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Drei Gänge Spanien: Das Menú del Día gestern und heute

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Von: Marco Schicker

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Restaurant in Finestrat
Spaniens Menú del día: Vom Touristenschreck zur Betriebskantine. © Ángel García

Das Menú del Día, das Tagesmenü, ist in Spanien eine nationale Institution, so typisch und unverwüstlich wie die Siesta. Kleiner Leitfaden zu einem hartnäckigen Stammgast.

Madrid - Weder der bezahlte Urlaub, noch die öffentliche Bildung, nicht die Stauseen und auch nicht die allgemeine Krankenversorgung sind Erfindungen Francos, auch wenn sich diese Legenden in Teilen des kollektiven Bewusstseins hartnäckig halten. Das Menú del Día aber, das Tagesmenü der Restaurants, so wie es uns heute noch an jeder Ecke begegnet, ist tatsächlich eine Erfindung des Franquismo. Und es scheint so unverwüstlich wie die Franco-Nostalgie. Schmeckt aber besser. Und ist gesünder.

Seit Anfang der 60er Jahre war Spanien sehr bemüht, den aufkommenden Massentourismus, der im westlichen, demokratischen Europa eine Folge des Nachkriegsaufschwungs war – in Deutschland Wirtschaftswunder genannt – möglichst gewinnbringend auszunutzen und zu fördern. Vom großen Kuchen wollten der Caudillo und seine Günstlinge die größten Stücke.

Menú del día: Spaniens Tagesmenü begann als Stiefkind des Amtsschimmels

Francos Spanien konnte Devisen dringend brauchen, denn war man auch nicht gänzlich isoliert und hatten viele ausländische Unternehmen keine Berührungsängste mit der Diktatur, hing das Land in der industriellen Entwicklung doch deutlich hinter dem Rest des westlichen Europa zurück. Die schwache Peseta war ein Standortvorteil, Meer und Sonne sowieso und so versuchte sich Francos Tourismusminister Manuel Fraga Iribarne an einer Kampagne, unter dem damals eher unheimlich klingenden Motto „Spain is different“, Spanien ist anders. Sozusagen das ¡Arriba España! für den ausländischen Gast.

Alicantes Stadtstrand Postiguet.
Alicantes Stadtstrand Postiguet war schon in den 60er Jahren eine überfüllte Problemzone. Mit den Touris kamen auch die Touristen-Menüs. © Ayuntamiento Alicante/Cristina Martínez

Von 1959 bis 1965 vervierfachte sich die Zahl ausländischer Besucher fast, von 2,9 auf über elf Millionen (2019 waren es 85 Millionen und 2022 werden es vielleicht wieder so viele Touristen), auch gab es erste Residenten-Ansiedlungen. Minister Fraga führte 1964 zunächst das „Menú turístico“ ein, verpflichtete jedes Speiselokal, zur Mittagszeit eine Vorspeise oder Suppe, sodann einen „Teller mit Fisch, Fleisch oder Eiern mit Garnierung“, wie es im Gesetz hieß sowie ein Dessert oder Früchte, etwas Süßes oder Käse anzubieten. Dazu war Brot zu reichen und ein Viertel Liter „Landeswein“ einzuschenken, auch Bier, Sangría oder ein anderes Getränk waren erlaubt.

Weiterhin wurde vorgeschrieben, dass „dieses Menü gut sichtbar“ sein müsse, „mit maximaler Bevorzugung und Schnelligkeit zu servieren“ sei und „die spanische Küche“ repräsentieren solle. „Paella, Madrider Eintopf, spanische Tortilla, gut frittierter Fisch und andere Gerichte, die Spanien im Ausland bereits großen Ruhm bereiten“, wurden den Gastwirten vom Minister anempfohlen.

Die Lokale sträubten sich, den Gast mit einer Rechnung von 35-40 Peseten, nach heutigem Äquivalent etwa 6 Euro, satt davonkommen zu lassen. Zwar hängte man pflichtschuldig die Menüs raus, riet dem Gast aber ab oder servierte Miniportionen, damit er nachbestellte. Auch Zuschläge für hochwertigere Ware trickste man ins Kleingedruckte. Das Ministerium besserte noch im gleichen Jahr nach und zwang die Lokale, in die Menüs Gerichte aus der Standardkarte aufzunehmen, gestattete ihnen aber höhere Preise, je nach Kategorie von 50 bis 250 Peseten.

