Medikamentenmangel in Spanien, Deutschland oder der Schweiz: Das sind die Gründe für die Engpässe

Ob Spanien, Deutschland oder die Schweiz: Europa leidet an Medikamentenmangel. Die EU verspricht Unterstützung, doch eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht.
Brüssel - „Dieses Medikament haben wir leider nicht.“ – Medikamentenmangel in Spanien, Deutschland, der Schweiz und anderen Teilen Europas, kennen Sie das? Sie gehen mit Ihrem Rezept in eine Apotheke, doch der Apotheker sagt, dass er das vom Arzt verschriebene Medikament leider nicht hat und es auch nicht absehbar sei, wann es wieder lieferbar ist. Mit leeren Händen und recht hilflos verlässt man schließlich die Apotheke und fragt sich, wie das in einer so fortschrittlichen Welt überhaupt sein kann. Betrug einzelner Apotheker kann ja schonmal vorkommen wie kürzlich an der spanischen Costa Blanca, aber Knappheit von Produkten einer florierenden Pharmabranche? Bedauerlicherweise spielen sich Szenarien wie die eingangs Beschriebene sich derzeit in Europa und in anderen Teilen der Welt ab. Was sind die Gründe? Und: Ist es bald vorbei?
Medikamentenmangel in Europa: Problem ist nicht neu, die Ursachen divers
Medikamentenmangel in Europa: durch die Häufung der Vorfälle könnte man meinen, das Problem des Medikamentenmangels sei neu, das ist es aber nicht. So wies beispielsweise die Pharmazeutenkammer der Region Valencia in Spanien schon am 1. Mai 2019 auf ihrer Webseite darauf hin, dass der Medikamentenmangel in Apotheken seit Januar 2019 um 23 Prozent gestiegen sei. Laut dem Bericht endete bereits das Jahr 2018 mit insgesamt 1.332 Meldungen von Arzneimittel-Versorgungsproblemen, was einen Anstieg von 44 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutete.
Die Ursachen des Medikamentenmangels in Europa sind divers. Genannt wurden unter anderem Herstellungsprobleme, einschließlich logistischer Schwierigkeiten sowie Preispolitik. Der Präsident der Apotheker von Sevilla, Manuel Pérez, äußerte sich bezüglich letzterem, dass sich die „pharmazeutische Industrie in anderen Ländern umsieht, in denen der Markt unter dem Gesichtspunkt der Unternehmensgewinne attraktiver ist.“ In Spanien sind die Preise verschreibungspflichtiger Arzneimittel im öffentlichen Gesundheitssystem staatlich reguliert. Im Gegenzug dafür können die Pharma-Hersteller mit einer stabilen Nachfrage und Finanzierung rechnen. Da die Arzneimittelpreise in Spanien jedoch mit zu den niedrigsten in der EU gehören, besteht immer die Versuchung, einen Teil der zugesagten Produktion auf andere, lukrativere Märkte umzuleiten. Des Weiteren: Kommt es auf den internationalen Märkten zu Engpässen, gibt es Länder, die bereit sind, mehr zu zahlen, um ihren Bedarf zu decken.
Medikamentenmangel in Europa: Künstliche Verknappung, dennoch trifft es auch Deutschland und die Schweiz
Bezüglich des Medikamentenmangels in Europa veröffentlichte das Onlineportal Correctiv.org in Zusammenarbeit mit dem RTL-Nachtjournal bereits im Jahr 2017 eine Recherche unter dem Titel „Die Medikamente der Anderen“, die darlegt, dass das Preisgefälle in Europa für künstliche Verknappung sorgt. Medikamentenpreise orientierten sich an der Kaufkraft eines Landes, was Pharmahändler veranlasse, günstig Arznei in einem Niedrigpreis-Land aufzukaufen, um diese in einem anderen Land gewinnbringend zu verkaufen. Es müssen nur noch die Verpackung und der Beipackzettel sprachlich angepasst werden, damit diese dann ganz regulär in den Apotheken der entsprechenden Ländern angeboten werden können.
In Deutschland sind Medikamente teurer als in manch anderem EU-Land. Und doch wies eine Statistik aus dem Jahr 2019 des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auf Lieferengpässe bei Medikamenten hin. Was bei der Statistik ins Auge fällt, ist ein sprunghafter Anstieg der Lieferengpassmeldungen im Jahr 2018 von etwa 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Auch in der Schweiz gab es 2018 Schlagzeilen wie „Was, wenn das Kantonsspital keine Medikamente mehr hat?“ der Schaffhauser Nachrichten. Zu dieser Zeit wurden 400 Medikamente mit Engpass oder sogar mit Lieferausfall auf der Webseite www.drugshortage.ch gelistest.
