Am Fundort, der Ausgrabungsstätte Casas del Turuñuelo, eine mehrstöckige Tempel- und Palastanlage, wurde bereits vor Jahren ein Opferritual nachgewiesen, bei dem vor etwa 2.600 Jahren über 50 Pferde, Ziegen, Wölfe, Schweine kultisch in einem Hof getötet wurden, der anschließend eingeäschert und versiegelt wurde. Im Umfeld dieser schaurigen Szene, am Ende einer geheimnisvollen Treppe ins „Nichts“, gruben die Spezialisten zwei wunderschöne Büstenreliefs aus, die junge Frauen darstellen. Göttinnen vielleicht oder Abbilder hochgestellter Damen der Gesellschaft. Dazu fanden sie Fragmente dreier weiterer Köpfe, die Helmreste lassen auf Krieger schließen.
Das Besondere: Bisherige Funde unter Tartessos-Verdacht, wie die Goldschätze von Carambolo und Mairena bei Sevilla, Keramiken und Figurinen in der Extremadura und bei Huelva oder die Carriazo-Bronze (Foto weiter unten), die ein Archäologe auf einem Flohmarkt bei Sevilla erstand, zeigten entweder die typische Ornamentik der Kelten und Iberer, die auch aus dem Rest Spaniens bekannt sind, oder sie waren durch und durch orientalisiert, also Adaptionen griechischer, ägyptischer oder phönizischer Ästhetik und Stilelemente. Mehr als das Prädikat „vorrömisch“ ist da seriös kaum möglich. Die Frauenköpfe von Guareña aber sind von eigener Art, nicht frei von Einflüssen anderer Kulturen, doch, so die Forscher, kein Imitat mehr, sondern eine Eigenschöpfung.
„Die Geschichte der zwei Frauen aus dem 5. Jahrhundert vor Christus können wir noch nicht ganz rekonstruieren, aber sie erzählen eine“, so Expeditionsleiter Sebastián Celestino vom CSIC-Institut. „Sie sind noch ein bisschen älter als die Dama de Elche“, die den an hellenistischen Vorbildern orientierten Haarschmuck trägt und damit zum Musterbild alles Iberischen wurde. Die Tartessos-Damen aber, deren Züge fast an jene der Nofretete erinnern, zeigen ein in diesem Umfeld noch nie gesehenen Ausdruck: menschlich, idealisiert zwar, aber nicht göttlich überhöht.
„Erstmals sehen wir nun auch, welchen Schmuck die Tartessianerinnen trugen, wie sie ihr Haar flochten“ freut sich das CISC-Team. Derzeit werden rote Farbreste an den steinernen Relief-Statuen untersucht, ebenso der Fundkontext, und natürlich wird in Casas del Turuñuelo weiter gegraben, am Palastensemble im Tal des Guadiana-Flusses, das womöglich die letzte Stadt des Tartessos-Reiches war, bevor es in Kriegen zwischen Phöniziern, Griechen, Etruskern und Karthagern um die Vorherrschaft im Mittelmeer unterging und die keltiberische Bevölkerung bald endgültig ins Römische Reich assimiliert wurde.
Von Tartessos wusste man in Spanien bis vor 100 Jahren fast nichts mehr. Es handelt sich um ein Gebilde, das zunächst aus losen keltiberischen Stammesbünden ab 1.200 vor Christus allmählich zu einem Bündnis von frühen stadtähnlichen Siedlungen wurde und sowohl mit Griechen an der Levante-Küste, vor allem aber mit den Phöniziern entlang der westlichen Mittelmeer- und der südlichen Atlantikküste der Iberischen Halbinsel enge Handelsbeziehungen pflegte.
Die Phönizier bauten, strategisch perfekt verteilt, wichtige Hafenstädte wie Qart Hadasht (Cartagena), Malaka (Málaga) - wo man sogar die größte Phönizier-Stadt des gesamten Mittelmeer-Raumes vermutet - und Gadir (Cádiz) sowie Tempel, huldigten Baal, Melkart, Astarte und brachten aus der Region des heutigen Libanon und Syrien dem Westen Europas das erste Alphabet mit. Ihre Flotten und Armeen schützten das Inland, die Iberer lieferten dafür Rohstoffe, neben Holz und Essbarem waren das vor allem Silber sowie Kupfer und Zinn, aus dem die Tartessianer kunstfertig Bronze zu gießen wussten. Tartessos machte durch den Austausch Entwicklungssprünge, die isolierteren keltiberischen Dörfern vorenthalten blieben. Es entstanden schneller starke Hierarchien mit Eliten und Klassen, die Einnahmen und die Überproduktion gaben Ressourcen für Luxus und Kultur her.
