Fleischbällchen aus Spanien mit besonderer Geschichte und Würze - Rezept zu Albóndigas

In Al-Ándalus waren die albóndigas das beliebteste Street Food. Noch heute findet man sie in jeder Bar in Spanien. Wie sich die iberischen Frikadellen über die Jahrhunderte gewandelt haben und was in ihnen steckt - oder stecken sollte.
- Über die Römer und die Mauren gelangten die Fleischbällchen als albóndigas nach Spanien und behielten ihren arabischen Namen.
- Mit Borretsch oder auf russische Art: Spanische Köche aus vielen Jahrhunderten dokumentieren vielfältige Rezepte für Arm und Reich: Versuchen Sie unsere „Mutter aller Rezepte“.
- Die albóndigas gibt es in Varianten weltweit, von Wan-Tan in China bis kötbollar in Schweden.
Madrid - Die kleinen Fleischbällchen mit den vielen Namen, in Spanien albóndigas geheißen, gehören mit der Ensaladilla rusa und den Patatas bravas zur kulinarischen Dreifaltigkeit der spanischen Bar, zu einer der beliebtesten Tapas der Spanier. Sie sind praktisch immer verfügbar, weil man sie relativ verlustfrei einfrieren und dann mit einer schnell angerührten Tomatensauce „frisch“ in die Vitrine stellen oder pur zum Picknick am Strand mitnehmen kann.
Daher werden die kleinen wehrlosen Bällchen auch in Spanien fast so oft verhunzt wie sie angeboten werden: Ersäuft in tomate frito oder gar in lieblos zusammengerührtem Tomatenkonzentrat und Erbsen aus der Dose, wird nicht selten billiges, verwässertes Fleisch verwendet und mit Unmengen an Bröseln zusammengepappt. Gewürze dienen weniger der Verfeinerung als der Desinfektion und Camouflage und die Konsistenz changiert munter zwischen Fels und Brei. Wirte und Köche, denen es nicht egal ist, was ihre Kunden essen, zaubern hingegen kleine, saftige Kunstwerke in die Tonschälchen, in denen man die albóndigas üblicherweise in Spanien serviert.
Fleischbällchen machen Karriere: Albóndigas von Apicius' Rom bis Al-Ándalus

Auf der Suche nach dem Ursprung der Affinität der Spanier für dieses weltweit verbreitete Gericht machen wir zunächst beim Urvater der abendländischen Kochkultur halt, denn wie alle Straßen führen auch fast alle Töpfe nach Rom. Marcus Gavius Apicius beschreibt in seinem Hauptwerk „De re coquinaria“, „Von der Kochkunst“, die Zubereitung von Fleischbällchen im kaiserlichen Rom vor genau 2.000 Jahren mit dem Fleisch von Kaninchen, Rind, Huhn, Schwein und sogar Pfau.
Apicius dokumentiert, dass sich an der Grundzubereitung seit Lukullus‘ Zeiten nicht viel geändert hat: fein gehacktes Fleisch, eingeweichtes Brot, Gewürze nach Geschmack und Mode und in Salzwasser ziehen, bis die Bällchen oben schwimmen.
Je heißer die Gegend war, desto häufiger bevorzugte man das Braten oder Frittieren in Öl, das ist auch die Version, die als erste in Spanien auftaucht. Nicht mit den Römern, sondern mit den Mauren kommend, die sie aus arabischen Landen mitbrachten, die dieses Gericht ihrerseits von Nomaden übernommen hatten. Der Spanier hat die Rezepte der Mauren weniger treu behandelt als das Wort selbst: al-búnduqa benennt im Arabischen die Kugel und aus dem 13. Jahrhundert ist bereits der Straßenverkauf der albóndigas in Al-Ándalus überliefert: Street food würde man heute sagen.
Bouletten als Privileg der Reichen?
Zusammen mit den Lammwürstchen, merguez, waren sie das beliebteste Fast Food in Al-Ándalus, nicht nur der Moslems, sondern auch der Juden und der Christen, die jeweils ihre eigenen Rezepte entwickelten. Schon damals gab es Beschwerden: „Sie verkaufen das Fleisch von heute zusammen mit dem von gestern, vermischen Gedärm und Fett und wenn es sonst für alles einen muhtasib (Marktaufseher) gibt, hier schaut er weg“, beklagt sich der irakische Gelehrte Al-Saqati vor 800 Jahren in Granada, als wäre er gerade gestern in Benidorm essen gewesen.
Ibn Razin al-Tuyibi, der Rechtsgelehrte und Berufsgourmet – mitunter eine hilfreiche Kombination –, geboren 1227 in Murcia, beschreibt in seinem Werk über die Ess- und Zeremoniengewohnheiten im Taifa von Murcia zudem einen sozialen Aspekt, den man heute in Zeiten des industriellen Billigfleisches aus den Augen verloren hat: Das Fleischbällchen war lange ein Privileg der oberen Schichten, denn es war reinstes, feines Fleisch, was dabei verwendet wurde.
