Coronavirus: Spanien rechnet mit weiteren Infektionswellen

Nur einer von 20 Spaniern hat bisher Antikörper gegen das Coronavirus entwickelt. Das belegt der Prävalenz-Test des spanischen Gesundheitsministeriums. Das Land rechnet damit, dass weitere Covid-19-Infektionswellen kommen werden. Von Herdenimmunität ist Spanien weit entfernt.
- Keine Chance auf Herdenimmunität: Einer von 20 Spaniern hat Antikörper gegen Coronavirus.
- Nur mit Impfstoff kriegt Spanien das Coronavirus klein: Risiko auf Wiederaufflammen der Epidemie.
- Große Feldstudie deckt Fehler und Versäumnisse der Regierung auf.
Madrid - „Wir wissen jetzt, wo wir stehen, die Wissenschaft basiert auf Daten und wir haben jetzt welche von großer Aussagekraft. Die Studie markiert daher in gewisser Weise ein Vorher und ein Nachher im Kampf Spaniens gegen die Coronavirus-Pandemie“, so Wissenschaftsminister Pedro Duque am Mittwoch vor den Medien. Vorgestellt wurde der vorläufige Bericht zur Testreihe ENECovid19, bei der seit 27. April 61.000 repräsentativ ausgewählte Bürger auf ihre Prävalenz getestet wurden, also darauf, ob sie Virus in sich tragen oder trugen, was man an der Anwesenheit von Antikörpern belegen kann. Vorab: Die Wissenschaft hatte in allem Recht. Politik, aber auch die Bürger, tun gut daran, auf sie zu hören.
2,3 Millionen in Spanien haben oder hatten Coronavirus in sich
Laut der Studie habe rund fünf Prozent der Bevölkerung in Spanien Antikörper gegen das Coronavirus gebildet. Damit haben oder hatten hochgerechnet rund 2,3 Millionen der 47 Millionen Einwohner das Virus in sich. Das sind ziemlich genau zehnmal mehr als die offiziell als infiziert Registrierten. Virologen, nicht nur in Spanien, hatten bereits im März immer wieder gesagt, dass die offiziellen Zahlen ungefähr zehn Prozent der tatsächlichen widerspiegeln.
Offizielle Kurve zeigte Entwicklung richtig an - Geographische Unterschiede

Doch auch die Zählweise des Gesundheitsministeriums bekommt durch die Studie ihre Relevanz bestätigt. Ließ es sich eben nicht darauf ein, alle ins Register aufzunehmen, die ungefähre Symptome auf Covid-19 zeigen, sondern nur diejenigen, die man verlässlich testen konnte. Auf diese Weise bildete die berühmte Kurve die Entwicklung der Infektionen ziemlich genau ab, wenn auch im Verhältnis 1:10.
Festgestellt wurden außerdem enorme geographische Unterschiede. Die Prävalenz liegt in Regionen wie Asturias, Murcia oder auf den Kanaren im Schnitt unter zwei Prozent, in den innerspanischen Regionen Castilla-La Mancha und Madrid, aber auch in Katalonien über zehn Prozent. Auch diese Daten belegen die tendentielle Richtigkeit der amtlichen Statistik, überall dort, wo mehr Fälle registriert wurden, ist die Quote jener, die Antikörper entwickelt haben höher, ziemlich genau sogar im Verhältnis.
Coronavirus-Sterberate in Spanien rund doppelt so hoch wie in Deutschland
Weitere Zahlen sagen etwas über die Sicherheit der PCR-Tests aus, denn 87 Prozent jener, die zuvor bereits einmal positiv auf Erbgut des SARS-CoV-2 getestet wurden, bekamen auch Antikörper bescheinigt. Je mehr als typisch beschriebene Symptome der durch das Coronavirus ausgelösten Krankheit Covid-19 angegeben wurden, umso häufiger bestätigte sie sich auch. Die Quote der asymptomisch Infizierten wurde bei rund einem Drittel der Getesten fixiert, auch hier: vorläufig.
Spaniens Gesundheitsminister, Salvador Illa, präsentierte am 13. Mai die ersten Ergebnisse der Antikörper-Studie in den Medien (in spanischer Sprache):
Festgestellt wurde außerdem, dass es keinen signifikativen Unterschied bei der Anfälligkeit für das Cronavirus zwischen Männern und Frauen gibt, dass Kinder weniger, ältere und kranke Menschen deutlich stärker anfällig sind. Die Studie hat außerdem die Korrelation zwischen hoher Bevölkerungsdichte und Mobilität und höherer Ansteckung bestätigt. Die größten Ballungszentren Spaniens liegen bei über 6 Prozent, Orte mit unter 100.000 Einwohnern bei ab 4,3 Prozent abfallend.
