Im Sommer nämlich wird die spanische Gastronomie zur Schlacht am kalten wie warmen Buffet: Es entsteht ein gefährlicher Dreikampf zwischen 1. gestressten Urlauberfamilien, die nach einem langen Strandtag die lieben Kleinen schnell füttern müssen, aber doch nicht ganz auf „typisch Spanisches“ verzichten wollen, 2. Einheimischen, die Personal und Geduld in Beschlag nehmen und noch das Letzte für sich aus einem Restaurantbesuch herauszuholen versuchen und 3. offenbar von jeder amtlichen Aufsicht und inneren Hemmung befreiten Wirten, die in der Hochsaison den Umsatz für das ganze Jahr einfahren wollen – 2021 sogar für zwei Jahre, denn bekanntlich fiel das vorige Corona zum Opfer.
Touristen teilen nicht das Privileg unserer hier lebenden Leser, der ausländischen Residenten, die sich in vielen Jahren zu ausgebufften Experten entwickelt haben, wie man Touristenfallen erkennt und umschifft. Sie haben längst eine Liste von erprobten Lieblingslokalen für alle Gelegenheiten, sind mit Pepe oder Manolo auf Du und Du und können sich – zum Teil – sogar in der Landessprache verteidigen. Daher hier ein paar Tipps und Hinweise für Spanien-Anfänger, wie man sich die Suppe nicht versalzen lässt und Spanien ohne bitteren Nachgeschmack erlebt, ohne sich mit billigem Sangría-Fusel und trockenen Hühnerbrüsten zum Preis von Langusten abfinden zu müssen. Das Ziel ist nicht, Sterneküche zum Discount-Preis herauszuschlagen, das Ziel sei, ehrliche Küche aufzuspüren, Lokale, bei denen Anspruch und Wirklichkeit zusammenpassen. Bekanntlich kann eine Pommes-Bude im Ruhrpott ein Tempel sein, so wie frittierte Fische eine Offenbarung an der spanischen Küste.
Und da stehen wir schon vor dem ersten Dilemma. Denn natürlich will der Spanien-Urlauber nicht in der kleinen Bar in der vierten Nebenstraße von links, umweht vom Odem durchfahrender Autos und im Widerhall brummender Klimaanlagen seine Tapas naschen, wie das jeder vernünftige Spanier macht, weil er weiß, dass es dort die besten zum besten Preis gibt. Das Meer hat er ja immer und es reicht ihm, zu wissen, dass es da ist. Meerblick, die Brise, Palmen am Strand, die funkelnden Lichter schaukelnder Jachten im Hintergrund – mithin unverzichtbare Insignien eines echten Urlaubs und eines standesgemäß geführten Instagram-Accounts – haben oft ihren doppelten Preis. Wer hat wann den Lokalen in erster Strandlinie eigentlich untersagt, gute spanische Küche zu servieren? Dass es hier teurer ist, liegt natürlich an den höheren Lokalmieten, aber auch an der schieren Gier vieler Inhaber. Wirt darf jeder werden, vom Künstler über den früheren Lokalpolitiker bis hin zum waschechten Psychopaten.
Und so servieren die Lokale in den Häfen und in erster Strandlinie oft Speisen, die einen auf Messers Schneide balancierenden Kompromiss zwischen dem lockenden Anschein des Spanischen, dem Ansinnen maximaler Ausbeute durch niedrige Kosten und effiziente Betriebsabläufe und der digestiven Schmerzgrenze der Kunden suchen. Klingt nicht nach einem Schlemmererlebnis, oder? Kunden, die sich beim Spanienurlaub mit kalten Pommes, Burgern aus der Mikrowelle, „Pizza“ und ähnlichen Allerweltsgerichten industrieller Großproduzenten abfinden, sind freilich willige Mittäter bei diesem Raubbau an der kulinarischen Tradition eines Landes.
Ein Phänomen übrigens, das die spanische Gourmet-Presse schon lange bedauert, seit Francos Tourismusminister in den 60er Jahren unter dem Slogan „Spain is different“ zur großen Reconquista ausländischer Touristen blies und die Restaurants per Gesetz zum Anbieten eines „Menú del día“ und eines „Touristenmenüs“ zum Festpreis verdonnerte, abgestuft nach Lage und Uhrzeit und mit gewissen Pflichtzutaten.