Reste aus Töpfen kratzen: Vom Hof zum Hinterhof
Und übrigens stand auch Fisch ganz oben auf der Zutatenliste der Festmahle von Al-Ándalus. Als bolinhos de bacalhau in Portugal oder buñuelos de bacalao in Andalusien schafften es die Rezepte bis ins Heute, wobei hier die Grenze zu den croquetas, einem anderen kulinarischen Reichsinsignium der Spanier, schon verschwimmen. Die Resteverwertung der Armenküche á la cocido con pelotas oder fasegures allerdings, wo der Bodensatz des Eintopfs zu Fleischbällen aufgepeppt wird, lässt sich erst im bäuerlichen und bürgerlichen Spanien der christlichen Ära nachweisen.
Die aus Al-Ándalus überlieferten Rezepte, die in Nordafrika – vor allem in Marokko, dem bescheidenen Asyl dieser großen Epoche – lebendig blieben, verschmolzen dort mit Traditionen der Berber, aber auch der Juden sowie späterer Zuwanderer aus dem arabischen Raum und sogar aus Indien. Als die Quersumme von Al-Ándalus und vom Goldenen Zeitalters Spaniens in einer kleinen Kugel vereint, ließe sich dieses Rezept, sozusagen die Mutter aller albóndigas, behaupten:
Die Mutter aller Albóndigas: Ein Rezept als Fusion von Geschichte und Gegenwart

Zutaten: Auf 500 Gramm durch den feinen Wolf gedrehtes (lassen Sie das den Metzger machen), nicht zu mageres Lammfleisch, kommen ein Ei und 3-4 Esslöffel Mandelmehl. Gewürzt wird mit 2-3 sehr klein gehackten Knoblauchzehen und einer Frühlingszwiebel oder Knoblauchtrieben (ajo tierno), etwas comino (Kreuzkümmel), Gelbwurz (cúrcuma) wenig Salz (Tipp: noch weniger Salz, dafür ein Schuss Sojasauce oder für die mutigen zwei zerstoßene Anchovis-Filets, die das römische Garum imitieren) und Pfeffer, etwas Muskat und wenig Chilipulver, noch besser eine frische Chilischote und eine winzige Spur Zimt. Für die besondere Note fügen wir rund 50 Gramm grob gehackte, geröstete Pinienkerne, und einen halben Teelöffel Honig dazu sowie reichlich klein gehackte Petersilie, frischen Rosmarin und frischen Koriander nach Gusto.
Auch Korianderhasser sollten auf ihn nicht verzichten. Die frischen Korianderblätter kurz in Öl frittieren nimmt ihnen das Aufdringliche oder was diese Banausen als seifig beschreiben, das eigentlich nur entsteht, wenn der Koriander zu alt ist oder lange aufeinanderliegt und zu schwitzen beginnt. Wichtig: Das Fleisch ist die Hauptzutat, der Geschmack kommt von dort, die Gewürze sind nur Einsprengsel, die Farbe geben.
Am Schluss wird alles gut mit rund 150 Gramm in Milch eingeweichtem, ausgedrücktem Brot und einem Ei (oder zwei Eigelb) vermengt, am besten weißes Landbrot, gern mit Kruste. Die Milch gibt der Masse nicht nur einen samtigen Touch, sondern wir spekulieren beim Braten auch auf einen leichten Karamell-Effekt des Milchzuckers. Eine halbe Stunde im Kühlschrank ziehen lassen.
Keine Tomate frito, niemals
Zubereitung: Zum Formen unserer al-bóndigas rufen wir unsere 5- bis 8-jährigen Kinder, deren Hände haben nämlich die perfekte Größe (4 cm Durchmesser) und Sanftheit und außerdem können sich die Bälger auch einmal am Tag nützlich machen.
Vom Frittieren halten wir wenig. Das mittelheiße Braten in gutem Olivenöl, je drei Minuten von jeder Seite bei abfallender Hitze, gibt uns nämlich die Chance, in selbiger Pfanne mit getrockneten und frischen Tomaten und einer eingeweichten Trockenpaprika noch eine feine Sauce á la Neue Welt nachzuschwitzen, zu pürieren und die albóndigas, die nun rund 15 Minuten Zeit hatten ihre in Hitzewallungen versetzten Säfte zu sortieren, darin fertig zu ziehen, ohne sie nochmals zu kochen.
Kein tomate frito, kein Tomatenkonzentrat. Wirklich niemals. Sollten Sie über hausgemachten sugo di pomodoro auf Art der italienischen nonna verfügen, dann bitte.
Mit der Albóndiga durch die Jahrhunderte
Nach den frühen Zeugnissen der Römer und Mauren arbeitet sich die albóndiga im iberischen Raum durch die Jahrhunderte: Ein Rezept der Prinzessin María de Portugal aus dem 16. Jahrhundert, wo Lamm oder Schwein als Hauptzutat genannt werden, erwähnt „ein geschlagenes Ei und etwas Mehl“. Die Masse lässt Ihre Hoheit in Schweineschmalz (manteca) frittieren und serviert sie in einer stark gewürzten deftigen Brühe.
