Mit Coronavirus in die Armut: Tausende Spanier stehen für Lebensmittel an

Noch bevor die Wirtschaftskrise aufgrund der Coronavirus-Pandemie in Spanien so richtig begonnen hat, scheint die Armut außer Kontrolle zu geraten: Über 100.000 Menschen sind in Madrid von Lebensmittelspenden abhängig. Die Guardia Civil bereitet sich auf soziale Unruhen vor. Doch die lautesten Proteste kommen ausgerechnet von Wohlhabenden.
- Hunderte Bewohner von Madrids Reichenviertel demonstrieren gegen Regierung und Coronavirus-Maßnahmen.
- Über 100.000 Menschen in Madrid sind direkt von Lebensmittelspenden abhängig.
- Spanische Polizei bereitet sich auf soziale Unruhen wegen Wirtschaftskrise vor.
Madrid - „Die Revolte der 1 Prozent“ bezeichnet die Zeitung „El País“ die Szenen, die sich seit dem vergangenen Wochenende vor allem im Barrio Salamanca der spanischen Hauptstadt Madrid zutragen, der „Goldmeile“ wie sie genannt wird. „Die Regierung muss weg“, „Freiheit!“, „Kommunistenpresse“ rufen einige der rund hundert Personen, die sich am Donnerstagabend unter Missachtung aller Abstandsregeln topfschlagend zu einer Demonstration versammeln, um gegen die Politik der Regierung in der Coronavirus-Krise zu demonstrieren.
Spanischer TV-Bericht über die Demos auf der „Goldmeile“:
Geteiltes Spanien: Coronavirus-Krise verschärft soziale Spannungen
Manche tragen Schutzmasken, die meisten nicht, einige haben spanische Flaggen dabei. In die Kameras des öffentlichen Fernsehens RTVE beklagen sie sich darüber, dass sie ihren Coronavirus-Test "aus eigener Tasche bezahlen mussten, 80 Euro!". Natürlich, sie sind privat versichert. Regierungschef Sánchez fahre das Land an die Wand, er nehme die Spanier als Geiseln, sagen einige. Sie benutzen die gleichen Worte wie die führenden Politiker von PP und Vox im Parlament. "Ich zahle meine Steuern, aber die Regierung tut nichts", echauffiert sich einer.
Der Stadtbezirk Salamanca, einer von 21 in Madrid, ist der reichste des Landes. Das Durchschnittseinkommen pro Haushalt beträgt hier 50.380 Euro im Jahr. In der Region Madrid sind es im Schnitt 33.000, im Landesschnitt 28.000, in Andalusien waren es 2019 19.000 Euro. Diese gewaltigen regionalen Unterschiede haben sich seit 70 Jahren nicht verändert. Die Wohnungen im Barrio Salamanca sind im Schnitt 105 Quadrameter groß, hat "El País" herausgefunden. Bewohnt werden sie von 1,7 Menschen pro Wohnung.
Während die Polizei in anderen Vierteln hart durchgreift, hunderte botellones, Gruppenbesäufnisse, auflöst und Präsenz zeigt, fahren nur ab und an ein paar Polizeiautos durch die Straßen im Barrio Salamanca: "Es lebe die Polizei!" - "Marlasksa (der Innenminister der PSOE-Regierung) raus!" Eigentlich müssten sie die Versammlung auflösen, sie verstößt gegen die Notstandsgesetze und ist auch nicht angemeldet. Sie tun es aber nicht. "Wir haben keinen Einsatzbefehl bekommen", erkärt später die Nationalpolizei auf Nachfrage der "Kommunistenmedien".
Die Freiheit, die sie meinen
Madrids Bürgermeister José Luis Martínez-Almeida, ebenfalls PP, findet die Demonstrationen im Barrio zwar „ein Recht“, ihre Umsetzung hingegen „nicht verantwortungvoll“, sie „verletzten die Restriktionen“, die „Sicherheitskräfte müssen reagieren“, verlangt er. Madrids regionale Ministerpräsidentin, Isabel Díaz Auyso von der Volkspartei, PP, verteidigt die Demonstranten. Sie würden ja nur eines ihrer Grundrechte wahrnehmen, „und ein bisschen am Abend kann man schon mal demonstrieren“, meint sie, auch ohne Genehmigung. Ohnehin sei Sánchez „zentrales Kommando in der Coronavirus-Krise diktatorisch“ und er würde Madrid aus politischer Rachsucht nicht in Phase 1 der Deeskalation lassen.
