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Spanien-Urlaub in Ruhe erleben: Mindfulness-Experte gibt Tipps

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Von: Stefan Wieczorek

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Trotz aller Wellness-Ansätze ist das Entspannen anno 2022 schwierig geworden - selbst im Sommer am Mittelmeer. Doch Abschalten kann man lernen. Einige Übungen.

Und wenn ich mich im Spanien-Urlaub mit dem Coronavirus oder den Affenpocken anstecke? Was, wenn mein Flug wegen des Ryanair-Streiks abgesagt wird? Welche Wellen werden noch die Energie-Krise und der Krieg in der Ukraine schlagen? Von solchen Gedanken, und erst recht vom ständigen Piepen des Handys sind auch Touristen nicht befreit, die sich auf die Reise machen, um an der Costa Blanca oder Costa del Sol den Sommer zu verbringen. Trotz aller Wellness-Ansätze und technischer Hilfsmittel ist das Entspannen in aller Ruhe anno 2022 schwierig geworden. Doch zum Glück haben wir lange vor Covid-19 aus Asien eine helfende Technik importiert. Eine mentale Impfung gewissermaßen: Achtsamkeit, in Spanien als Mindfulness bekannt.

Spanien-Urlaub: in Ruhe entspannen - Mindfulness-Experte gibt Tipps

Wie kann Achtsamkeit mir helfen, im Spanien-Urlaub in Ruhe zu entspannen? Dazu zunächst einige Grundlagen. Über 1,4 Milliarden Seiten spuckt der Google-Suchbegriff „Mindfulness“ aus. Buchläden, auch in Spanien, haben dazu Extra-Abteilungen. Wissenschaftler wollen die Wirkungsstärke der Achtsamkeit nachgewiesen haben. In der Corona-Pandemie erlebte sie einen weiteren Aufschwung. Doch der Hype sei ein Missverständnis, sagen ernsthafte Mindfulness-Vertreter wie Psychologe José Brotons von der Costa Blanca. „Beim Mindfulness handelt es sich um die dritte Welle der Psychotherapie“, erklärt der Experte. „In ihr geht es nicht ums Bekämpfen negativer Empfindungen, sondern vielmehr um ihr Annehmen.“

Die Praxis der auch in Spanien verbreiteten achtsamen Ruhe ist mittlerweile gut erforscht. Jon Kabat-Zinn gilt als Begründer von Mindfulness als westliche Therapieform. In den 70ern nannte der US-Molekularbiologe seinen Ansatz „Mindfulness-Based Stress Reduction“ und gründete in Massachusetts ein Fachzentrum. „Im Kern stammt Mindfulness aus der Lehre des Buddhismus, die mit weiteren orientalische Praktiken angereichert ist“, erklärt José Brotons. Der Experte von der Costa Blanca lernte die Achtsamkeit vor 30 Jahren durch das Studium von Yoga und Meditations-Techniken kennen. „Damals existierte in Spanien nicht einmal ein Begriff dazu.“

Mindfulness sei keine Glaubenspraxis wie etwa das christliche Meditieren, versichert der Psychologe aus Alicante. „Kabat-Zinn befreite es aus der religiösen Sphäre und systematisierte es fürs westliche Denken“, sagt José Brotons. Eine Definition der Achtsamkeit? „Erst sollte man sagen, was sie nicht ist: Keine bloße Therapie, auch kein Sammelsurium an Techniken, um Stress zu entkommen. Es ist vielmehr eine Art und Weise, das Leben zu leben.“ Die Maxime der Achtsamkeit sei, die Gegenwart mit vollem Bewusstsein anzunehmen. „Also nicht ständig in der Vergangenheit verhaftet sein, oder in Zukunftsängsten oder Träumen verweilen.“

„Schaut die Rosine an. Seht ihre Details, wie einzigartig sie ist.“

José Brotons, Experte für das achtsame Erleben des Hier und Jetzt.

Stress annehmen, Urteile vermeiden - Die Allegorie von der Frucht

Inwiefern hat das mit einem ruhigen Spanien-Urlaub zu tun? Der Mindfulness-Experte von der Costa Blanca fährt fort: Das Erleben des Hier und Jetzt sollte bei Mindfulness erfolgen, ohne sich durch Gedanken fortreißen zu lassen. Und auch ohne vorschnelle Urteile zu fällen. Weder über die eigenen Gefühle, noch über sich als Person. Diese Einsicht sei für viele Menschen bereits sehr befreiend. „Zu Beginn meiner Kurse frage ich die Teilnehmer: Was ist euer Ziel?“, sagt José Brotons. „Sie sagen: Mich besser fühlen. Stress vermeiden. Ich sage dann, das könnt ihr hier nicht. Ihr lernt, das anzunehmen, was da ist – auch wenn es lästig ist.“

Eine Frau in Bikini und Hut geht langsam ins Meer.
Im Meer der Gedanken: Bei Mindfulness geht es darum, jeder Welle und Strömung in Ruhe zu begegnen. © David Revenga