Diese Gängelei, die allzu dreisten Betrügern das Handwerk legen sollte, eigentlich aber ein Vorwand war, um die Kontrollbefugnisse der Schergen der Diktatur auch noch in die letzte Bar auszudehnen, war sozusagen eine Aufforderung an die Kreativität der Wirte, der Macht ein Schnippchen zu schlagen und den Touristen dennoch fröhlich auszunehmen. Was damals vielleicht sogar als ein Akt des Widerstandes gewertet werden konnte, wurde bald zum Betriebssport der Tourismus-Gastronomie und blieb bis heute eine Landplage.
Die Wahrheit hinter den Kulissen voller bunter Fotos, spanischer Fähnchen, Vitrinen drappierter „Beratungsmuster“, All-You-Can-Eat-Angebote, Speisekarten mit unterschiedlichen Preisangaben und dreist-lästigen Lockvögeln, die Kunden ins Lokal schwatzen wollen, ist zum Teil Ekel erregend, zumindest aber traurig, für die Gäste, das Personal und den Ruf der spanischen Küche. Dankbar verweist der Autor hier auf einheimische Quellen für die industrielle Scharlatanerie auf der dunklen Seite der spanischen Gastronomie.So muss er nicht als der meckernde, deutsche Besserwisser dastehen, der mit seinen miesepetrigen Blockwart-Genen nur das typische Landesflair nicht anerkennen will.
Alberto Chicote, selbst gefeierter Koch aus Madrid, zum Beispiel, deckte auf dem Kanal La Sexta einige der dreistesten Betrügereien auf, denen übrigens nicht nur ausländische Touristen ausgeliefert werden. In Chicotes Doku-Serie „Te lo vas a comer?“ (Würdest Du das essen?) aber auch in „Equipo de Investigación“ (Das Ermittlungsteam) und selbst im staatlichen Fernsehen, gehen Journalisten und Köche dabei beliebten Speisen auf den Grund, die sich besonders für Betrug zu lohnen scheinen.
Hier ein Potpourri der häufigsten Gaunereien. Die Vorspeisen: Eine allzu tiefrote Gazpacho sollte sie skeptisch machen. Denn eine Gazpacho ist nicht rot, sondern höchstens dunkelrosa, es sei denn, sie entstammt einem Tetra-Pack Tomatensaft oder einer Dose Tomatenkonzentrat, die mit Essig, Brot und Gewürzen aufgemixt wird.
Besonders kriminell ist der Betrug mit Ibérico-Schinken – auch so eine Ikone der spanischen Gastronomie – dessen Machart unverwechselbar ist. Sein sollte. Denn allzu oft landet auf dem Teller des Gastes ein vulgärer Jamón serrano vom weißen Hausschwein. Stellt man den Wirt zur Rede, rollt er den Schinken, die Rechnung und noch ein Zertifikat an und alles scheint zu stimmen. Dieser Ibérico kommt aus der Extremadura, von Spaniens echter Schinkenstraße
Alberto Chicote wies nach, dass nicht nur Zertifikate gefälscht und sogar die Hufe der Schweine schwarz lackiert werden. Betrügerbanden haben ein Millionengeschäft daraus gemacht, Schinken aus Rumänien oder Polen illegal mit namhaft klingenden Siegeln zu bestücken, um dreistellige Gewinnmargen zu realisieren und den „echten“ Ibérico dennoch zu 50 Prozent unter dem üblichen Großhandelspreis an die – natürlich völlig ahnungslosen – Wirte zu bringen.
Zwischengang: Pulpo á la gallega, zart gegarte Oktopus-Stückchen auf einem dünnen Kartoffelbett mit einer hauchzarten Knoblauch-Kräuter-Mayonnaise darüber – ein Allzeitklassiker. Doch der Pulpo muss für dieses Gericht nicht unbedingt aus Galiciens Atlantikwassern stammen. Doch selbst, wenn das Lokal das behauptet, um Anzulocken und den extra hohen Preis zu rechtfertigen, tut er das meist nicht, sondern kommt von Großhandelsfirmen, die tonnenweise minderwertige, oft zu kleine Pulpos aus Marokko kaufen und damit den Galiciern das Geschäft und dem Gourmet den Appetit verderben.
