Corona und die Psyche: Jeder Mensch gehört zur Risikogruppe – das ist zu beachten
Jeden Tag veröffentlicht das RKI neue Zahlen: Corona-Infizierte, Corona-Tote, Inzidenzwert. Doch diese Werte zeigen nur einen kleinen Teil – die Pandemie kann allen schaden.
Oberstes Gebot seit Beginn der Corona-Pandemie: die Risikogruppe schützen, die mit einer Corona-Infektion auf der Intensivstation behandelt werden oder sogar an oder mit dem Coronavirus sterben könnte. Doch es gibt eine weitere Risikogruppe, die nicht das Coronavirus an sich fürchten müssen, aber ganz anderen Gefahren innerhalb der Pandemie ausgesetzt ist: Menschen mit psychischen Erkrankungen. Aber auch bislang psychisch gesunde Menschen sind einem Risiko ausgesetzt.
Psychische Probleme? Ausnahmesituation? Suizidgedanken? Hier gibt es Hilfe per Telefon!
Beratung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung | 0800 / 2322783 |
Telefonseelsorge | 0800 / 1110111 oder 0800 / 1110222 |
Die Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche | 116111 (Mo-Sa von 14-20 Uhr) |
Die Nummer gegen Kummer für Eltern | 0800 / 1110550 (Mo-Fr von 9-11 Uhr, Di + Do von 17-19 Uhr) |
Info-Telefon Depression | 0800 / 33 44 533 |
Diese Risikogruppe steht jedoch im Schatten, aktuelle Zahlen über beispielsweise vermehrte Depressionen oder Angsterkrankungen tauchen nicht gefühlt jede Stunde auf allen möglichen News-Kanälen auf. Dabei können psychische Belastungen auch zu mehr häuslicher Gewalt führen, die sich oftmals an Frauen und Kindern entlädt. Laut der Diakonie Deutschland lägen für Deutschland zwar keine verlässlichen Zahlen vor, inwieweit die Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus zu mehr häuslicher Gewalt geführt haben. Doch eine repräsentative Umfrage der TU München und des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung spricht eine andere Sprache.
3.800 Frauen in Deutschland zwischen 18 und 65 Jahren wurden online befragt. Die Umfrage wurde wischen dem 22. April und 8. Mai 2020 durchgeführt. Dies sind die Ergebnisse.
Körperliche Gewalt
3,1% der befragten Frauen berichten von körperlichen Auseinandersetzungen mit ihrem (Ehe-)Partner innerhalb des letzten Monats und in 6,5% der befragten Haushalte kam es zu körperlicher Bestrafung eines Kindes (z.B. Ohrfeige, Stoß etc.), wobei hier nicht erfasst wurde, ob die Gewalt von der Mutter oder dem Vater ausging.
Emotionale Gewalt
3,8% der befragten Frauen fühlen sich von ihrem (Ehe-)Partner bedroht, 2,2% dürfen ihr Haus nicht ohne Erlaubnis des (Ehe-)Partners verlassen und von 4,6% der Frauen reguliert der (Ehe-)Partner soziale Kontakte mit anderen Personen.
Sexuelle Gewalt
Auch nach sexueller Gewalt an Frauen wurde gefragt. Jedoch ist davon auszugehen, dass es bei einer direkten Befragung eine Dunkelziffer gibt, die aufgrund von Stigmatisierung und Scham nicht erfasst wird. Aus diesem Grund können keine verlässlichen Zahlen genannt werden.
Dass die allgemeine Dunkelziffer an häuslicher Gewalt während der Coronakrise generell sehr hoch ist, bestätigen laut einer Befragung der Krankenkasse Pronova BKK auch neun von zehn Psychiatern und Psychotherapeuten.
Die 154 befragten Psychiater und Psychotherapeuten gaben zudem häufige Gründe an, die sich während der Coronakrise besonders negativ auf die psychische Gesundheit ihrer Patienten auswirkt. Demnach zählen eine angespannte familiäre Situation, fehlende Rückzugsmöglichkeiten zu Hause sowie finanzielle Sorgen zu den Hauptgründen. Diese Aspekte können unter Umständen auch das Gewaltpotenzial erhöhen. Das bestätigen auch Dr. Cara Ebert vom RWI - Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung sowie Prof. Dr. Janina Steinert von der Technische. Universität München: Die psychische Belastung könne ein weiterer Risikofaktor für häusliche Gewalt sein. Psychologische Beratungen und Therapien sollten daher online angeboten werden und eine niedrigschwellige haben.

