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Tapas unterm Davidsstern: Alte Synagoge bei Sevilla wiederentdeckt - Eine Zeitreise

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Von: Marco Schicker

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Synagoge von Utrera
Unter vielen Schichten und nach Umbauten aus 8 Jahrhunderten, wird die Synagoge von Utrera langsam wieder freigelegt. © Ayuntamiento de Utrera

Die wiederentdeckte Synagoge von Utrera war womöglich eine der größten des alten Spanien. Zustand, Entdeckung und Rehabilitierung liefern ein brauchbares Gleichnis auf das Verhältnis Spaniens zu seinen Sepharden. Eine Zeitreise mit Ausblick.

Utrera/Sevilla - Wenn diese Wände sprechen könnten, das gäbe ein nettes babylonisches Plauderstündchen. Zugebaut, zweckentfremdet, vergessen. Die Synagoge, die Archäologen und Historiker gerade aus den verschachtelten Gemäuern des mittelalterlichen Zentrums von Utrera schälen, soll „eine der wichtigsten gewesen“ sein, die „je auf der Iberischen Halbinsel bestanden“. Das ist eine ziemlich starke Ansage für die schmucke 50.000-Einwohner-Stadt Utrera, nur 20 Kilometer südöstlich von Sevilla, wenn man bedenkt, welch bedeutende und große jüdische Gemeinden Sevilla, Toledo, Córdoba, Segovia, Tarragona, Sagunto oder Ávila einst bevölkerten.

Anfang 2023 begann Utrera mit der zweiten Phase der Freilegung der Reste und Sicherung der Struktur, noch vor dem Sommer sollen unter dem Slogan „Wegen Bauarbeiten geöffnet“, die archäologischen Arbeiten vom Publikum „in Echtzeit“ beobachtet werden können. Das Rathaus, das den kakophonischen Gebäudekomplex, in dem zuletzt mehrere Lokalbetreiber Pleite gingen, 2016 für 460.000 Euro kaufte, will, je nach dem, was die Experten in welchem Zustand finden und „im Konsens mit Landesregierung und jüdischer Gemeinschaft“, entscheiden, ob aus der uralten Anlage ein reines Museum, eine Mischnutzung auch für kulturelle Veranstaltungen oder gar wieder ein Tempel wird. Letzteres ist am unwahrscheinlichsten, schlicht aus Mangel an Juden in der sevillanischen Provinz.

Bäder, Häfen, Synagogen: Archäologische Entdeckungen in Bars und Kneipen sind in Spanien fast normal

Archäologische Entdeckungen in Kneipen in Spanien sind keine Seltenheit und auch kein Wunder, da die Spanier schamlos alles in eine Schenke verwandeln, was Wände und Platz für einen Tresen hat. In Sevilla wollte ein Wirt während der Coronasperre seine Bar in Sichtweite der Kathedrale streichen, da fielen ihm Sperrholzwände aus den 50er Jahren entgegen. Dahinter erstrahlte, fast unbeschädigt, ein prachtvoller Hamam der Almoraviden-Dynastie aus dem 11. Jahrhundert und ist heute in der Bar Giralda sichtbar.

Bürgermeister von Utrera in der Synagoge.
Bürgermeister und Stadträte stehen auf der Stelle, an der früher in der Synagoge die heiligen Texte gelesen wurden. Was soll mit der Ruine geschehen? © Ayuntamiento de Utrera

Unweit des Stausees Fuente de Piedra im Norden von Málaga schmiegt sich ein 500 Jahre altes Bauerngehöft in Gänze um eine ländliche Moschee, Cortijo de las Mezquitas, die wahrscheinlich vom ersten Kalifen von Córdoba um das Jahr 900 in Auftrag gegeben wurde und damals die zweitgrößte von Al-Ándalus war. Und Cádiz, das es immer noch ein bisschen bunter treiben muss, legte - ebenfalls während Corona - im Keller der Flamencobar „Zum Blauen Vogel“ nicht weniger als einen Phönizier-Hafen frei.