Spaniens Opposition wartet, bis die Krise „Gewinne“ abwirft
Vox-Sprecher Iván Espinosa de los Monteros, aus altem spanischen Adel stammend, beruft eine Pressekonferenz ein: Es werden täglich mehr Spanier sein, die gegen den sozio-kommunistischen Sektarismus auf die Straßen gehen. Man wird dann nicht mehr sagen können, das seien nur Ultrarechte. Spanien erwacht, sagt er unter anderem. PP und Vox lassen die unvermeidlich scheinende Krise für sich arbeiten. Die Regierung Sánchez soll an ihr zerbrechen. Das klappte schon einmal. In der Wirtschaftkrise ab 2008. 2011 übernahm dann Rajoy für die PP vom "Sozialisten" Zapatero.

Der gab den Spaniern im Grunde genau das, was sie jetzt bedauern und was die Gesellschaft so verletzlich macht: Einsparungen im Sozial- und Gesundheitswesen, Privatisierungen strategischer Branchen, einschließlich der Seniroenversorgung, etliche Korruptionsfälle mehr, ein zerschnittenes Tischtuch mit den Separatisten in Katalonien, einen massiven Abbau der Arbeitnehmerrechte und bis heute nicht zurückgezahlte Milliardenhilfen für Banken. Die Freiheit, die sie meinen. Das Barrio Salamanca will die "Freiheit" zurück.
Viele hatten Jobs, aber keine Ersparnisse
Auf der anderen Seite der Stadt schließt die Lebensmittelausgabe der Stiftung Madrina für heute. Essen und Proviant für 2.000 Personen in Armut haben sie selbst verteilt oder abholen lassen. Wie fast jeden Tag seit der Coronavirus-Krise. Einige standen über vier Stunden dafür an, mit Sicherheitsabstand und Maske. Ohne Töpfe. An einer anderen Tafel waren es über 1.000 Menschen, die Schlange über einen Kilometer lang. Bis zu sieben Stunden Wartezeit. Auch hier berichtete das Fernsehen. Menschen, Madrilenen, Latinos, Familien mit Babys berichten. Nicht alle entstammen dem klassischen Prekariat, viele hatten Jobs bis das Virus kam, sind jetzt auf ERTE, haben keine Ersparnisse und warten auf die staatliche Stütze. Die sowieso nicht reicht. Es sind wieder viele junge Menschen dabei, die verlorene Generation von 2008 verliert wieder.
Die Stiftung Madrina verteilt Lebensmittel und sucht Lieferanten, Spender und Freiwillige:
Lebensmittelmarken im Dauerabo
Über 105.000 Menschen sind in Madrid derzeit von Lebensmittelspenden der Hilfsorganisationen abhängig, rechneten diese hoch. Das Rathaus bestätigt diese Zahl, denn die Stadt verteilt im Eilverfahren die Berechtigungsscheine für die Ausgabestellen. Lebensmittelmarken im Dauerabo soszusagen. Doch die Hilfe leisten Staat und Stadt nur zum kleinsten Teil. Die Hauptlast fällt auf die Mildtätigkeit der Mitmenschen, Almosen, Spenden. Es ist das Madrid jener Ayuso, die in einem luxuriösen Apartment eines Hoteliers ihre Coronavirus-Quarantäne verbrachte, der dafür einen großen Auftrag von der Regionalregierung erhalten haben soll. Die Sache wird noch geprüft. Jemand in der Verwaltung wollte ihr was anhängen, sagt Ayuso.
Nachbarschaftsgruppen, organisiert in der Federación Regional de Asociaciones Vecinales de Madrid (FRAVM), betreuen in der spanischen Hauptstadt derzeit an 58 Ausgabestellen 5.580 Familien mit 20.265 Personen. Das ist die Bilanz bis 30. April gewesen. Das Rote Kreuz betreut in der Provinz Málaga zur Zeit schon über 10.000 bedürftige Familien, in Almería sind es 13.000 Menschen, die ohne Spenden von Grundnahrungsmitteln nicht allein über die Runden kommen.