Corona und die Psyche: Menschen mit psychischen Erkrankungen leiden an Lockdown-Folgen
Doch häusliche Gewalt ist nicht das einzige Problem infolge der Pandemie-Maßnahmen. Menschen mit psychischen Erkrankungen können extrem an den Folgen der Corona-Pandemie und des Lockdowns leiden. Auch bislang psychisch gesunde Menschen können gefährdet sein, beispielsweise starke Angstsymptome zu entwickeln. Das berichtet die Deutsche Medizinische Wochenschrift. Durch die Pandemie müsse mit einer Zunahme von Angsterkrankungen und -symptomen gerechnet werden. Zudem seien Menschen mit psychischen Vorerkrankungen stärker gefährdet, eine Verschlimmerung oder ein Wiederaufleben ihrer Erkrankung zu erleben oder (andere) Angsterkrankungen zu entwickeln.
„Die Rate an Angst, Depressivität und Erschöpfung hat in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, zugelegt“
„Die Rate an Angst, Depressivität und Erschöpfung hat in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, zugelegt“, weiß auch der Psychiater Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und Leiter des Forschungsbereichs Affektive Störungen der Berliner Charité. „Wir erleben, dass Menschen mit psychischen Vorerkrankungen nach manchmal jahrelanger Stabilität Rückfälle erleiden.“ Der Grund: Soziale Aktivitäten und damit auch Alltagsstrukturen gehen verloren, die eine wichtige Grundlage für seelische Stabilität bilden. „Und aus den Telefonseelsorgen wissen wir, dass Einsamkeit ein wesentlicher Grund für die zunehmende Zahl an eingehenden Hilferufen ist.“ Einsamkeit ist bekanntlich ein großer Stressfaktor für die Psyche. „Und die nimmt im Moment zu“, so Adli.
Corona: Psychische Begleitsymptome werden in Krisenzeiten leichter übersehen
Die Deutsche Medizinische Wochenschrift macht darauf aufmerksam, dass psychische Begleitsymptome in Krisenzeiten leichter übersehen werden und Hinweise auf verdächtige Umstände gerade Patienten, die ihre psychische Krankheit oder deren Symptome verheimlichen wollen, häufiger unbeachtet bleiben. Was kann man dagegen tun, damit sich diese Menschen gesehen fühlen und die nötige Hilfe bekommen?
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung rät zu folgenden Maßnahmen:
Struktur im Alltag
Struktur im Alltag vermeidet Unsicherheit, Hilflosigkeit und Stresssituationen. Aktivitäten für die nächsten Tage sollten geplant und mithilfe einer Liste festgehalten werden. Im Home-Office kann es vielleicht helfen, die sonst üblichen Arbeitszeiten und – wenn möglich – auch die Arbeitsabläufe beizubehalten. Vielleicht ist auch eine virtuelle tägliche Kaffeepause mit den Kollegen als Videochat hilfreich.
Aktivitäten und Gewohnheiten
Aktivitäten und Gewohnheiten, die Spaß machen und genossen werden können, sollten im Tagesanlauf vorhanden sein. Aktivitäten wie Filme schauen, Lesen, Malen oder auch Kochen können helfen. Ausreichend Schlaf und regelmäßige Bewegung an der frischen Luft trägt ebenfalls zum Wohlbefinden bei.
Soziale Kontakte
Auch wenn persönliche Treffen mit Nachbarn, Bekannten oder Freunden derzeit nicht oder nur sehr beschränkt stattfinden können, besteht immer die Möglichkeit, über Telefon, Videochats oder soziale Medien in Kontakt zu bleiben. Austausch und gegenseitige Motivation hilft, mit der derzeitigen Phase gut umzugehen. Es tut zudem gut, auch mal über etwas anderes als Corona zu reden.
Hilfe in Krisensituationen
Menschen, die sich während der Coronakrise psychisch belastet fühlen, finden oftmals Hilfe und Unterstützung bei einer Person ihres Vertrauens. Das können Angehörige, Freunde oder auch andere nahestehende Menschen sein. Wenn diese Unterstützung im persönlichen Umfeld jedoch nicht vorhanden ist oder diese nicht ausreicht, sollten sich Betroffene professionelle Unterstützung holen. Wo es diese gibt, steht am Anfang des Artikels.