Dennoch blieb das Tagesmenü zunächst ein ungeliebtes Stiefkind der Wirte. Die Zeitung ABC resümierte 1967, dass viele Restaurants das „Touristen-Menü mit einer Armenspeisung verwechseln. Dabei soll es doch ein von der Administration geschütztes Menü zum Festpreis sein, das sich der Gast selbst zusammenstellt“. Ein Gastrokritiker wagte sogar zu schreiben: „Zwei Wochen Menú turístico bedeuten den Hungertod mit Ansage.“ Der US-Schriftstellers James A. Michener beklagte 1971, dass man ihm 29 Speisen als Optionen für sein Menü vorlegte, von denen aber 26 mit einem Zuschlag belegt wurden. „Für den staatlich festgelegten Preis bot man mir nur zwei Suppen, einen billigen Fisch und nicht einmal ein Dessert an.“

Ende für Preisdiktat und bürokratische Kochbücher: Spaniens Tagesmenü im Wandel

Besonders übel ging es in den touristischen Zonen zu. Nicht nur aus Gier der Wirte, sondern auch, weil Auswanderung wie innerspanische Migration dazu führten, dass an den Herden meist schlecht oder gar nicht ausgebildete „Köche“ standen. Der Reisebericht Micheners befand, dass „ich während meines zweijährigen Aufenthaltes in Spanien nicht eine gute Paella vorgesetzt“ bekam. Mit dem Flamenco ging es ihm genauso, „man muss scheinbar zur richtigen Zeit am richtigen Ort“ sein, so sein Resümee.

In den 70er Jahren lockerte man die Vorschriften, das obligatorische Menú turístico wurde in Menú del Día umgetauft und die Lokalbesitzer erhielten mehr Freiheiten. Das führte allerdings schnell dazu, dass viele Wirte aus Bequemlichkeit und vermeintlicher Gastfreundschaft auf „internationale Küche“ umstellten.

Anders war das in den ländlichen Gegenden ohne viel Fremdenverkehr, denn hier konnte man den Leuten nicht einfach eine ausgetrocknete Hühnerbrust und ein paar Pommes mit Ketchup hinstellen. Und so bewahrten Dorfgasthäuser und -bars die traditionelle ländliche Küche, die ihrer Natur nach sparsam war, während die spanische Küche entlang der Mittelmeerküste immer mehr vom Aussterben bedroht war. „Full English Breakfast“ rund um die Uhr oder „Schinkenstraßen“ übernahmen die Macht, noch bevor auch die Fast-Food-Ketten ihren Tribut einforderten.

Aufsteller vor Restaurant in Spanien.
Die Gäste sind umkämpft, mit dem Tagesmenü wollen die Restaurants sie anlocken. © Pixabay

Der Niedergang der spanischen Küche durch Massentourismus und staatliche Obstruktionen wurde sogar internationales Thema. Schon 1976 fand in Madrid der erste Runde Tisch der Gastronomie statt. An dem saßen mit Raymond Oliver und Paul Bocuse Kardinäle und sogar der Papst der Nouvelle Cuisine, aber auch junge spanische Köche wie Juan Mari Arzak und Pedro Subijana, Wegbereiter des Ruhmes einer innovativen, ambitionierten spanischen Gastronomie. Von diesen Experten ging die Mahnung aus, man solle die Gastronomen ihre Speisekarten und Preise selbst gestalten lassen, der Kunde, also der Markt, würde für Regulierung sorgen.

Doch erst 1981 fielen Preisdiktat und bürokratisches Korsett. Die EU erzwang ab 2006 zudem, dass der Tourismus Ländersache wurde. Interessanterweise hat das verpflichtende Tagesmenü in den Autonomen Regionen Aragón, Asturias und Navarra bis heute für Restaurants der einfachsten Kategorie Bestand, in allen anderen Regionen ist es Sache der Restaurants. Wird es angeboten, müssen nach wie vor einige Grundbedingungen erfüllt werden, die direkt auf die Franco-Direktiven zurückgehen.