Hauptgrund für den Medikamentenmangel in Europa: Verlagerung der Produktion nach Indien und China
Etliche Medien gaben als Hauptgrund des Medikamentenmangels in Europa die Verlagerung der Wirkstoff-Produktion von Europa in Länder wie Indien oder China an. Die Folgen seien höhere Lieferzeiten sowie Qualitätsprobleme, die dann wiederum zu Produktionsproblemen in Europa führen. In Europa schloss 2008 die letzte Produktionsstätte von Paracetamol: der französische Chemiekonzern Rhodia. Das Unternehmen produzierte 8.000 Tonnen des Wirkstoffs pro Jahr und galt weltweit als Nummer zwei. Als Gründe für die Schließung wurde die sehr starke Konkurrenz aus China und Indien genannt, die Paracetamol auf den Märkten billiger anbot. Zudem soll Rhodia auch mit steigenden Rohstoffpreisen und dem anhaltenden Verfall des Dollars zu kämpfen gehabt haben.
Nunmehr werden etwa 80 Prozent der pharmazeutischen Wirkstoffe fernab in Asien produziert. In einigen europäischen Ländern stammen mehr als 75 Prozent des Wirkstoffs Paracetamol aus China und Indien. Neben einer zu starken Konkurrenz aus Asien, steigenden Rohstoffpreisen und einem schwachen Dollar gibt es noch einen weiteren Grund, der den französischen Chemiekonzern Rhodia, nach Angaben der Deutschen Apotheker Zeitung, die sich wiederum auf die Wirtschaftswoche bezieht, belastete. So sei das Aus von Rhodia „den damals neu geltenden Umweltstandards“ geschuldet gewesen, deren Umsetzung dem Unternehmen zu teuer gekommen wäre.
Nationale Produktion und Teilmengenabgabe sollen den Medikamentenmangel in Europa lindern
So oder so, als einen notwendigen Lösungsansatz um den Medikamentenmangel in Europa zu lindern sieht Eduardo Pastor, Präsident von Cofares, eine spanische Genossenschaft für den Vertrieb von Arzneimitteln und Medizinprodukten, eine stärkere institutionelle Förderung von Innovation und Entwicklung für die Herstellung von Arzneimitteln auf nationalen Territorium. Dieser Vorschlag macht Sinn, allerdings würde die Umsetzung einige Jahre in Anspruch nehmen. Dazu kommt, dass die Chemiebranche in Europa unter anderem durch die gestiegenen Rohstoff- und Energiepreise sowie punktuelle Logistikprobleme mitten in einer Krise steckt, sodass einige Chemie- und Pharmafirmen gar mit dem Gedanken spielen, Europa zu verlassen.
Apotheken in der Schweiz sollen mittlerweile wegen des anhaltenden Medikamentenmangels dazu übergehen, von gewissen Medikamenten nur noch Teilmengen abzugeben, schreibt das Nachrichtenportal srf.ch. Gerade bei Antibiotika, die neben Schmerzmitteln und Blutdrucksenkern zu den knappen Medikamenten zählen, würde die für eine Therapie verschriebene Anzahl in 50 Prozent der Fälle nicht mit der Packungsgröße übereinstimmen. Außerdem seien bestimmte Packungsgrößen nicht mehr verfügbar. Erarbeitet hat diese Maßnahme, die etwas Abhilfe verschaffen soll, die schweizerische „Taskforce Engpass Medikamente“.
EU verspricht Unterstützung, EMA spricht von einem anhaltenden Problem beim Medikamentenmangel
Mittlerweile hat auch die EU, konkret die Europäische Kommission eingeräumt, dass die Engpässe, beziehungsweise der Medikamentenmangel in vielen EU-Ländern ein Problem darstellt. Die für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit zuständige EU-Kommissarin Stella Kiriakides bestätigte, dass es ernste Engpässe bei einigen Antibiotika und Schmerzmitteln, insbesondere bei Arzneien für Kinder gebe. Und dass diese Situation für viele Länder in der Europäischen Union sowie weltweit besorgniserregend sei. Stella Kiriakides versicherte, dass die EU-Kommission die Europäische Arzneimittelagentur EMA, die zuständigen nationalen Behörden, die Industrie und andere relevante Interessengruppen bei der Bewältigung dieses Problems unterstützen werde.