Wichtige Anlaufstellen im Falle einer psychischen Belastung oder einer ernsthaften Krise sind natürlich auch Hausärzte/Hausärztinnen, Fachärztinnen/Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Psychotherapeutinnen/Psychotherapeuten. Die Arztsuche der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bietet die Möglichkeit, Ärzte und Psychotherapeuten gezielt nach deren Fremdsprachkenntnissen zu suchen: www.kbv.de/html/arztsuche.php.
Auswirkung der Corona-Pandemie: Experten befürchten mehr Suizide
Aber was ist, wenn das alles nicht hilft und die Gedanken immer trübseliger werden? Viele Menschen fragen sich bestimmt, ob Suizide in Deutschland während der Corona-Pandemie zugenommen haben. Denn selbst Psychiater und Psychologen warnen seit Monaten vor den seelischen Folgen der Pandemie und davor, dass die Zahl der Suizide steigen könnte. Doch ist das Suizidrisiko tatsächlich gestiegen? Antworten hat Ulrich Hegerl, Psychiater und Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Er weist zunächst auf einen wichtigen Punkt hin: Verbreitet sei die Ansicht, die mit dem Infektionsgeschehen einhergehenden Sorgen, Ängste und Belastungen der Bevölkerung könnten für einen möglichen Anstieg der Suizidversuche und Suizide sorgen. „Suizide sind aber keine Freitode“, so Hegerl. „Sie erfolgen vielmehr zu 90 Prozent in Verbindung mit einer negativ verzerrten Weltsicht infolge von Depressionen und anderen psychiatrischen Erkrankungen.“
Corona und die Psyche: Schlechtere Versorgung von depressiv Erkrankten
Und Depressionen, die mit Abstand häufigste Ursache für Suizide, seien eigenständige Erkrankungen und nicht nur Reaktionen auf schwierige Lebensumstände. Das bedeutet eben auch: Letztlich treiben einen coronabedingte Sorgen allein nicht zum Suizid. Es muss schon eine psychische Störung hinzukommen. Derzeit ist es schwierig, an verlässliche Zahlen zu Suiziden zu kommen. Viele Behörden, die Suizide erfassen, haben noch keine Zahlen für 2020. Zudem registrieren die Behörden keine Suizidversuche. Auch wenn bislang erfreulicherweise kein Anstieg der Suizide durch die Corona-Pandemie zu verzeichnen ist, mahnt Ulrich Hegerl zur Vorsicht.
„Es ist davon auszugehen, dass dies zu vermehrten suizidalen Handlungen führt“
Denn das Deutschland-Barometer Depression der Deutschen Depressionshilfe zeigt, dass die Maßnahmen gegen Corona bei mehr als der Hälfte der depressiv Erkrankten zu einer Verschlechterung der medizinischen Versorgung geführt hat. „Es ist davon auszugehen, dass dies zu vermehrten suizidalen Handlungen führt“, so Hegerl.
Coronavirus: Hohe Suizidrate in Japan – Land ergreift besondere Maßnahme
In Japan sieht die Lage schon jetzt weitaus drastischer aus. Dort stieg im Jahr 2020 die Zahl der Suizide in Japan erstmals seit elf Jahren deutlich an — insbesondere bei Frauen. Das berichtet „Business Insider“. Im Oktober 2020 gab es in Japan sogar mehr Suizidfälle als die Gesamtzahl der Covid-19-Todesfälle bis zu diesem Zeitpunkt des Jahres 2020. Laut der nationalen Polizeibehörde gab es 2.153 Suizide im Oktober 2020 und insgesamt 1.765 Todesfälle aufgrund des Virus bis Ende Oktober 2020. Um der alarmierenden Selbstmordrate entgegenzuwirken, hat sich Japan für eine besondere Maßnahme entschieden: Im Land gibt es nun einen „Minister für Einsamkeit“. Dieser soll umfassende Maßnahmen auf den Weg bringen, damit suizidgefährdete Menschen schnellstmöglich Hilfe bekommen.