Die Zahlen bereiten den Gesundheitsexperten dennoch einige Sorgen. Denn es bestätigt sich auch, dass die tatsächliche Sterberate in Spanien über den geschätzten Daten liegt. Man ging bisher von 0,5 bis 1 Prozent (gewöhnliche Grippe in Europa 0,1 Prozent) aus, kommt aber nun auf 1,3 Prozent Sterberate (IFR), wobei man neben den 25.400 Todesfällen per 3. Mai die 5.900 unter Covid-19-Verdacht stehenden mitgezählt hat, unter anderem aus Madrider Altersheimen.
Auch die Mortalitätsrate variiert regional: In La Rioja beträgt sie 3,2 in Girona und Tarragona noch über 2 in Andalusien kommt sie nicht über 0,5 Prozent. Spanien bleibt damit über dem Schnitt von anderen Ländern, in Deutschland, Frankreich und der Schweiz kommen die maßgeblichen Institute in ihren ersten demographisch belastbaren Tests auf 0,4 bis 0,7 Prozent.
Forcierte Herdenimmunität würde bis zu 300.000 Todesopfer fordern
Die ersten Schlussfolgerungen, die man aus den Zahlen ziehen muss: Von einer Herdenimmunität ist Spanien weit entfernt. Das bedeutet vor allem eins: Solange es keinen wirksamen Impfstoff gibt, wird das Coronavirus immer wieder kommen und immer weiter töten. Wie stark, das hängt auch davon ab, wie gut das Gesundheitssystem reagieren kann. Dabei geht es nicht nur um die Zahl von Intensivbetten und Beatmungsgeräten, sondern um die Fähigkeit, die Erkrankung früh zu erkennen und beaufsichtigt zu lindern, was nachweislich die Überlebenschancen vervielfacht. Es geht aber auch um die Kontrolle in den Phasen der Deeskalation.
„Die sogenannte Herdenimmunität ist für Spanien ungeeignet, um darauf basierend politische Entscheidungen für die Deeskalation zu treffen.“
Wer den Weg der darwinistischen Selektion auf dem Weg zur sogenannten Herdenimmunität ohne einen Impfstoff vorschlägt, - bei der rund 60 Prozent Antikörper haben müssten, um das Virus sozusagen zu sättigen -, nähme 200.000 bis 300.000 weitere Tote billigend in Kauf, also das Zehnfache der jetzigen Zahl. Mehr noch, die Szenen, die wir aus den spanischen Intensivstationen gesehen haben, würden nicht nur zurückkehren, sondern lange zum Alltag gehören. Eine Eissporthalle genügte dann als provisorische Leichenhalle nicht mehr. Andere Erkrankte würden wegen der Überlastung des Systems nicht optimal behandelt, es gäbe also mehr Kollateraltote. Oder man entscheidet sich dafür, Covid-19-Kranke gar nicht oder nur noch jene zu behandeln, die bessere Überlebensaussichten haben. Das wäre selektive Euthanasie, ein Konzept, das mit einem Europa mit humanistischem Anspruch und dem Grundrecht auf Leben und Gesundheit für alle nicht vereinbar ist.
Spanien war schlecht vorbereitet und handelte zu spät
Mit der Grippe, besser gesagt den Grippen, hat die Menschheit einen über hundertjährigen Weg des Kampfes bis zu einer gewissen Koexistenz hinter sich: 26-50 Millionen starben allein an der "Spanischen Grippe" 1918-1920. Gegen die Hauptstämme haben wir Impfstoffe und dadurch sowie durch die Vielzahl der Generationen, die die Krankheit durchlaufen haben, eine gewisse Grundimmunität erlangt. Dennoch raffen die jährlichen Wellen mit ihren Mutationen weiter Zehntausende dahin. Man male sich also die Wirkung aus, wenn man ein Virus, gegen das es weder Impfung, noch Grundresistenz gibt, sich selbst überließe.
Zwei weitere Schlussfolgerungen der Studie, die miteinander zusammenhängen: Spanien hat die erste Welle der Coronavirus-Krise weniger gut gemeistert als andere Länder. Aus objektiven Faktoren wie dem hohen Altersdurchschnitt der Bevölkerung, aber auch wegen hausgemachter Fehler und falscher Einschätzungen. Das Land war sanitär schlechter auf eine Pandemie vorbereitet als Länder wie Deutschland, Singapur oder Südkorea. Letztere waren durch Sars und Mers gewarnt. Spanien hat zudem zu spät mit Gegenmaßnahmen reagiert, vor allem weil man eben nicht rechtzeitig über Daten verfügte, wie man sie jetzt hat.
