Ersten Republik 1873/74 und der Zweiten Republik 1931 bis 1939.

Die Republikaner hatten ihre eigene Erkennungsmelodie

Die Republikaner haben ihre eigene Erkennungsmelodie, die Himno de Riego, benannt nach dem gleichnamigen Offizier Rafael del Riego, der 1820 König Fernando VII. so in die Enge trieb, dass der über eine konstituierende Monarchie verhandeln musste. Heute ist die Himno de Riego separatistisch besetzt, aber selbst in valencianischen Landen immer einmal wieder zu hören oder im Ausland, wenn jemand bei Sportveranstaltungen – ganz unabsichtlich – das falsche Band einlegt.

Franco setzte die Marcha Real per Gesetz nach gewonnenem Bürgerkrieg 1939 wieder ein, 1997 gab es das vorerst letzte Gesetz, das die üppiger ausgestattete Orchesterversion von zwei Militärmusikern vom Ende des 19. Jahrhunderts festschrieb.

Preußische Legenden

Doch hartnäckig hält sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Legende, dass der Marsch preußischen Ursprungs sei, ein Geschenk Friedrich des Großen an den damaligen spanischen Botschafter am Berliner Hof, einen Marqués de Sotomayor. Die Geschichte brachten die Spanier selbst auf, in einer Zeitung von 1862 erzählt ein anonymer Autor, dass der spanische Gesandte am preußischen Hofe Ende der 1750er vorsprach, um sich vom legendären Feldherren in dessen erfolgreichen Militärtaktiken unterweisen zu lassen.

flötenkonzert von sanssouci
„Flötenkonzert von Sanssouci“ Gemälde von Adolph von Menzel. Entstand Spaniens Hymne in Potsdam? © Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Der Chronist, Schriftsteller und republikanische Politiker Benito Pérez Galdós will 1870 sogar einen Wortlaut der Unterredung von 1760 auf Schloss Sanssouci dokumentieren können, wonach Sotomayor Friedrich gebeten habe: „Majestät, ich bin hier, um Ihre Gnaden zu bitten, sich die Ehre zu geben, uns über Eure gloriose Militärtaktik zu unterrichten, um sie in unseren Landen zur Norm zu machen.“ Der Alte Fritz wunderte sich und erwiderte: „Aber Herr Botschafter, meine Taktik ist doch eine spanische, ich erlernte sie aus dem Hauptwerk Ihres Marqués Santa Cruz de Marcenado, den Sie, General, sicher kennen.“

Sotomayor war von der Antwort sichtlich überrascht, worauf Friedrich das Thema wechselte, um ihm Peinlichkeiten zu ersparen. Aus seiner Schublade zog er ein Notenblatt und sagte: „Das ist ein Marsch, komponiert von einem großen deutschen Musiker, für mich ein Meisterwerk in seiner Kürze, Grandezza und Feierlichkeit. Haben Sie die Freundlichkeit, das Werk Ihrer Katholischen Majestät zu überbringen, auf dass er es in seinen Militärakten spiele.“

Eine zweite Variante erzählt, der Preußenkönig habe den Marsch María Amalia von Sachsen mitgegeben, die 1738 Carlos III. von Spanien heiratete.

Alles nur ersponnene Schwänke?

Dass es sich höchstwahrscheinlich um ersponnene Schwänke handelt, lässt sich anhand einiger historischer Fakten schnell abklopfen. Zwischen 1756 und 1763 hat es auf Sanssouci sicher keine geselligen Zusammenkünfte zwischen Friedrich und ausländischen Gesandten gegeben. Preußen stand im Siebenjährigen Krieg mit dem Rücken zur Wand, Berlin und die Residenz waren zeitweise von Engländern und Österreichern besetzt und der Alte Fritz dem Selbstmord nahe in den Wäldern Schlesiens und Böhmens mit einer Handvoll Getreuen unterwegs, während sein Bruder Heinrich versuchte, in Preußen die Kartoffeln aus dem Feuer zu holen.

carlos iii von spanien
König Carlos III. von Spanien bestimmte den Grenadiermarsch zur Hymne. © Museo del Prado Madrid

Das Wunder des Hauses Brandenburg“ retteten Preußen und den Alten Fritzen einmal mehr. Ein Wunder, das nach Ansicht von Historikern vor allem in der taktischen Schlamperei der Österreicher, der Feigheit der Franzosen und dem Tod der russischen Zarin bestand. Es ist auch nicht überliefert, dass der Alte Fritz spanische Militärtaktiken übernommen hätte.

Auch die Version mit der sächsischen Prinzessin ist unwahrscheinlich. Die Tochter des Kurzzeit-Kurfürsten von Sachsen, Friedrich Christian, gehörte dem Feindeslager an. Sachsen war mit Frankreich, Russland und Österreich gegen Preußen verbündet, die den Aufstieg der neuen Macht in der Mitte Europas mit allen Mitteln zu verhindern suchten.

Der Komponierwettbewerb in Sanssouci

Der deutsche Historiker Franz Kugler, einer der profiliertesten Friedrich-Biografen, bringt in einem Briefwechsel der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts noch eine dritte Variante ins Spiel, was insofern interessant ist, da ihm die spanische Legende vom preußischen Ursprung da noch gar nicht bekannt gewesen sein konnte.

Er schreibt von einem der vielen Gesellschaftsabende am Hofe Friedrichs in den glorreichen 40er Jahren des 18. Jahrhunderts, bei dem etliche Gesandte anwesend waren und der damals noch junge Fritz einen Komponierwettbewerb anregte. Bekanntlich war Friedrich ein guter Flötenspieler, komponierte durchaus anmutige Stücke, wenn auch unter Anleitung seines Kompositions- und Flötenlehrers Johann Joachim Quantz.