Bereits 2018 bekam Großbritannien die erste Ministerin für Einsamkeit weltweit – auch ohne Corona. Der Beweis, dass Isolation auch schon vor Corona eine bedeutsame Rolle spielte, die niemals zu unterschätzen war, aber nicht immer genügend Beachtung bekam.
Corona und die Psyche: Positive Lehren aus der Pandemie
Trotz alarmierender Zahlen und vieler Menschen, die großen psychischen Belastungen oder gar Gewalt ausgesetzt sind, gibt es Hoffnung und einige positive Lehren, die wir aus der Pandemie ziehen können. Das sagt zumindest das Institut für Kommunikation und Gesellschaft. Demnach sollen wir nach der Krise Dinge, die wir bisher für selbstverständlich hielten, wieder mehr schätzen. Und vielleicht sogar deutlich mehr Dankbarkeit für verschiedene Dinge und Menschen haben, da wir die Erfahrung ihrer Nichtselbstverständlichkeit als gesamte Gesellschaft gemacht haben.
Die kollektive Hygiene wird sich deutlich verbessert haben. Wir werden viel stärker ein Bewusstsein für die grundlegende Verletzlichkeit der schwächeren Mitglieder in unserer Gesellschaft haben. Ebenso soll das erfolgreiche Überstehen einer Krise die Resilienz (Anm. d. Red.: psychische Widerstandskraft) stärken, was uns langfristig durchaus zufriedener machen kann. Wir können auch als Gesellschaft an einer solch existenziellen Krise wachsen. Dennoch bleibt ganz klar festzuhalten: Für die psychische Gesundheit überwiegen die negativen Folgen der Coronakrise deutlich.
Corona und die Psyche: Menschen abseits der eigentlichen Infektion müssen in den Fokus
Und genau das sollte viel öfter an die Öffentlichkeit gelangen. Es ist gut und wichtig, dass alle erfahren, wie viele Menschen an oder mit Corona sterben, wie viele auf Intensivstationen beatmet werden müssen oder gar um ihr Leben kämpfen, um das Ausmaß der Pandemie für jeden Einzelnen greifbar zu machen. Doch es muss auch viel stärker in den Fokus gelangen, wie viele Menschen aufgrund von Existenzängsten an Selbstmord denken, wie viele Menschen Opfer von Gewalt werden und nicht mehr weiter wissen. Wie viele Menschen während des Lockdowns keine angemessene therapeutische Unterstützung bekommen. Letztendlich können wir alle zum Risikopatienten werden, selbst wenn wir vor dem Coronavirus selbst keine Angst haben müssen. * kreiszeitung.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.
Kommentar von Mara Schumacher: Therapieplätze waren auch vor Corona kaum zu kriegen
Jeder, der selbst schon mal auf der Suche nach einem Therapieplatz war, weiß, wie zermürbend diese Suche sein kann. Denn Psychiatrien und Therapeuten waren auch schon vor Corona überlastet – Wartezeiten von einem Jahr und länger sind keine Seltenheit.
Seit Monaten wird davor gewarnt, dass Intensivstationen überquellen werden mit Patienten, die schwer an Corona erkrankt sind. Doch warum wird auch nicht mal stärker in den Fokus gerückt, wie überlaufen die Therapieangebote für psychische Erkrankung sind? Und das nicht erst seit Corona. Dass es Menschen gibt, die der Lockdown fertig macht, die zuhause sitzen und nicht mehr weiter wissen. Die sofort Hilfe brauchen und nicht erst in einem Jahr. Manchmal wirkt es so, als habe man all jeden, die zwar nicht an Corona erkranken, aber dennoch an den Auswirkungen des Virus enorm leiden, einfach vergessen. So nach dem Motto: „Ach, die werden schon irgendwie klarkommen.“ Aber das tun viele eben nicht.
Dabei geht es nicht nur um Menschen, die sowieso schon psychisch krank sind, sondern vor allem auch um Menschen, die während der Corona-Pandemie vielleicht zum ersten Mal mit Themen wie Angst, Einsamkeit und Depressionen in Berührung kommen. Es ist nicht unrealistisch, dass bald Psychiatrien aus allen Nähten platzen, Therapeuten genauso am Ende sind wie es das Pflegepersonal auf Covid-Stationen schon jetzt ist. Doch darauf wird kaum aufmerksam gemacht.