Auch Götter können irren: Als Ferran Adrià das menú del día für tot erklärte

Die Tagesmenüs, nun in Freiheit, gingen verschiedene Wege. Doch interessanterweise hält sich das Menú del Día bis heute von der kleinsten Bar bis zum Nobelschuppen. Ja, es erlebte sogar einen ziemlichen Aufschwung und man kann es für 5 Euro oder bis an die 200 Euro bekommen, mit den gleichen Genüssen und Enttäuschungen wie bei seiner Einführung. Ferran Adrià, die Ikone der spanischen Küchen-Avantgarde, hat das Menú del Día 2009 beim Gastronomika-Kongress in San Sebastián für tot erklärt. 2011 schloss sein „El Bulli“, das übrigens, wie die meisten Sterne-Restaurants, auf fixe Degustations-Menüs setzte. Doch das Tagesmenü „de toda la vida“ ist quietschfidel. Auch Götter können irren.

Bis zum letzten Chupito: Spaniens Tagesmenü als ausgelagerte Betriebskantine

Neben den Touristen sorgten in der Folge vor allem Spaniens Arbeiter mit der Hilfe des Finanzamtes dafür, dass ein gutes, schnell serviertes, mehrgängiges und preisgünstiges Menü in Mode blieb. Bis zu 11 Euro pro Tag und Angestelltem kann ein Unternehmen als Lohnzusatzleistung für Speisen ausreichen, ohne dass dafür Sozialabgaben oder für den Arbeitnehmer zusätzliche Lohnsteuern anfielen. Das summiert sich bei maximaler Auskostung auf eine Zusatzleistung von bis zu einem Monatsgehalt pro Jahr und erspart der Firma auch eine teure, eigene Kantine. Die Promotoren dieser Cheques de restaurante werben mit „motivierten Angestellten“. Der Staat finanziert damit indirekt die Gastronomie mit Millionenbeträgen. Er könnte auch die Steuern senken und die Entscheidung den Menschen überlassen.

Nicht zufällig hat sich so der Durchschnittspreis für das Menú del Día auf 11 Euro (2016: 11,64 Euro laut einer Umfrage von „El Mundo“ in ganz Spanien) eingependelt. Die Wirte vor allem in den Gewerbegebieten oder den Büro-Vierteln der Städte können mit fester Klientel rechnen, stabil kalkulieren. Nur qualitativ tricksen oder quantitativ nachlassen, das können sie hier nicht so einfach, denn der Spanier im allgemeinen und der arbeitende im Speziellen ist beim Restaurantbesuch sehr anspruchsvoll, manchmal bis an die Grenze des für den Wirt Erträglichen.

Die geringen Einkommen gewöhnten ihn daran, aus jedem Lokalbesuch das Optimum herauszuholen. Damit die Bauarbeiter nicht zum Konkurrenten abwandern, muss sich der Wirt einiges einfallen lassen und so kann auch der Tourist in jenen Lokalen profitieren, wo viele Blaumänner zusammen sitzen. Hier sind die Portionen stattlich, die Rezepte oft von der Großmutter, der Wein von erster Güte, gibt es vor den zwei Gängen noch einen Salat, nicht Kaffee oder Dessert sondern und – sowie gerne noch den chupito hinterher. Die ausgedehnte Siesta in Spanien ist eine zwangsläufige Folge.

Die hohe Kunst des Wirts: Wie ein Tagesmenü schmackhaft wird aber billig bleibt

Ganz ähnlich sieht es in den bares del barrio, also den Kietz-Lokalen aus. Die Küche ist einfach, der Wirt macht sich nicht groß die Mühe, das Menü erst anzuschreiben, ein kleiner Zettel tut es auch. Denn hier greift ein weiterer Aspekt: Wie rechnet sich ein Menü für 9 Euro, inklusive Getränk, Kaffee, Brot überhaupt? Es ist die hohe Kunst der Ressourcenoptimierung. Resteverwertung könnte man auch sagen.

callos in einer bar in alicante.
Die von oben angeordneten Tagesmenüs hatten Spaniens traditionelle Küche fast verdrängt. Heute sind die menús del día ihre Rettung. © Marco Schicker

