Fahrradfahren in Spanien: Coronakrise macht Fahrrad zum Modefahrzeug

Die Coronavirus-Krise kennt in Spanien viele Verlierer und nur wenige Gewinner: Einer davon ist die Fahrradindustrie. Sie boomt wie selten zuvor.
Dénia/Madrid - Wenn man von Paris spricht, diese Stadt der Croissants, Liebe und Kunst und – natürlich – Fahrradwege. Rund 50 Kilometer wies die Metropole in der ersten Coronavirus-Welle aus. Während der iberische Nachbar im Schuppen den Platten in Augenschein nahm, den Durst nach Kettenöl stillte oder über das Rätsel ratternder Schaltungen grübelte, kleideten namhafte Modehäuser diese Sehnsucht nach urbaner Freiheit ein und präsentierten ihre Kollektionen mit adretten Modellen. In den Sozialen Netzwerken nahm man keine Hand vor den Mund und man fragte oft ungeniert nach den Namen der Modelle und mutmaßte über ihre Größe, wobei man sich keineswegs auf die Taille, sondern die Rahmengröße und die Marke des in Szene gesetzten Vehikels bezog.
Boom dank Coronavirus-Krise: Fahrrad wird zum Verkaufsschlager
Es mutet wie eine kleine Kulturrevolution in der Corona-Pandemie an – dieses in Spanien lange Zeit als Immigranten-Kutsche herabgewürdigte Gefährt flutscht seit über einem halben Jahr wie Klopapier über Supermarktkassen. „So etwas hätten wir nicht erwartet“, gibt Andrea Más vom Fahrradladen Desnivell in Dénia zu. „Als wir nach der Ausgangssperre wieder öffneten, hatte sich alles radikal verändert.“ Keine zwei Monate dauerte es, und das Fahrrad trat aus seinem Schattendasein in Spanien. „Und das nach einem ökonomischen Stillstand“, sagt sie.
„Der Boom hat sich während der Deeskalation materialisiert. Die Leute saßen sechs Wochen in ihren Wohnungen fest, dann konnten sie auf einmal heraus und das Fahrrad entpuppte sich als die Antwort auf die Mobilitätsprobleme im Zeitalter der Pandemie – eine Möglichkeit, sich aktiv, aber gesund und sicher fortzubewegen, auf einem Gefährt, das agil, wirtschaftlich und zugleich sportlich und modern ist. Ganze Familien haben Fahrräder gekauft, um zusammen Ferien zu machen“, sagt Jesús Freire, Generalsekretär des Verbands spanischer Fahrradfabrikanten Ambe.
Modern mitnichten, aber agil und wirtschaftlich schon seit 100 Jahren. Von 1923 an produzierte die ehemalige Waffenschmiede der Beistegui-Brüder im Baskenland die von Karl von Drais ein Jahrhundert zuvor erfundene Laufmaschine in Form des Sicherheitsniederrads samt Tretkurbelantrieb und Luftreifen in Serie. 100 Jahre später steht das Spitzenmodell G8 Disc 7.5 für knapp 12.000 Euro zum Verkauf und BH und Orbea zählen zu den Flaggschiffen der spanischen Fahrradindustrie. Ihre Blütezeit erlebten die iberischen Zweiräder mit Tretkurbelantrieb freilich in den 1980er und frühen 90er Jahren, etwa als Zeus die Mechanik von Campagnolo fast so gut kopierte wie das Original sie produzierte, oder Razesa aus edlem englischen Reynolds-Stahl wettbewerbstaugliche Rahmen für das Volk lötete. Marken wie GAC oder Torrot verblassten jedoch zu Kindheitserinnerungen, als in den 1990er Jahren die Billigprodukte aus asiatischer Massenproduktion den Markt überschwemmten. Manch einer gräbt heute recht erfolgreich in der Vergangenheit und bessert sich auf dem Gebrauchtmarkt mit Teilen der Serie Zeus 2000 die Rente auf.
Fahrradindustrie in Spanien im Kommen: Über 400 Fabriken und 3.000 Läden
Seine Euphorie über die Renaissance des Fahrrads kann Jesús Freire kaum im Zaum halten, mangels vorliegender Verkaufszahlen spricht Freire vorsichtig von einem „zweistelligen Anstieg“ gegenüber dem Vorjahr. Da schon boomte das Fahrrad, fast 1,3 Millionen Räder und 20,41 Prozent mehr als 2018 wurden verkauft. 192 Firmen in Spanien bauen Fahrräder oder Teile dafür, 400 Fabriken und knapp 3.000 Läden, die verkaufen, reparieren und vermieten, werden dem Sektor zugerechnet. Längst geht es nicht mehr nur um das reine Fahrrad, sondern um einen ganzen Industriezweig, der in Spanien knapp zwei Milliarden Euro pro Jahr umsetzt und die Aufmerksamkeit internationaler Investoren geweckt hat.