Dann erzähle der Psychologe aus Spanien in seinen Kursen eine Allegorie: „Stellt euch vor, ihr seid allein auf einer Insel. Ihr habt großen Hunger. Plötzlich erscheint jemand und bietet euch etwas zu essen an – eine Birne. Doch er sagt auch: Ihr bekommt sie unter einer Bedingung. Ihr müsst sie ganz essen, den weichen und den harten Teil. Lasst ihr euch darauf ein?“ José Brotons weiter: „Auch wenn ihr jetzt ja sagt. In Wirklichkeit lebt der Mensch von heute einen Widerspruch. Er verzichtet auf den Reichtum der saftigen Frucht, nur um den harten Kern nicht essen zu müssen.“

Der Genuss der ganzen Frucht sei aber das Ziel der Achtsamkeit. „Die Grundtechnik von Mindfulness ist die atención plena – volle Aufmerksamkeit“. Der auch als bodyscan bekannte Vorgang besteht darin, sich zu entspannen und den Körper von den Zehen bis zum Kopf zu beobachten – von der Atmung über sämtliche Impulse. „Mit Neugierde“, betont José Brotons, „ohne Urteile zu fällen oder Bilder im Kopf zu erstellen“. Und wenn ich an einigen Stellen nichts spüre? „Dann ist es auch eine Beobachtung.“

Ablenkung in Ruhe annehmen: Der Strom der Gedanken

Wenn doch ein Gedanke während der 20 Minuten langen Mindfulness-Übung ablenke, werde er, statt mit Frustration, mit „freundlichem Gemüt“ akzeptiert. „Es ist normal, dass der Geist abschweift“, beruhigt Experte aus Spanien. „Mit einem Lächeln kehren wir in Ruhe zur aufmerksamen Haltung zurück.“ Eine weitere Technik heißt flujo de pensamientos – Gedankenstrom. Hierbei beobachten die Teilnehmer nicht Empfindungen im Körper, sondern die eigenen Gedanken. „Diese Übung ist schwer, aber sehr nützlich“, erklärt der Psychologe in seiner Praxis in Alicante.

Der Mindfulness-Experte erklärt weiter: „Wenn eine Idee kommt, identifizieren wir uns nicht mit ihr, sondern stehen als interessierter Beobachter daneben.“ Erneut werde auf Urteile verzichtet, nur das Betrachten zähle. Durch diese Erfahrungen korrigiere der Mensch seine Beziehung zu den eigenen Gedanken und Gefühlen. „Du musst lernen, dass du nicht die schwarze oder weiße Wolke bist, die am Himmel erscheint“, sagt José Brotons, „sondern dass du selbst der Himmel bist“.

Zwei Hände demonstrieren die Bestandteile des Granatapfels Granada Mollar aus Spanien.
Achtsames Granatapfel-Öffnen: „In Wirklichkeit lebt der Mensch von heute einen Widerspruch. Er verzichtet auf den Reichtum der saftigen Frucht, nur um den harten Kern nicht essen zu müssen © Ángel García

Die genannten Mindfulness-Techniken zähle José Brotons zu den formellen Techniken. „Sie dienen als Vorbereitung für die informelle Praxis.“ Diese bestünde darin, die Achtsamkeit auf den Alltag zu übertragen und damit gewöhnliche Handlungen bewusster zu erleben. Als Beispiel dient erneut eine Übung. Die Meditierer greifen in eine Tüte mit Rosinen, holen aber nicht eine Handvoll, sondern nur jeweils eine heraus. Dann legen sie sie in die offene Hand und betrachten sie. „Schaut eure Rosine an“, sagt der Kursleiter, „seht ihre Details, wie einzigartig sie ist“.

Von der Küche zum Strand: Achtsamkeit kann Leben retten

Die Teilnehmer des Mindfulness-Kurses an der Costa Blanca streicheln über die Oberfläche, lassen die Frucht über die Haut gleiten. Langsam führen sie sie an die Nase, erspüren ihren Geruch. „Legt sie vorsichtig in den Mund, aber beißt noch nicht hinein.“ Erst nach einer Weile des behutsamen Schmeckens darf die Rosine in den Magen weiterreisen. Brotons empfiehlt, sich Handlungen zu notieren, die man so zumindest im Ansatz bewusster gestalten kann. Küche, Bad, Schlafzimmer - und im Spanien-Urlaub der Pool, die Hafenmeile oder der Strand - böten dafür eine Vielzahl an Möglichkeiten.

In der Coronavirus-Krise konnte die Achtsamkeit sogar vor einer Ansteckung schützen. Das versicherten auch Mindfulness-Experten in Spanien. Am Strand oder Pool kann die Achtsamkeit sogar Leben retten. Jede Bewegung, ob beim Händewaschen, beim Tragen von Masken, beim Einkaufen, Busfahren oder dem Badem im Wasser und in der Sonne wird bewusster durchgeführt, wenn man sie als Mindfulness-Übung betrachtet. Kleine Rituale vor jeder neuen Handlung seien nützlich, erklärt José Brotons. Auch Mindfulness-Apps auf dem Handy können helfen, um sich ans regelmäßige Abschalten im Geiste zu erinnern.