Zahllose Kirchen in Spanien sind auf Fundamenten von Moscheen errichtet worden, weniger aus praktischen Erwägungen, denn als Statement. Doch auch die Mauren bauten schon auf Gotensockeln, ja recycelten umstandslos römische, byzantinische und Goten-Säulen, wie man es noch heute in der Großen Moschee von Córdoba besichtigen kann, in den die Christen nach der Eroberung eine Kathedrale rammten. Immerhin ließen sie die Moschee drumherum stehen. Doch selbst der oberkatholische Carlos I. kam bei der Besichtigung zu dem Schluss, „dass ihr etwas zerstört habt, was einmalig war, um etwas zu bauen, was es überall gibt“. Und die schmucke Kirche Santa María la Blanca in Sevilla war einst eine prächtige Synagoge in Rufweite der Königlichen Alcazares, von der aber nur ein Torbogen und zwei Säulen erkennbar blieben, weil der Rest mit güldenem Marientant geflutet werden musste.

Mitten im Abseits: Was die Synagoge von Utrera über das Leben der Juden bei Sevilla berichtet

Die Synagoge von Utrera treibt mit ihren vielen „Verkleidungen“ dieses Patchwork der Kulturen und Ideologien auf die Spitze und ich würde zu gern das Gesicht des letzten Rabbis sehen, der hier – es wird so um die Mitte der 1480er Jahre gewesen sein –, zum letzten Mal das Tor abgeschlossen hat. Wenn der wüsste, was aus dem mosaischen Gebetshaus alles geworden ist. Die ineinander gewachsenen Gebäude stehen im Viertel „Niño Perdido“, das verlorene Kind, wie das frühere jüdische Viertel mehrdeutig „getauft“ wurde. Diese Juderías lagen immer zentral, waren aber meist mit einer Mauer und einem Tor vom „Rest“ abgetrennt, ein Ghetto mithin, die Juden mittendrin im Abseits.

Das galt bei Christen noch gründlicher als bei den Mauren, auch wenn sich beide Herrschaftssysteme im Wechsel zwischen Toleranz, Duldung, Instrumentalisierung und Verfolgung in Summe über die Jahrhunderte wenig schenkten. Bereits kurz nach dem erzwungenden „Auszug der Israeliten“ aus Spanien, die länger auf der Iberischen Halbinsel Zuhause waren als sonst irgendjemand hier, verwandelte ein Orden den Tempel in ein Krankenhaus, das Hospital de la Misericordia. Noch um 1600 erklärte der lokale Historiker Rodrigo Caro, „das ist dort, wo die Juden ihre Synagoge hatten“, das ist auch fast die einzige spanische Spur, die es von der Synagoge gibt. Jüdische oder maurische Dokumente gingen mit den Bewohnern weg oder in Flammen auf.

Reste der Synagoge von Utrera.
Was gehört zur Synagoge, was zum christlichen Hospital, was zur Diskothek? An der Synagoge in Utrera haben Experten viel Freude und Mühe. © Ayuntamiento de Utrera

2021, auch hier während der Corona-Ruhe, stießen städtische Bauleute bei einer Routinebesichtigung auf verdächtige Spuren, Säulenbasen und Ebenen, die tiefer lagen als andere, seltsames Gemäuer, Nischen. Zunächst sah alles nach Resten der Hospitals-Kapelle aus, was unter den schrillen Farbschichten sichtbar wurde. Es braucht schon viel Sachverstand, einen Blick für’s Detail aber eben auch Mut für’s Große Ganze, um da eine Gebetsnische auszumachen und dann noch zu deklarieren, ob es sich um einen muslimischen Mihrab handelt oder einen Hechal oder Hejal, wie bei den Sepharden die Toraschreine hießen.

Mit der Ausrichtung gen Mekka ist es da nicht getan, da vor allem die Ummeyaden-Dynastie ihre Mihrabs mitunter direkt nach Süden ausrichteten, so, wie sie in ihrer Heimat Damaskus standen, aus der sie durch einen Putsch vertrieben wurden. Mit sephardischen Baudenkmälern gibt es zudem das Problem, dass die jüdischen Hispanier sich in Gestaltung und Verzierung sehr eng an den maurischen Stil anlehnten, in gewisser Weise arabisiert waren und ja auch selbst orientalische Wurzeln hatten, die sie mit zig Völkern, Aramäern, Phöniziern usw. teilten.