„Wir glauben nicht, dass es nur ein Boom ist. Wir sprechen von einer Tendenz, die sich konsolidiert“, sagt Freire. Und an der viel hängt: Fahrradwege, Stadtentwicklung, Sportbekleidung, Dienstleistungen von der App bis zur Vermietung, Tourismus, und und und. Fast 2.000 verschiedene Marken verleihen dem Fahrrad in Spanien sein Potential. Der Sektor fährt in diesem Fahrwasser von Ökologie und digitaler Entwicklung gut mit, um die sich in Zukunft so vieles in der spanischen Wirtschaft drehen soll. Vor allem im E-Bike sieht der Ambe-Verband ein gewaltiges Zukunftspotential, das vielen Bevölkerungsgruppen ganz neue Möglichkeiten der Fortbewegung eröffnen kann.

Das Potential des Fahrrads hat Burkhard Jost vom Sporthotel Los Caballos in Els Poblets schon vor Jahren erkannt. Die Corona-Krise hat aber nicht der ganzen Branche Rückenwind verliehen, einige landeten wegen ihr auch beinahe im Graben. „2019 war das beste Jahr ever“, sagt er. So viele Fahrradgäste aus allen Teilen Europas konnte er gar nicht unterbringen, selbst in den Partnerhotels in der Umgebung quartierte er Radtouristen ein, die dann Fahrradtouren durch die Costa Blanca oft mit ihm als Führer fuhren. Um den höheren Ansprüchen der Gäste gerecht zu werden, investierte Jost in eine Flotte von Carbon-Rennrädern und stellte ein Service-Fahrzeug zur Verfügung.
Dann kam Corona und niemand konnte mehr kommen. Die Hotels stehen leer, die Fahrräder darben im Schuppen. Nun hat Jost das Servicefahrzeug in eine mobile Werkstatt umgebaut, samt Werkbank und Zentrierstand aus Eigenproduktion, und bietet seine Dienste jenen an, die ihr Fahrrad wieder zu Hause flottmachen wollen, aber es selbst nicht können. Ein Anruf und er kommt mit seinem Mobil.
„Wir hatten in der Werkstatt Wartezeiten von drei bis vier Wochen“ erzählt wiederum Juan Ochoa, der den Versandhandel Bicimania betreibt, von seinen Erfahrungen. Nicht nur Fahrräder gingen weg wie warme Semmeln, auch der Handel mit Ersatzteilen boomte und die Werkstätten füllten sich mit invaliden Fahrrädern wie selten zuvor. Beim Verkauf richtete sich das Gros der Nachfrage auf Kinder- und Erwachsenenfahrräder bis 1.000 Euro, dann folgten Sport- und Freizeiträder der Mittelklasse bis 3.000 Euro. Bei der seit Corona explosionsartig ansteigenden Nachfrage kamen viele Fabriken zum Kollabieren – und damit auch die Planungsfähigkeit in den einzelnen Geschäften, von denen viele zurzeit regelrecht geplündert wirken.
„Zu der großen Nachfrage kommt, dass bestimmte Fabrikabteilungen 14 Tage in Quarantäne müssen, wenn ein Mitarbeiter positiv getestet wird“, sagt Andrea Más von Desnivell. Was die ohnehin schon überlastete Produktion noch mehr verlangsame. „Vorher war es so, dass der Kunde sein Fahrrad entweder direkt im Laden gesehen und gekauft oder es bestellt hat und sein Wunschmodell in wenigen Tagen da war.“ Jetzt könne man von Glück sprechen, wenn die Fabriken auch nur annähernd Lieferdaten nennen. Viele Kunden würden daher aus der Not heraus das nächste Modell reservieren, das zur Verfügung steht – und froh sein, wenn sie überhaupt eins bekämen. „Wir haben Kunden, die schon im Sommer ein Fahrrad reserviert haben, einige haben es bis heute nicht“, sagt Más, die davon ausgeht, dass diese Situation noch mindestens in diesem eventuell auch noch im nächsten Jahr andauern wird.
Fahrradfahren in Spanien: Das Velo war schon immer ein Krisenrenner
Juan Ochoa hat mit seinem Madrider Versandhandel Bicimania ähnliche Erfahrungen gemacht wie Desnivell in Dénia. Überrascht hat ihn das nicht, er kennt das Fahrrad seit den 1990er Jahren als Krisenrenner. „Der Anstieg war spektakulär, aber das ist typisch für Krisenzeiten. 2008 haben die Leute auch auf einmal keine Autos und Wohnungen mehr gekauft, sondern Fahrräder.“ Warum? Die Gründe für damals suchte er in der Psychologie, das Fahrrad verkörperte ein einfaches und solides Fortbewegungsmittel angesichts einer unsicheren Zukunft.