Denn der galicische Pulpo wächst langsamer, ist daher fetter und geschmackiger, unterliegt aber auch strengen Fangnormen und Schonzeiten. Der Unterschied: rund zehn Euro pro Arm. Ganz ähnlich sieht es beim Thunfisch aus. Ohnehin eine geplagte Spezies, wird uns der „Rote Thunfisch“ als Tartar oder Tataki angeboten, dabei handelt es sich fast immer um den viel billigeren und auch geschmacklich faderen Gelbflossenthunfisch. Auch hinter diesem Betrug steht eine gut organisierte Mafia, bei der Wirte als „Straßenhändler“ nur das letzte Glied der Kette sind. In einigen Städten hat die Seprona, die Naturschutzeinheit der Guardia Civil, zwischenzeitlich eine regelrechte Thunfisch-Polizei ausgebildet, die inkognito solchen Betrug aufdeckt. Mit dem Entrecote oder dem echt galicischen Chuletón aus Freilandhaltung und mit soundsovielen Monaten Reifung, ist es leider oft ein ähnliches Drama.
Hauptgang: Vergessen sie auch Doraden und Lubinas (Wolfsbarsch) im Hochsommer im Strandlokal. Diese Fische kommen zu dieser Zeit ausschließlich aus den ökologisch mehr als fraglichen Großzuchtanlagen, wo zigtausende Setzlinge mit Industriefutter und Hilfsmitteln aus dem Medizinschrank in riesigen Netzkäfigen auf Verkaufsgröße gemästet werden, während ihre Notdurft das Ökosystem verdreckt. Wilde Doraden sind viel größer als diese handtellergroßen Exemplare, die man ihnen meist schon trocken serviert. Und Wild-Doraden haben Fangsaison im Herbst, von September bis November. Der Werbespruch vieler Lokale „de la bahía“, also aus der Bucht, soll die Idylle des kleinen Fischers vorgaukeln, der mit seinem Boot in den Hafen einfährt, woraus der Küchenchef mit sorgsamer Hand die besten Stücke wählt. Nichtsda, „aus der Bucht“ heißt meistens nur, dass der Großhändler mit seinem Tiefkühl-Truck einmal an ihr vorbeigefahren ist.
Ja, aber was kann man dann überhaupt essen? Schauen Sie den spanischen Tischnachbarn auf die Teller. Die essen kleine Fischchen, frittiert (pescaíto frito) – also für den Sommer sozusagen hygienisch einwandfrei versiegelt – in einem einfachen Bierteig, darunter vor allem Felsenfische, Sardellen (boquerones) und Sepia-, also Tintenfischstückchen. Oder probieren sie mal den Rape (Teufelsfisch), mit seinem festen Fleisch und echten Geschmack, den gibt es nämlich nur wild, der lässt sich nicht zähmen und züchten.
Zum Thema: Weniger ist Meer: Wann haben welche Fische und Meeresfrüchte in Spanien Saison?
Salmón, Lachs als Tartar oder „mediterrane Art“ vom Grill? Nun, Lachs ist so ziemlich der einzige Fisch, der nicht im Mittelmeer schwimmt. Dafür aber der Salmonete, die Rot- oder Meerbarbe, kleine geschmackvolle Felsen- und Grundfische. Sie haben immer Saison und sind aus dem Ofen mit etwas Limette, Kreuzkümmel und einem Salbeiblatt ein echter mediterraner Genuss ohne Reue. Oder die berühmten espartos, Sardinen auf dem Spieß. Dazu ein paar Tomaten, gutes Olivenöl, frisches Brot und Wein oder Bier der Region, besser geht es im Sommer kaum.
