Eine zweite Variante erzählt, der Preußenkönig habe den Marsch María Amalia von Sachsen mitgegeben, die 1738 Carlos III. von Spanien heiratete.
Dass es sich höchstwahrscheinlich um ersponnene Schwänke handelt, lässt sich anhand einiger historischer Fakten schnell abklopfen. Zwischen 1756 und 1763 hat es auf Sanssouci sicher keine geselligen Zusammenkünfte zwischen Friedrich und ausländischen Gesandten gegeben. Preußen stand im Siebenjährigen Krieg mit dem Rücken zur Wand, Berlin und die Residenz waren zeitweise von Engländern und Österreichern besetzt und der Alte Fritz dem Selbstmord nahe in den Wäldern Schlesiens und Böhmens mit einer Handvoll Getreuen unterwegs, während sein Bruder Heinrich versuchte, in Preußen die Kartoffeln aus dem Feuer zu holen.
„Das Wunder des Hauses Brandenburg“ retteten Preußen und den Alten Fritzen einmal mehr. Ein Wunder, das nach Ansicht von Historikern vor allem in der taktischen Schlamperei der Österreicher, der Feigheit der Franzosen und dem Tod der russischen Zarin bestand. Es ist auch nicht überliefert, dass der Alte Fritz spanische Militärtaktiken übernommen hätte.
Auch die Version mit der sächsischen Prinzessin ist unwahrscheinlich. Die Tochter des Kurzzeit-Kurfürsten von Sachsen, Friedrich Christian, gehörte dem Feindeslager an. Sachsen war mit Frankreich, Russland und Österreich gegen Preußen verbündet, die den Aufstieg der neuen Macht in der Mitte Europas mit allen Mitteln zu verhindern suchten.
Der deutsche Historiker Franz Kugler, einer der profiliertesten Friedrich-Biografen, bringt in einem Briefwechsel der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts noch eine dritte Variante ins Spiel, was insofern interessant ist, da ihm die spanische Legende vom preußischen Ursprung da noch gar nicht bekannt gewesen sein konnte.
Er schreibt von einem der vielen Gesellschaftsabende am Hofe Friedrichs in den glorreichen 40er Jahren des 18. Jahrhunderts, bei dem etliche Gesandte anwesend waren und der damals noch junge Fritz einen Komponierwettbewerb anregte. Bekanntlich war Friedrich ein guter Flötenspieler, komponierte durchaus anmutige Stücke, wenn auch unter Anleitung seines Kompositions- und Flötenlehrers Johann Joachim Quantz.
Ein Sekretär wies nun Friedrich darauf hin, so Kugler, dass ausgerechnet der spanische Gesandte völlig unmusikalisch sei und nicht einmal ein einfaches Menuett aufs Papier brächte. Daraufhin ließ er ihm inkognito den kleinen Marsch zukommen, um ihn nicht vor den Anwesenden zu blamieren. Zur allgemeinen Überraschung gewann der Spanier den Wettbewerb, Friedrich war innerlich geschmeichelt und amüsierte sich dabei köstlich. Bei Gelegenheit zog der Gesandte in Spanien das Blatt aus dem Ärmel und überreichte es seinem König als Geschenk, sich seiner engen Kontakte zum nördlichen Regenten rühmend. Die spanische Version könnte aus dieser hervorgegangen sein, verifizierbar sind beide nicht.
Leider ist das Stück harmonisch und melodisch recht ärmlich ausgestattet, so laufen musikforensische Analysen ins Leere. Stilistisch ist die Marcha Real tatsächlich reinstes Profan-Rokoko mit einem leicht französischen Einschlag und aus der Hand eines musikkonservatorischen Erstklässers. Warum also soll nicht der Flötenkönig von Sanssouci den Spaniern diesen Marsch geblasen haben? So manch europäische Hymne machte historische Umwege. Die deutsche stammt vom Österreicher Haydn und war in Wien einst Kaiserhymne. Das erzkatholische Österreich wiederum eignete sich die Freimaurerhymne des „teutschen“ Salzburgers Mozart an.
Es herrscht weitgehend Einigkeit, dass die Schuld an dem wortlosen Patriotismus in der königlichen Abstammung der Hymne und in den bis heute anhaltenden Streitereien und offenen historischen Rechnungen der spanischen Regionen mit der Krone zu suchen seien.
Die Hymne kam nicht vom Volke, wurde nicht auf Schlachtfeldern gegen Napoleon oder bei Aufständen wie jenen 1848 in Mitteleuropa aus Blut geboren. Sie ist eine Melodie der Blaublüter, der feinen Herrschaft geblieben. Und da Spanien bis heute, wenn auch eine reine Operetten-Monarchie blieb, ist die Marcha Real mehr Eigentum und Erbe der Borbonen als das Lied von Paco und Juana.
Freilich mangelte es zu keiner Zeit an Versuchen, ernsthaften wie persiflierenden, das Musikstück mit Text zu unterlegen. Doch man kam nie zu einem Konsens. Erst Anfang des Jahres kochten Debatte und Emotionen um ein Libretto für den Nationalstolz wieder hoch – auf dem Propagandaschlachtfeld der Katalonien-Krise: Auf einem Konzert in Madrid sang Schlagerstar Marta Sánchez die Hymne mit eigenem Text. Eine honigsüße Ode des Kitsches, einer Spanierin, die selten im Lande ist: „Ich komme in meine Heimat zurück, in mein geliebtes Land, jenes, das hier ein Herz gebar. Heute singe ich dir, um dir zu sagen, wie viel Stolz in mir ist...“ und so weiter.
Es treten dann noch der liebe Gott und die Farben Rot und Gelb auf, um mit Sonnenstrahlen, die in jede Ecke scheinen und der Bitte nach einem Platz, wo sie in Frieden ruhen kann, wenn sie es lebend nicht mehr zurück in die Heimat schaffen sollte, zu endigen.
Der damalige Ministerpräsident Mariano Rajoy und der mittlerweile abgedankte Ciudadanos-Chef Alberto Rivera, der sagte, „ich sehe keine Parteien mehr, ich sehe nur noch Spanier“ – zeigten sich hingerissen. Rivera ließ sich das Stück im Mai von Sánchez nochmals auf einem Parteikongress vorschluchzen. In Zeiten politischer Scharlatanerie hatte der Nationalismus als Droge und Kitt immer schon Hochkonjunktur. Sich als Teil von etwas zu fühlen, das größer ist als man selbst, ist die Basis von Nationalismus und Religionen zugleich. Und viele fallen immer noch darauf herein. Doch die Mehrheit der meist entspannt-liberalen Spanier schüttelte milde lächelnd das Haupt und bevorzugt weiter das Erbe aus schmachtenden Sevillanas, mystischem Flamenco oder satirischen Coplas.
Sánchez und die Superspanier mussten sich einiges anhören: Wenn die Hymne schon einen Text bekommen soll, dann sollte der nicht über das Heimweh eines reichen Schlagersternchens singen, der über seine eigene Rührung in Tränen ausbricht, sondern auch von jenen, die ihre Heimat wegen der miesen Wirtschaftslage und der Korruption verlassen mussten.
Das ist die „Lagerbildung“ in Spanien, die einen Text auch für die nächsten 250 Jahre verhindern wird, wie ein Feuilletonist von „El Mundo“ trübselig anmerkte. Ein Kollege tröstet ihn und befindet, dass der Melodie genügend Würde innewohne, die jedem Spanier Raum gebe, sich seinen Teil zu denken. Das wäre etwas Besonderes: Musikalische Meditation statt pathetischer Nationalismus.