Amparo Ausenia vom Fahrradladen Extrem Cicles in Dénia erklärt sich den Fahrradboom in Corona-Zeiten mit dem Wunsch nach einem alternativen Fortbewegungsmittel angesichts latenter Ansteckungsgefahr. „Die Ansteckungsgefahr ist beim Fahrradfahren an der frischen Luft geringer und außerdem stärkt es das Immun- und Atemsystem“, sagt sie. „Gerade in großen Städten ist es ein wichtiges Fortbewegungsmittel geworden, da immer weniger Menschen volle Metros und Busse nutzen wollen“, bestätigt Andrea Más. Viele Kunden hätten aber auch nach einem Sportgerät Ausschau gehalten. „Viele, die zuvor Fußball, Basketball oder Kontaktsportarten ausgeübt hatten, mussten während der Ausgehsperre pausieren und auch danach lief es nicht mehr richtig an.“
Ob das Fahrrad sich wirklich als Fortbewegungsmittel etablieren kann, daran hegt Juan Ochoa Zweifel. Die wenigsten Spanier nutzen seiner Meinung das Fahrrad als Transportmittel, sondern vielmehr als ein Sport-und Freizeitgerät. „Dafür muss sich die Mentalität ändern. Schauen Sie, der Spanier kauft ein Fahrrad, packt es dann ins Auto und fährt irgendwohin, um Rad zu fahren, der Deutsche steigt aufs Fahrrad, um eben nicht Auto zu fahren“, sagt er.
Fahrradfahren in Spanien: Es scheitert an der Fahrradkultur
Dennoch bewegt sich viel in der Fahrradkultur. Seit Jahren machen sich Gruppen wie ConBici dafür stark, dass Menschen sich sicher, umweltschonend und sportlich im Verkehr fortbewegen können, ohne von Autofahrern als ein Störfaktor wahrgenommen zu werden. Und mit Erfolg – das Radwegnetz in Barcelona, Sevilla, Valencia oder Zaragoza kann sich sehen lassen, das in Madrid gilt allerdings als eine Katastrophe. „Der Fahrradweg ist in Madrid keine Lösung. Der Autoverkehr muss reduziert werden. Die Autos müssen aus dem Zentrum raus“, sagt Andrés Arregui Veláquez, Rahmenbauer und Betreiber der Technischen Schule für Fahrradbau in Madrid.
An der Fahrradkultur scheiden sich in Spanien die Geister, sie gilt in Spanien als links und Madrid als rechts. „Das Fahrrad wird als etwas für Arme angesehen und genau das bremst jeden Fortschritt. Als Spanien aus der Diktatur kam, wollte jeder, der ein bisschen Geld hatte, ein Auto. Deswegen wollte man die Verkehrsberuhigung von Madrid Central auch abschaffen, weil man bis heute denkt, dass das Auto etwas mit Freiheit zu tun hat. Dabei wird ein Großteil des öffentlichen Raums der Stadt vom Auto regelrecht in Beschlag genommen“, sagt Arregui.
Im Mai tritt die neue Straßenverkehrsordnung in Kraft. Mit der Herabsenkung der Höchstgeschwindigkeit auf 30 im innerstädtischen Verkehr und der Ausweisung von Einbahnstraßen und verkehrsberuhigten Zonen kommt sie Fahrradfahrern entgegen. Die Politik wird sich auf neue Formen der Mobilität zubewegen müssen, nicht weil sie will oder daran glaubt, sondern weil Fördergelder aus der EU daran hängen. Nur fürchten Fachleute wie Juan Ochoa, die bereits an der Ausarbeitung von Mobilitätsplänen zur Förderung des Fahrrads mitgewirkt haben, dass die Politik die gleichen Fehler der Vergangenheit begeht und die Gelder in Infrastrukturen investiert, die sich aufgrund halbherziger Planung als so nutzlos erweisen wie die Radspur entlang des Industriegebiets am Stadteingang von Dénia.
„Leider sind die Städte nicht aufs Fahrradfahren vorbereitet“, sagt Andrea Más vom Fahrradladen Desnivell. „Wir haben zwar das ideale Klima, und das Fahrrad ist ein umweltschonendes Verkehrsmittel, aber die Gesellschaft ist nicht an Radfahrer gewohnt. Sie werden als ein Klotz im Straßenverkehr gesehen, fühlen sich dort nicht sicher, und die Fahrräder sind es auch nicht, denn sie werden immer noch viel zu oft gestohlen“, sagt sie.