Ein Sekretär wies nun Friedrich darauf hin, so Kugler, dass ausgerechnet der spanische Gesandte völlig unmusikalisch sei und nicht einmal ein einfaches Menuett aufs Papier brächte. Daraufhin ließ er ihm inkognito den kleinen Marsch zukommen, um ihn nicht vor den Anwesenden zu blamieren. Zur allgemeinen Überraschung gewann der Spanier den Wettbewerb, Friedrich war innerlich geschmeichelt und amüsierte sich dabei köstlich. Bei Gelegenheit zog der Gesandte in Spanien das Blatt aus dem Ärmel und überreichte es seinem König als Geschenk, sich seiner engen Kontakte zum nördlichen Regenten rühmend. Die spanische Version könnte aus dieser hervorgegangen sein, verifizierbar sind beide nicht.

Leider ist das Stück harmonisch und melodisch recht ärmlich ausgestattet, so laufen musikforensische Analysen ins Leere. Stilistisch ist die Marcha Real tatsächlich reinstes Profan-Rokoko mit einem leicht französischen Einschlag und aus der Hand eines musikkonservatorischen Erstklässers. Warum also soll nicht der Flötenkönig von Sanssouci den Spaniern diesen Marsch geblasen haben? So manch europäische Hymne machte historische Umwege. Die deutsche stammt vom Österreicher Haydn und war in Wien einst Kaiserhymne. Das erzkatholische Österreich wiederum eignete sich die Freimaurerhymne des „teutschen“ Salzburgers Mozart an.

Doch warum blieb Spaniens Nationalhymne ohne Text?

Es herrscht weitgehend Einigkeit, dass die Schuld an dem wortlosen Patriotismus in der königlichen Abstammung der Hymne und in den bis heute anhaltenden Streitereien und offenen historischen Rechnungen der spanischen Regionen mit der Krone zu suchen seien.

Die Hymne kam nicht vom Volke, wurde nicht auf Schlachtfeldern gegen Napoleon oder bei Aufständen wie jenen 1848 in Mitteleuropa aus Blut geboren. Sie ist eine Melodie der Blaublüter, der feinen Herrschaft geblieben. Und da Spanien bis heute, wenn auch eine reine Operetten-Monarchie blieb, ist die Marcha Real mehr Eigentum und Erbe der Borbonen als das Lied von Paco und Juana.

Versuche zwischen Kitsch und Satire

Freilich mangelte es zu keiner Zeit an Versuchen, ernsthaften wie persiflierenden, das Musikstück mit Text zu unterlegen. Doch man kam nie zu einem Konsens. Erst Anfang des Jahres kochten Debatte und Emotionen um ein Libretto für den Nationalstolz wieder hoch – auf dem Propagandaschlachtfeld der Katalonien-Krise: Auf einem Konzert in Madrid sang Schlagerstar Marta Sánchez die Hymne mit eigenem Text. Eine honigsüße Ode des Kitsches, einer Spanierin, die selten im Lande ist: „Ich komme in meine Heimat zurück, in mein geliebtes Land, jenes, das hier ein Herz gebar. Heute singe ich dir, um dir zu sagen, wie viel Stolz in mir ist...“ und so weiter.

Es treten dann noch der liebe Gott und die Farben Rot und Gelb auf, um mit Sonnenstrahlen, die in jede Ecke scheinen und der Bitte nach einem Platz, wo sie in Frieden ruhen kann, wenn sie es lebend nicht mehr zurück in die Heimat schaffen sollte, zu endigen.

sängerin marta sanchez
Schlagersängerin Marta Sánchez versuchte sich an einem Text zur Hymne. © Facebook Marta Sánchez

Der damalige Ministerpräsident Mariano Rajoy und der mittlerweile abgedankte Ciudadanos-Chef Alberto Rivera, der sagte, „ich sehe keine Parteien mehr, ich sehe nur noch Spanier“ – zeigten sich hingerissen. Rivera ließ sich das Stück im Mai von Sánchez nochmals auf einem Parteikongress vorschluchzen. In Zeiten politischer Scharlatanerie hatte der Nationalismus als Droge und Kitt immer schon Hochkonjunktur. Sich als Teil von etwas zu fühlen, das größer ist als man selbst, ist die Basis von Nationalismus und Religionen zugleich. Und viele fallen immer noch darauf herein. Doch die Mehrheit der meist entspannt-liberalen Spanier schüttelte milde lächelnd das Haupt und bevorzugt weiter das Erbe aus schmachtenden Sevillanas, mystischem Flamenco oder satirischen Coplas.

Jeder möge sich seinen Teil denken

Sánchez und die Superspanier mussten sich einiges anhören: Wenn die Hymne schon einen Text bekommen soll, dann sollte der nicht über das Heimweh eines reichen Schlagersternchens singen, der über seine eigene Rührung in Tränen ausbricht, sondern auch von jenen, die ihre Heimat wegen der miesen Wirtschaftslage und der Korruption verlassen mussten.

Das ist die „Lagerbildung“ in Spanien, die einen Text auch für die nächsten 250 Jahre verhindern wird, wie ein Feuilletonist von „El Mundo“ trübselig anmerkte. Ein Kollege tröstet ihn und befindet, dass der Melodie genügend Würde innewohne, die jedem Spanier Raum gebe, sich seinen Teil zu denken. Das wäre etwas Besonderes: Musikalische Meditation statt pathetischer Nationalismus.

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