Es sind Essays darüber geschrieben worden, wie die Küchen-Liturgie des Menú del Día abzulaufen habe. Dass man in guten Lokalen montags keinen Fisch serviert, es da auch keine Bohnen gibt, weil Sonntag geschlossen war und man sie daher nicht die Nacht vorher einweichen konnte. Paella hingegen ist das Paradegericht für den Wochenbeginn, – wenn der Wirt die Stirn hat, die Reste vom Familiensonntag aufzutragen. Ansonsten gibt es die Paella eher am Donnerstag, in der man die Gemüse- und Fleischschnipsel der Produkte der Woche verarbeitet. Und warum soll es die Linsensuppe von gestern nicht morgen als Beilage geben, wo sie doch nachgezogen so viel besser schmeckt?

Schweres Geschäft: Gewinne mit Tagesmenüs machen wenige Lokale in Spanien

Ein lohnendes Geschäft wird es dennoch selten. Ein durchschnittlich großes Restaurant muss über 40 Menüs verkaufen, damit es beginnt, Geld zu verdienen. Sonderwünsche wie gespritzter Wein, Rentnerportionen zum halben Preis, mehr Zeit zwischen den Gängen, laktose- und glutenfreie Alternativen, Gäste, die glauben, sie hätten für 9 Euro pro Person Lokal und Personal mit erworben und andere Extras töten Gewinnmargen wie Nerven. Für viele Wirte ist das Menü eine Pflichtübung, der man nachgeht, um den Umsatz nicht abwandern zu lassen und die Gelegenheit nutzt, Werbung für das Lokal zu betreiben.

Tages-Menü mit sozialen Beilagen: Solidarische Esser

Es gibt allerdings im Land mit einer der höchsten Lokaldichten der Welt auch noch andere Aspekte. Die Bar ums Eck ist sozialer Treffpunkt. Hier kommen Kinder aus der Schule vorbei, sitzen Alte über der Zeitung und im Gespräch und wirklich gute Wirte verkaufen ihr Tagesmenü zu späterer Stunde sogar günstiger, für jene, die sich den vollen Preis nicht leisten können. Ganz anders sieht es in den Touristenzonen aus. Über weite Strecken herrschen hier immer noch Unsitten wie in den 60er Jahren. Millionen von Billigtouristen und Residenten – ob aus Großbritannien oder Deutschland macht hier keinen großen Unterschied –, gemeinsam mit vielen unqualifizerten, allein auf die Rendite schielenden Wirten, halten die Qualität erfolgreich in Schach.

Angeboten wird dann entweder schlechte internationale oder noch schlechtere spanische Küche: Paellas, für die man im valencianischen Hinterland gesteinigt würde, Fische aus Mastanlagen werden als „de la bahía“ beworben, All-You-Can-Eat-Orgien beim Chinesen und endlose Karten mit mehr oder weniger durchgehend frittierter Ware. Meist taugt beiden Parteien, was ein paar Bedingungen erfüllt: Es soll schnell auf dem Tisch stehen, satt machen und billig sein. Mehr zu Spaniens Touristenfallen.

Sonne und Meer nicht genug: Spaniens Gastronomie strebt zurück zu den Wurzeln

Es stimmt auch, dass sich in den vergangenen Jahren entlang der Küste einiges zum Guten verändert hat. Spitzenlokale eröffneten, aber auch viele einfachere Restaurants haben erkannt, dass viele Ausländer der wirklichen spanischen Küche gar nicht so abhold sind. Das ist sicher auch Residenten zu danken, die länger als nur einen Sommer bleiben, dem generellen Kulturaustausch eines reisefreudigen Europas, aber auch der ausländischen Konkurrenz. Spanien muss sich jedes Jahr aufs Neue strecken, denn das „Spain is different“ münzt sich nicht von alleine um. Neugier, etwas Spürsinn und Offenheit, ein Quäntchen Glück und viel Gelassenheit sind die Schlüssel, nicht nur für drei schmackhafte Gänge Spanien im Restaurant, sondern zum Land insgesamt.

Zum Thema: Spaniens Siesta - Ein ganzes Land im Schlummermodus.

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