Von der Zuflucht zum Untergang: Spaniens Juden zwischen Mauren- und Christenreichen

Doch die Experten in Utrera sind sich sicher, fast alle Elemente einer Synagoge identifizieren zu können, wozu nicht nur die Reste des Hospitals, sondern auch ein halbes Dutzend Schichten Wände und Umbauten durch Restaurants, Lager und eine Bar mit Diskothek durchackert werden mussten. Rund ein Drittel des Gebetssaals will man freigelegt haben. Nach allem was man jetzt bestätigen kann, wurde die Synagoge wohl zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert gebaut, also unter christlicher Herrschaft (Sevilla fiel 1248), als Kastilien, zu dem die Gegend damals gehörte, zum Zufluchtsort für viele Juden wurde, die vor den fundamentalistischen Berberstämmen der Almohaden und Almoraviden fliehen mussten.

Gewölbe der Synagoge von Toledo.
Die Synagoge Santa María La Blanca in Toledo gilt als die größte Spaniens. Sie ist seit 500 Jahren christianisiert. © Turismo de Castilla La Mancha

Das Goldene Zeitalter für die Sepharden in Al-Ándalus ging zu Ende, die Verlängerung in Kastilien sollte nur kurz währen. Die meisten Juden, die damals nicht in den Maghreb flohen, gingen nach Toledo. Utrera entstand genau in dieser Zeit, als mittelalterliches Dorf rund um den Torre del Castillo, der noch von den Almohaden errichtet wurde. König Enrique II. von Kastilien stattete Siedler, die sich in dieses frontnahe Grenzland wagten, mit Privilegien aus.

Wie groß die jüdische Gemeinde Utreras gewesen war, lässt sich nur erahnen. Laut dem Dorfchronisten verblieben ein Jahr nach dem Exodus 1492 immerhin noch 80 „Konvertiten“ im Ort, wenn auch oft nicht lange. Die Inquisition machte den meisten bald ein „Angebot, das sie nicht ablehnen konnten“, denn man wollte an ihren Besitz und unterstellte ihnen einfach, heimlich ihren „alten Kulten“ nachzugehen, sich als sogenannte Kryptojuden zu betätigen. Das war nach damaliger Ideologie und Rechtsprechung ein Verbrechen und genügte für Enteignung, ein bisschen Folter und Rausschmiss, nicht nicht selten auch den Tod.

Bereits 1391 kippte - nach etlichen Scharmützeln zuvor - in Sevilla die Toleranzpolitik der Kastilier endgültig, die Kirche hob die relative Koexistenz auf, zettelte Pogrome mit mehreren hundert Toten an, die binnen weniger Tage auf halb Spanien bis nach Valencia und Zaragoza, ausgeweitet wurden und vorbereitet waren. Was in Utrera, quasi eine Vorstadt Sevillas, geschah, ist nicht überliefert, man kann es sich nur blutig ausmalen. In seltenen Fällen schützte die christliche Bevölkerung ihre Nachbarn, was nicht ohne Risiko war. Es ist also durchaus denkbar, dass der letzte Rabbi die Synagoge hier gar nicht abschloss, sondern er herausgeprügelt wurde.

Säule und Portal der Kirche Santa Maria la Blanca in Sevilla, früher eine Synagoge.
Am Seitenportal der Kirche Santa Maria la Blanca in Sevilla erkennt man noch, dass das einmal eine Synagoge war. © Marco Schicker

Suche nach der Mikve: Synagoge von Utrera mit vielen Geheimnissen und noch offener Zukunft

Der Toraschrein in Utreras auferstehender Synagoge wurde offenbar schon von den Hospitals-Karmelitern versiegelt, erkennbar sind sogar Stufen dahin. Gegenüber und an den Seiten machten die Archäologen Reste von Steinbänken aus, die sich über die gesamten Wandlängen zogen, ein Element, das es so in keiner Moschee und keiner christlichen Kirche gibt. Diese brachten auch den ursprünglichen Grundriss zu Tage und die Information, dass die Synagoge noch als solche erweitert worden war, die Gemeinde also wuchs. Die Abmessungen lassen „auf eine der größten Synagogen der Iberischen Halbinsel“ schließen, die damit in einer Liga mit den vier großen „Überlebenden“ spielt, den beiden in Toledo, jener in Segovia sowie der von Córdoba.