Herz aus Stein: Zum Beispiel Torrevieja
In Torrevieja, Provinz Alicante, ein Hot-Spot des Residenzialtourismus, nahm die Kundschaft allein der Tafel im Zentrum, Alimentos Solidarios, von 300 auf 3.000 innerhalb von zwei Monaten zu. Während man in erster Strandlinie langsam wieder Cocktails ordern kann, spielen sich ein paar Straßen dahinter existentielle Dramen ab. Der dortige Bürgermeister, Eduardo Dolón, hat per Eilbeschluss 765.000 Euro Nothilfe für die nächsten drei Monate bereitstellen müssen, damit die Menschen keinen Hunger leiden. Auch hier sind es Vereine und die Freiwilligen vom Zivilschutz, die die Hilfe zu den Menschen bringen.
Torrevieja sitzt auf 100 Millionen Euro Ersparnissen, an die es aber wegen der Sparauflagen nach der Finanzkrise nicht so einfach herankommt. Im Vorjahr wurde der Stadt der Preis „Herz aus Stein“ verliehen. Die Sozialinvestitionen und -ausgaben der Stadt waren mit 20,73 Euro pro Person die geringsten in ganz Spanien, 70 Prozent unter dem Landesschnitt. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt um die 8.000 Euro - im Jahr.
Fakten gegen Emotionen: Wer möchte in Sánchez' Haut stecken?
Die Coronavirus-Krise hat die Armut in Spanien nicht verursacht, sie bringt sie ans Licht. Ist die Armut schon außer Kontrolle? Regierungschef Sánchez ruft die Parteien zur Einheit auf, immer wieder. Ob und wie viel Hilfe er von der EU erwarten kann, ist noch nicht sicher. Zuerst hilft man Fluggesellschaften. Sicher ist nur, dass die Kreditlinien für Unternehmen schon geöffnet sind, in den Hilfspaketen türmen sich die Steuerentlastungen und Anreize für die Zeit der "neuen Normalität". Zu der werden auch die Lebensmittelpakete für die Ärmsten gehören, die täglich mehr werden, aber keine Lobby haben.
Kommt ein Grundeinkommen, das diesen Namen verdient? Wer wird dazu Zugang haben. Und wann? Und wird es zum Überleben reichen? Braucht Spanien eine Reichensteuer, die Koalitionspartner Podemos vehement fordert? In Sánchez´ Haut möchte man nicht stecken. War am Ende alles ein Fehler, hätte man das Land offen lassen sollen? Sein Gesundheitsminister und die Experten widersprechen mit Fakten. Das Land antwortet mit Emotionen.
Der Wink mit dem Golfschläger
Im Barrio Salamanca von Madrid löst sich die Demo der unfzufriedenen Wohlstandsgesellschaft am Donnerstag langsam in Schwätzchen und Lachen auf, die Leute zerstreuen sich schon mit ihren Töpfen in der Hand, die andere nicht vollkriegen. Da beginnt ein Anwohner damit, mit einem Golfschläger auf ein Verkehrszeichen einzuschlagen. Mit einem Golfschläger. "Der Protest der Vornehmen radikalisiert sich" titelt eine Zeitung am nächsten Tag.
Immerhin, die Guardia Civil scheint auf die kommende Krise vorbereitet. Ein 22-seitiges Geheimpapier, der "Befehl 21/20 Delta Papa", wurde Anfang Mai den Medien zugespielt. Darin liest man von der "hohen Wahrscheinlichkeit" von "konfliktiven gesellschaftlichen Bewegungen" während der Phase des Übergangs in die "neue Normalität" und danach. Die Polizei erwartet "Proteste und Aufstände, die den sozialen Frieden gefährden" könnten, Anschläge auf Parteizentralen, Angriffe von Separatisten, aber auch "Sabotageakte gegen Infrastrukturen". Golfschläger gegen Verkehrsschilder, zum Beispiel.