Im Laufe der Zeit haben sich zu den ursprünglichen Gründen für Lieferschwierigkeiten, Engpässe und Mangel bei Medikamenten weitere dazugesellt. Und so ist es dann immer ein Mix aus allem, der das Fass zum Überlaufen bringt. So erklärte die Europäische Arzneimittelagentur EMA, dass der Medikamentenmangel ein anhaltendes Problem für die öffentliche Gesundheit sei, und die Situation in der EU sich durch geopolitische Ereignisse oder Trends wie dem Krieg in der Ukraine, der Energiekrise und hohe Inflationsraten verschärft habe. Nicht zu vergessen: Die Covid-19-Pandemie. Während der Pandemie, aber auch in der Zeit „nach der Pandemie“ ist der Bedarf an Arzneimitteln und Behandlungen gestiegen. Auch dies hat in gewissem Maße zu einem Anstieg der Arzneimittelknappheit geführt. Zusätzlich wurde Europa durch den Winter, in dem das Gesundheitssystem sowohl mit Covid-19 als auch mit anderen saisonalen Viren konfrontiert war, auf eine harte Probe gestellt.
Medikamentenmangel in Europa: Welche Arzneimittel sind von Lieferproblemen betroffen?
In Spanien gibt es derzeit über 700 Arzneimittel mit Lieferproblemen, darunter Schmerzmittel, Antibiotika, Verhütungsmittel, Antiepileptika, Hustensäfte und Ibuprofen für Kinder. Das geht aus einer von der spanischen Agentur für Arzneimittel und Gesundheitsprodukte AEMPS veröffentlichten CIMA-Liste hervor. Derweil ist diese Zahl keineswegs rückläufig, sondern hat in den letzten Monaten zugenommen. Für viele der gelisteten Arzneimittel wird ein voraussichtliches Enddatum der Verknappung angegeben, sodass Ärzte und Patienten abschätzen können, wie lange sie auf Alternativen zurückgreifen müssen. Bei anderen Medikamenten allerdings ist ein Ende des Mangels nicht in Sicht.
Nach der Analyse von europeandatajournalism.eu fehlen in insgesamt sechs Ländern (Deutschland, Spanien, Griechenland, Österreich, Slowenien, Tschechien) am häufigsten Arzneimittel, die mit dem Nervensystem zusammenhängen (1.718 Arzneimittel, 19,1 Prozent der Gesamtzahl), wie Anästhetika, Psychopharmaka, Antidepressiva, Anxiolytika, Antiepileptika, Antiparkinsonmittel. An zweiter Stelle stehen Herz-Kreislauf-Arzneimittel (1.307, 14,5 Prozent aller Mängel) und an dritter Stelle Antiinfektiva zur systemischen Anwendung, das heißt Antibiotika (1.126 Arzneimittel, 12,5 Prozent aller Mängel). Nun bereiten sich die Apotheken auf ein schwieriges Frühjahr vor, in dem es zu Engpässen bei antiallergischen Medikamenten (Antihistaminika und abschwellende Mittel) kommen könnte.
Mit QR-Code statt Beipackzettel gegen Medikamentenmangel in Europa
Die Europäische Kommission plant für nächstes Jahr eine Reform der Arzneimittelgesetzgebung, die die Abschaffung der Packungsbeilagen von Arzneimitteln aus Papier und deren Ersatz durch ein System von QR-Codes oder ähnlichem ermöglicht. Auslöser zum entscheidenden Zeitpunkt könnte ein Ereigniss im Herbst 2022 gewesen sein: viele Pharmaunternehmen blockierten ganze Chargen von Pillen, Portionspäckchen und Injektionsmitteln, weil sie nicht über das Papier zum Drucken der Packungsbeilagen verfügten.
Wie die spanische Tageszeitung „El País“ berichtete, erhofft die europäische Exekutive viele Vorteile von der Maßnahme „QR-Code statt Medikamenten-Beipackzettel“: die Lieferketten werden vereinfacht, die Medikamentenknappheit soll kein so ernstes Problem mehr sein, die Informationen können sofort aktualisiert werden und es wird zudem Papier eingespart. - Oder vielleicht wird ja Spaniens künftige Gesundheitsagentur Abhilfe beim Medikamentenmangel schaffen können. Die Zeit wird es zeigen.