Diese sozial-ökonomische Symbiose, der Wille und das Talent zur Kooperation beförderten Tartessos auf dieses neue Niveau, das sich von den zeitgleich bestehenden archaischen Strukturen der sonstigen Keltiberer abhob. Etwa vom 8. bis zum 5. Jahrhundert vor unserer Zeit dominierte Tartessos landeinwärts der Küsten das heutige Andalusien und die Extremadura sowie das südliche Portugal (mittlerer und südlicher Alentejo und die Algarve), im Osten dehnte sich das Reich bis Murcia und Alicante aus, der Fluss Vinalopó war wohl die östliche Grenze. Ob sie in Huelva auch einen Hafen hatten oder sich mit Phöniziern teilten, ist umstritten.
Bei den Iberern ist sich die Forschung bis heute weder über Herkunft, noch die Indigenität einig, Tartessos macht das Chaos nur größer. Die Iberer werden von Forschern als protoindogermanische Volksstämme definiert, die über den Nahen Osten und Nordafrika auf die Iberische Halbinsel eingewandert seien. Andere sehen sie als echte Afrikaner, als Verwandte und Vorfahren der Berber, und es gibt sogar Historiker, die in den Iberern die „Hebräer“, einen der zwölf verlorenen Stämme Israels identifizieren wollen.
Auch die Möglichkeit, dass sich die Iberer tatsächlich aus „Ureinwohnern“ der Steinzeit über die Agrar-Kulturen im heutigen Spanien entwickelt haben, kann nicht verworfen werden, auch wenn eine vollständig autarke Entwicklung ohne jede Zuwanderung durch Funde und Vergleiche ausgeschlossen werden kann. In Europa gibt es keine Reinrassigkeit, sie hätte nicht überlebt. Doch immerhin reklamiert Spanien seit kurzem, den ältesten Europäer für sich.
Trotz der kunterbunten Einwanderungsgeschichte identifizieren viele Spanier die Iberer und Kelten als ihre „Ureinwohner“. Das mag damit zusammenhängen, dass die Iberer im Unterschied zu Phöniziern, Römern oder Goten, ihre Kultur nicht mitbrachten, sondern sich das genuin Iberische erst hier auf der Halbinsel herausbildete. Auch waren es die Keltiberer und im Besonderen hier die Tartessianer, die der Halbinsel die erste Schrift brachten. Das Iberisch-Südwest, das auf Steinsteelen vor allem im Süden Portugals gefunden wurde, sich am phönizischen Alphabet orientiert, aber bis heute unübersetzbar blieb, von der Identifikation einiger Götternamen abgesehen. Eine Schriftsprache ist eine großartige Kulturleistung. Blöd nur, dass keiner sie heute verstehen kann, denn Sprache verrät immer ihre Herkunft und würde bei der Entschlüsselung von Tartessos wirklich weiterhelfen. Doch es liegt nahe, dass Iberisch den semitischen Sprachen (afroasiatische Gruppe) näher war als den indoeuropäischen.
Die Identifikation der Spanier mit „ihren“ Iberern hat freilich auch ideologische Hintergründe, nicht erst Francos Bildungssystem, schon der Nationalismus des 19. Jahrhunderts bastelte, ähnlich wie die Deutschen mit ihrem Arierwahn, an der Schnapsidee, die Iberer zu einer Art hispanischen Ur- und Herrenrasse zu machen. Ein aus wissenschaftlicher Sicht geradezu absurder Versuch. Der deutsche Archäologie-Pionier Adolf Schulten wollte Tartessos für Spanien und die Welt im 20. Jahrhundert wiederentdecken. Mit dem römisch-iberischen Numantia hatte er eine hervorragende Referenz vorzuweisen. Für den bei den spanischen Kollegen umstrittenen Althistoriker, der über eine unglaubliche antike Quellenkenntnis zur Iberischen Halbinsel verfügte (in fünf Bänden verewigt), war Tartessos nicht weniger als das sagenhafte Atlantis, das im Fieberwahn so manchen Forschers umstandslos von Platons philosophischer Projektionsfläche zu einer realen Stadt umgestaltet wurde.