Ein Jahrhundert darauf, in der Zeit des Cervantes, scheinen 1607 im „Buch der Kochkunst“ des Hernández de Maceras Varianten mit Spinat und Speckwürfeln auf, die wiederum in Brühe zu kochen sind. Maceras war übrigens Küchenchef in der Professorenmensa des Colegio Mayor de Oviedo, das zur ruhmreichen Universität von Salamanca zählte.
Francisco Martínez Montiño wiederum, Küchenchef beim frugalen König Felipe II. arbeitete gerne Gemüse aus dem Ebro-Tal in die Masse, kochte diese im Sud der Kichererbsen und kreierte die „albondiguillas de borraja“, mit Borretsch (auch Gurkenkraut genannt), einem völlig zu Unrecht vergessenen Kraut, das von den Mauren übrigens als abu r-rach (Vater des Schweißes) medizinisch genutzt wurde.
König Carlos III. war im 18. Jahrhundert ein großer Freund der Jagd. Bei ihm wurden die Bällchen aus Fasanen und Rebhühnern gestrickt, während die Untertanen die Reste von ihren Topfböden kratzten und sie zu Bällchen zusammensetzen.

Die Jesuiten hielten Anfang des 19. Jahrhunderts mehrere Fleischbällchen-Rezepte fest. Sie konstatierten schon damals die Beliebtheit des Pulvers der Ñora-Paprika in der Region um Murcia, das man auch heute der Fleischmasse dort noch beimengt. Die legendären Madrider Straßenküchen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verkauften albóndigas neben den berühmten callos, den Kuttelflecken.
Russisches Boulette: Fleischige Liebesgrüße aus Sankt Petersburg
Die gehobenen Lokale der spanischen Hauptstadt servierten die Albóndigas Anfang des 20. Jahrhunderts als „bitoques à la russe“ oder filetes rusos oder bitoques rusos, die als Exilanten aus dem abgebrannten Russland der Zaren über Westeuropa kamen. Es handelt sich um eine einzige Orgie aus Rindfleisch und vor allem Butter und der fetten Sauercreme Smetana. In der russischen Heimat heißen die Fleischbällchen bis heute kotletkji, in alten Speisekarten aus Madrid findet man sie so auch als chuletitas rusas, also russische Kottlettchen wörtlich übersetzt.
Der Franquismo wollte das bolschewikische Russland, wie schon bei der Ensaladilla rusa, auch bei den filetes rusos aus den Speisekarten tilgen. Der Salat sollte in ensalada nacional umbenannt, die Edel-Albóndiga als „imperial“ oder gar als „alemán“ bezeichnet werden. Der politischen Spielchen, aber nie der Fleischbällchen satt, blieben bis heute die albóndigas caseras, also nach Art oder Ausrede des Hauses, der Renner in Spanien – am besten, wie schon erwähnt, praktisch im eigenen Saft serviert.
1.001 Fleischbällchen: Weltweite Artenvielfalt
Besieht man sich die großartige Karriere der albóndiga in Spanien, ist die Gegenwart des Fleischbällchens in der Vitrine der Bar an der Ecke meist eher ärmlich, während sie in Großmutterns Küche noch immer Triumphe feiert. Denn in ihr steckt so viel Potential – wenn man nur das richtige in sie steckt und sie liebevoll behandelt. In der gehobenen Küche versuchen sich Küchenmeister immer wieder an Versionen mit Trüffeln, Seeteufel, Avocado oder Algen, die vegane Küche hat ihre Favoriten von Kürbis bis Kichererbsen (als Falafel auch ein uraltes Rezept) gefunden.
Weltweit ist die Artenvielfalt kaum fassbar: In der Türkei gibt es Dutzende Rezepte rund um die köfte. Die Italiener lieben ihre polpette ebenfalls, würden sie aber nie in die Pasta werfen. Die Pasta with meat balls tischten die Italo-Amerikaner hingegen ihren US-Nachbarn auf, um sie über die vage Ähnlichkeit mit Burgern wenigstens etwas an vernünftige Küche heranzuführen.
In Schweden sind die kötbollar nicht aus der IKEA-Küche wegzudenken, in den Niederlanden serviert man die bitterballen mit Honigsenf. In Russland heißen sie, wie oben erwähnt, kotletkij und im asiatischen Raum gibt es sie in Teig über Dampf oder in der Suppe, zum Beispiel als Dim Sum oder Wan Tan.
Vom Klops zum Küchle: Deutschsprachige Varianten
Oder denken wir an die sprachliche Vielfalt und Versionen im deutschsprachigen Raum: Frikadellen, Bratklopse, Bouletten, altbayrische Fleischpflanzerl oder -laberl, österreichische Faschierte Laibchen, fränkische Fleischküchle bis zu Königsberger Klopsen oder dem Sarg jedes Gehackten, dem Hackbraten oder Falschen Hasen.
Probieren Sie sich ruhig aus und zeigen Sie etwas Mut. Gute Zutaten und etwas Geschmack verwandeln dieses einfache Gericht in einen Schmaus. Egal, ob sie wie ein granadinischer Sultan auftafeln wollen, oder die albóndigas in die Tupper-Dose stecken, um sie beim Strand-Picknick zu verspeisen, Sie halten immer eine kleine, kulinarische Weltkugel in der Hand.