Das Problem der Paella, dieser so misshandelten Ikone der valencianischen Familienküche, ist, dass sie sich nicht wehren kann und alles, was in Pfannen zusammengeschmissen wird, so heißen darf. Für Wirte ein lohnendes Geschäft. Denn der Wareneinsatz der Reispfannen ist in etwa so niedrig wie bei einer Pizza Margherita, ihr Beliebtheitsgrad bei Touristen ebenso hoch. Doch viele Lokale, vor allem jene in den frequentiertesten Touristenmeilen und Strandpromenaden, machen sich nicht einmal mehr die Mühe, fragwürdige Zutaten mit Reis zu verrühren, sondern greifen gleich auf „convienience“-Packungen der Lebensmittelindustrie zurück. Eigene Pappaufsteller auf den Tischen mit den „Variationen“ sind ein Hinweis auf diese Stangenware.
Zum Thema: Keine Panne in der Pfanne - Rezepte, Geschichte und Tipps zur echten Paella
Doch auch hier wird der Kunde oft zum Komplizen, genügt vielen ein bisschen Huhn, ein paar rosa Garnelen und besonders gelber Reis doch für die Illusion und das Urlaubsfoto. Kann man ja alles mit einem Liter Sangría (Don Simons Tetra-Pack lässt grüßen) runterspülen und mit ein paar Litern mehr auch vergessen. Vielleicht nur eine Straße weiter müht sich dagegen eine auf die besten Reisgerichte aus Alicante spezialisierte Köchin für weniger als den Mindestlohn und mit nur einem freien Nachmittag in der Woche ab, wirklich leckere Paellas nach Rezepten ihrer Oma zu zaubern. Doch viele Kunden sehen das nicht, weil sie von ihrem Lokal aus nicht das Meer sehen können. Schade.
Der universelle Urlauber-Hinweis, dort zu essen, wo die Einheimischen essen, stimmt. Meistens. Aber nicht immer. Denn die meisten Einheimischen essen zu Hause. Eigentlich ein guter Tipp, aber für viele keine Option im Urlaub. Und auch Spanier, vor allem Madrilenen, die im Sommer „ihre“ Küsten heimsuchen, ziehen nicht selten die fotogene Location dem kulinarischen Erlebnis vor.
Die sind aber eigentlich keine Einheimischen, nur einheimische Touristen. Denn ansonsten liegen Sie nie falsch, zu schauen, was die Spanier am Nebentisch bestellen und dem Kellner aufzutragen, das gleiche zu bringen, auch wenn Sie keinen Schimmer haben, was es ist. Für viele Spanier ist der Besuch der Bar um die Ecke ein tägliches Ritual, der Restaurantbesuch, das „groß Ausgehen“ hingegen ein Highlight, das sich viele nicht oft im Jahr erlauben können.
Daher ist die ausladende und vereinnahmende Art spanischer Tischgesellschaften auch kein Zufall oder einfach Ausdruck überschäumenden südlichen Temperaments, sondern ein gewisses Kalkül. Ein Spiel. Man fordert den Wirt und die Kellner ein bisschen heraus, entlockt ihnen ein besonderes Angebot, eine Information, was besonders lohnend ist. Macht sich mit dem Wirt familiär, dass der sich gar nicht mehr traut, einen über den Tisch zu ziehen. Klappt das nicht, wird die Bedienung, meist überarbeitet und unterbezahlt und dann auch noch vom Chef regelmäßig heruntergeputzt, zum Komplizen. Der Kellner sagt einem dann schon mal durch die Blume, was man möglichst nicht bestellen sollte. Das ist wahre Nächstenliebe.
Ein Tipp, der immer funktioniert: Gehen Sie in ein anvisiertes Lokal zunächst nur auf einen Sherry und ein paar Oliven. Als Scout, als Agent in Sachen guter Geschmack. Ihre Familie wird es Ihnen danken, Ihre Geldbörse auch. Aber vergessen Sie das großzügige Trinkgeld nicht und geben Sie es der Bedienung direkt in die Hand! Auch mal einen Euro mehr als sonst, am Mietwagen haben Sie auch nicht gespart, obwohl der dieses Jahr fast doppelt so teuer war wie 2019. Beim nächsten Besuch gibt es eine noch bessere Tapa und ein ehrliches Lächeln gratis obenauf. Und das ist sowieso unbezahlbar.