Verführerisch ist der Umstand, dass just zwischen Málaga und Cádiz der Atlantik beginnt, der ja nicht ganz zufällig so heißt und die Gegend das ungefähre Ende der damals bekannten Welt markierte, in der schon Homers Helden Prüfungen bestehen mussten, die Säulen des Herkules und sein Tempel bei Cádiz sind Zeugnis dafür. Das war um 800 vor Christus, also 400 Jahre vor Platon und just, als Tartessos begann, aufzusteigen. Der griechische Historiker Herodot beschrieb um 460 vor Christus die Reise des Kolaios von Samos zwei Jahrhunderte zuvor: Der wollte nach Ägypten segeln, doch ein Ostwind trieb ihn ab „und sie hielten, von einem Gott geführt, nicht eher als hinter den Säulen des Herkules, so kamen sie nach Tartessos. Die Gegend war damals noch nicht ausgebeutet und sie kamen zurück mit der wertvollsten Ladung, die bis dahin je ein Grieche erlangte.“
Die Legende Tartessos begann mit seinem Reichtum und der Ferne, sein abrupter Untergang, dessen Auslöser unbekannt blieb, schrieb sie bis ins Heute fort. Argantonius, der Silberkönig, der angeblich über 150 Jahre alt wurde, war der letzte Herrscher und wurde auch als einziger namentlich überliefert. Er soll einem verbündeten griechischen Stadtstaat in einem Krieg tonnenweise Silber und Gold geschenkt haben. Vielleicht war das der entscheidende Fehler, der das Ende seines Reiches einleitete?
Warum sollte Tartessos also nicht Atlantis sein? Adolf Schulten schrieb darüber 1922 ein ganzes Buch und verlor fast seinen Verstand an diese fixe Idee, die sich bei Professoren und Hobbyforschern in Huelva hartnäckig hält. Die Archäologen aus Mérida und vom CSIC liefern im Binnenland immer mehr Beweise, dass Tartessos ein Bündnis von vielen Siedlungen, dann Städten und Produktionsstätten wie Bergwerken war. Ein Konglomerat, das dank seiner Edelmetalle im Austausch mit den führenden Seemächten der Zeit eine Sonderstellung erlangen konnte. Die aktuellen Funde der in Stein gehauenen Damen belegen die These einer vom iberischen „Mainstream“ sich abnabelnden, modernen Gesellschaft mit eigenständiger Identität - wobei immer deutlicher wird, dass die Symbiose und Vermischung zwischen Keltiberern und (semitischen) Phöniziern viel gründlicher war, als bisher angenommen oder ideologisch erwünscht. Dass das Silberreich Tartessos lange in Vergessenheit versank, macht es weder zum sagenhaften Atlantis, noch weniger wichtig als besser dokumentierte Zivilisationen.
Die Griechen haben die Minoer mit ihrem Stier und der entführten Europa auf Kreta, die Germanen nordische Donnergötter, die Römer Romulus und Remus als mythisches Gründerpaar. Warum sollen sich die Spanier nicht auf zwei hübsche junge Frauen aus der Nähe von Mérida, - nennen wir sie Astarte und Tanit -, als Stammmütter einigen können, von denen eine einen iberischen Prinzen heiratete, die andere aber mit einem phönizischen Matrosen durchbrannte? Das würde so einiges über Spanien erklären, die akademische mit der Feldforschung versöhnen und irgendwann finden unsere Archäologen dafür bestimmt auch einen Beweis - oder doch noch Atlantis.
Das Museo Arqueológico Regional in Alcalá de Henares bei Madrid zeigt bis 23. September 2023 die Sonderausstellung „Die letzten Tage von Tartessos“. Die Goldschätze aus Carambolo und Mairena sowie die Carriazo-Bronze (Foto: Junta de Andalucía) befinden sich im Archäologischen Museum Sevilla, das wegen Renovierung bis 2026 geschlossen sein wird. Einzelne Stücke werden aber in einem Kloster ausgestellt. Der Schatz von Aliseda liegt im Nationalmuseum MAN in Madrid. Die Museen in Huelva, Badajoz und Almodôvar (Portugal), das sich speziell der „Südwestschrift“ widmet, sind die wichtigsten zu Tartessos. Einige Ausgrabungsstätten lohnen den Besuch: Cancho Roano und La Mata (Campanario), Extremadura, die Necrópolis de la Joya, Huelva, Cerro de San Juan in Coria del Río, Carambolo sowie Carmona, alle in Sevilla und Carissa Aurelia in Cádiz.
Zum Thema: Spaniens Little Italy - Ein Besuch in der Römerstadt Itálica bei Sevilla.