Im früheren Hof, der zwischenzeitlich auch zugebaut wurde, will man auf einen Brunnen mit dem Ansatz für eine steinerne Ablaufrinne gestoßen sein. Führte der zur Mikve, dem auch spirituell reinigenden Bad, das laut Glaubensvorschrift mit fließendem, nicht mit stehendem Wasser zu betreiben war und ohne die eine Synagoge gar nicht denkbar ist? Die Archäologen gehen noch weiter, sie wollen dort, wo im 17. Jahrhundert ein Tor und große Umbauten stattgefunden haben, sogar die Strukturen für eine Schule, Fremdenzimmer und das Haus des Rabbis ausgemacht haben. Stein um Stein fügt sich das Puzzle zusammen, im Gebetssaal fand man die Trennwand, hinter der die betenden Frauen verborgen wurden und eine steinerne Plattform soll die Bihmah sein, wo die heiligen Texte gelesen wurden.

Synagoge de Tránsito in Toledo
Mudéjar-Bögen und Verzierungen in der Synagoge de Tránsito in Toledo, eine der großen vier „Überlebenden“. © Turismo de Castilla La Mancha

Doch das Puzzle bleibt verzwickt, in der ersten Erkundungsphase wurden in den verschiedenen Ebenen hunderte Fundstücke, in Summe 20 Kisten, zusammengetragen. Keramikscherben, Metallstückchen, Glasspiltter, Knochen, die nun identifiziert werden und eine Art Zeitleiste ergeben sollen, die mit schriftlichen Quellen und anderen Funden abgeglichen werden kann. Der Bürgermeister Utreras, José María Villalobos, freut sich sowohl über die zu erwartenden Erkenntnisse, wie auch über das Interesse in der jüdischen Gemeinschaft Spaniens, die man eingeladen habe, mitzuwirken, auch, „damit wir die sephardische Kultur wiederentdecken können, die im Vergleich zum großen katholischen und maurischen Erbe, im Laufe der Geschichte etwas ausgetrocknet“ sei, wie der Politiker euphemistisch herumdruckst. Offen zu sagen, dass die jüdische Kultur Spaniens erst terrorisiert, dann vernichtet, die Reste getilgt und später ignoriert wurden, dafür ist die Zeit wohl immer noch nicht reif.

Der Bürgermeister schaut nach vorne: „Fast alle Utreranos kennen das Gebäude, das immer sozial und nah am Volk benutzt wurde“, eine solche gemeinschaftliche Nutzung für alle, das wäre, was er sich dafür wünscht. Eine echte Gemeinschaft aller, das wäre nicht nur in der langen Geschichte der spanischen Juden eine ganz neue Erfahrung. Auf Tapas, auf die konnten sich schon stets alle Kulturen auf spanischem Boden einigen, warum nicht auch mal, ganz kosher, unterm Davidsstern? Der alte Rabbi würde schmunzeln.

Rundbogen und Dachverzierungen der Synagoge in Toledo.
Die Sinagoga de tránsito in Toledo. Eines der am besten restaurierten jüdischen Gebetshäuser in Spanien. © Turismo de Castilla-La Mancha

Tipps für den Besuch von Synagogen und historischen jüdischen Vierteln in Spanien

Die Anlaufstelle für jüdisches Kulturgut in Spanien sind die „Caminos de Sefarad“, ein Netzwerk von Fachleuten und Touristenführern durch ehemalige jüdische Viertel etlicher spanischer Städte. Unter www.redjuderias.org gibt es Infos, Stadtpläne und Angebote für Führungen sowie Infos über kulturelle Veranstaltungen wie Ausstellungen, Konzerte oder Gastro-Events.

Von den historischen Synagogen Spaniens sind nur wenige erhalten oder restauriert: Die Sinagoga del Corpus Christi in Segovia (als christliche Kirche), die Sinagoga de Córdoba sowie die beiden größten und bedeutendsten in Toledo: Sinagoga del Tránsito (Foto) mit Museum sowie Sinagoga de Santa María la Blanca (als christliche Kirche). Ein kleines sephardisches Museum gibt es zudem in Granada, Placeta de Berrocal 5, sowie in Sevilla das Centro de Interpretación Judería, Calle Ximénez de Enciso 22. In der Burg von Lorca (Murcia) sind ebenfalls Reste der alten Synagoge zu besichtigen.

Zum Thema: Kurze Geschichte des Judentums in Spanien - Eine Chronologie.

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