Freundlich sein - erst zu sich selbst, dann zu anderen

Doch damit die Achtsamkeit Wirkung zeige, müsse - ob Alltag oder Spanien-Urlaub - täglich Zeit für die formelle Praxis eingeplant werden. „Das sollten zuerst 20 Minuten sein“, sagt der Psychologe aus Alicante. Menschen, die zu schnell zu viel wollten, brächen die Praxis oft enttäuscht ab. „Sie rufen mich an und beschweren sich, dass es nicht funktioniert.“ Kritiker behaupten, dass Praktiken wie Mindfulness letztendlich nur zu einem von der Realität losgelösten Kreisen um sich selbst führen. „Tatsache ist, dass auch viele Mindfulness-Bücher sich nur auf die reine Aufmerksamkeit beschränken“, bemängelt José Brotons.

Eine Frau von hinten mit blonden Haaren und Brille hält ein Handy in der Hand.
Das Handy kann bei Mindfulness helfen. Wenn es stört, mache ich es aus. © picture alliance/Friso Gentsch/dpa

„Doch“, so der Mindfulness-Experte aus Alicante, „die richtige Aufmerksamkeit ist nicht neutral oder desinteressiert. Sondern freundlich und mitfühlend.“ Was José Brotons meint, zeigt die nächste Übung, compasión – Mitgefühl. Benötigt wird dafür ein Foto eines anderen Menschen. Man schaut es an und wiederholt im Geiste gute Wünsche. Normalerweise beginne die Technik mit einem Foto eines sehr guten Bekannten: von sich selbst. „Du musst zu dir selbst ein gutes Verhältnis haben, wenn du mit anderen gut auskommen willst“.

Macht Meditation glücklicher, oder hat es mit Alltag nichts zu tun?

Allerdings schafften das in den Mindfulness-Kursen in Alicante viele Menschen schon im Ansatz nicht. „Sie können ihren eigenen Anblick nicht ertragen. Oft, weil sie eine alte Schuld mit sich tragen“, bedauert Experte José Brotons. In diesen Fällen arbeite er mit einem Foto eines jungen Familienmitglieds, oder sogar eines Haustiers. Die Achtsamkeit könne tatsächlich vielen Menschen helfen, meint der Psychologe. Aber verlange dafür auch Opfer: „Du musst regelmäßige Zeiten für die formelle Praxis einrichten. Dich also für eine Weile zurückziehen können und Familie und Alltag allein lassen.“

„Wenn du es richtig machst, verändert sich dein Verhältnis zu deiner Umwelt“, sagt der Mindfulness-Lehrer aus Alicante. Der Mensch werde glücklicher, wenn auch auf eine Weise, die nicht unbedingt empirisch messbar sei. Entsprechend schwer tut sich José Brotons damit, den Ertrag der Meditiation in wissenschaftliche Formeln zu fassen. Ist die Achtsamkeit also doch eine abstrakte Idee, die wenig mit dem Alltag zu tun hat? Führt ihre strenge Einhaltung nicht vielleicht zu noch mehr Stress?

Ohne Urteile und Frustrationen: Mut zum „Off“-Button

Der Psychologe aus Alicante antwortet mit einem Erlebnis: „In einer sehr produktiv orientierten Firma sollte ich mal einen Mindfulness-Kurs leiten. Aber die Meditiationen sollten nicht in der Arbeitszeit der Angestellten stattfinden, sondern in ihrer Freizeit. Das ist natürlich nicht der Sinn der Sache.“ Wer es mit Mindfulness ernst nehmen will, müsse also - auch im Spanien-Urlaub - seine Zeit gut planen. Und auch die Quellen der Ablenkung kontrollieren, bevor sie ihn mit in den Strom reißen. Ohne negative Urteile, ohne Frustrationen kann dazu der „Off“-Button im Smartphone betätigt werden.

Ein langhaariger Mann steht vor Felsen am Meer.
Mindfulness im Spanien-Urlaub: „Lernen, dass du nicht die schwarze oder weiße Wolke bist, die am Himmel erscheint.“ © Photographer: David Revenga Gosa

Kontakt zu José Brotons aus Alicante: (0034) 965 141 235. Wer sich in die Achtsamkeit einlesen will, kommt nicht am Gründer der Therapieform Mindfulness vorbei. Jon Kabat-Zinn gibt im Buch „Im Alltag Ruhe finden“ viele Tipps und erklärt Techniken. Freundlichkeit zu sich selbst erlernt man hingegen mit „Selbstmitgefühl“ von Kristin Neff. Mit Kindern meditiert Eline Snel im Werk „Stillsitzen wie ein Frosch“. Gute Impulse bieten Communities wie „Achtsamkeit in der Familie“ von Sarina Hassine. Die spanische Mindfulness-Vereinigung Aemind finden Sie in Valencia: http://www.aemind.es/

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