Der Gesundheitssektor wurde jahrelang zu Tode gespart, 5,3 Mitarbeiter im Gesundheitswesen pro 1.000 Einwohner in Spanien stehen 8,2 im EU-Schnitt gegenüber. Deutschland hat allein schon vier Ärzte pro 1.000 Einwohner vorzuweisen. Die Testlabors der Institute, die dem Gesundheitsministerium angegliedert sind, wie das CSIC wurden seit 2008 zum Teil um zwei Drittel beim Personal reduziert.
Lockdown war so schmerzhaft wie notwendig: Coronavirus bringt Armut ans Licht, löst sie aber nicht aus
Und Spanien hat noch ein Problem. Es ist - trotz allen Defiziten - eine Demokratie: Hier hat die Regierung wenig Chancen, die tatsächlichen Zahlen und Auswirkungen zu verheimlichen, zu ignorieren oder zu unterdrücken, so wie es ein Bolsonaro in Brasilien, ein Putin in Russland oder sogar in der EU ein Orbán in Ungarn machen kann, der kaum testet, Zahlen frisiert, Schwerkranke aus den Krankenhäusern räumt, um Platz zu schaffen und mittlerweile Oppositionelle, die seinen Führungsstil zu kritisieren wagen, von der Polizei abholen lässt.
Was bedeuten diese Feststellungen und die Prämisse, sich den "Luxus" erlauben zu wollen, dem Leben, - auch jenem der Alten -, Priorität einzuräumen? Die Ausgangssperre und der Lockdown der Regierung Sánchez waren schmerzhaft, aber notwendig. Ebenso notwendig ist die vorsichtige Deeskalation und so wahrscheinlich ist auch, dass wir mehrere Rückfälle und neue Wellen von Covid-19 ertragen und aushalten müssen - weitere Notstandsmaßnahmen inklusive.
Teile von Politik und Gesellschaft setzen dem entgegen, dass der wirtschaftliche Einbruch ebenso schädlich, ja "tödlich" sei wie das Virus. Das sehe man bereits an den Schlangen Zigtausender vor den Ausgabestellen der Tafeln, an den Arbeitslosenzahlen oder Pleiten von kleinen Unternehmen und Selbständigen. Doch dem ist entgegenzuhalten: Nicht der Lockdown oder die Ausgangssperre haben die Armut in Spanien verursacht, sie und der Virus bringen das Elend nur gnadenlos ans Licht.
Wissenschaft und Ethos: Armut ist kein Naturgesetz
Im Grunde gilt für die Armut Ähnliches wie bei der Krankheit: Ist man besser darauf vorbereitet, kann man sie besser bekämpfen. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Armut ist kein Naturgesetz, dem man ausgeliefert ist, sondern ein gesellschaftlich zugelassener Zustand, gegen den es Abhilfe gibt. Während eine kleine Gruppe Privilegierter durch ihr Geld sozusagen einen Impfstoff besitzt und eine weitere Mittelschicht durch Ersparnisse und höhere Flexibilität am Arbeitsmarkt eine gewisse Widerstandsfähigkeit haben, sind die schwächsten Gruppen der Gesellschaft am anfälligsten. Doch im Unterschied zur Gesundheit der Menschen, wo die Gesellschaft allen das gleiche Recht zugesteht, wenn sie es auch nicht überall gleich umsetzt, wirkt in der Wirtschaft Spaniens, wie in der Marktwirtschaft allgemein der Sozialdarwinismus, also das Recht des Stärkeren. Diese verweigern den Schwächeren den Schutz, der ihnen zusteht. Die Politik muss dagegensteuern.
Erhöhte Ansteckungsgefahr: Bis zu sieben Stunden stehen Arme in Madrid bei der Tafel für eine Ladung Grundnahrungsmittel an:
Ein Land, das ohnehin weniger zu verteilen hat, kann auch weniger umverteilen. Wenn es aber dazu auch noch den sozialen Aspekt über Jahre verdrängt oder unterdrückt hat, wie das Spanien seit der Finanzkrise besonders grausam vorgeführt hat, sind die Bilder und Zahlen eben jene, die sie sind. Nicht nur die jetzt schon Armen, eine ganze Generation, übrigens die gleiche, die schon die Zeche der Finanzkrise zahlte, bleibt wieder ohne "Behandlung" und Schutz. Spanien braucht Hilfe, auch von der EU - und einen Politikwechsel.
Warum bekämpft man die gesellschaftliche Krankheit Armut also nicht nach den gleichen Maßstäben wie das Coronavirus, wenn sie doch mindestens so gefährlich ist? Auch hier wäre der Schluss ziehen, dass die Politik der Wissenschaft folgen müsste. Es ist eine Frage der Prioritäten und letztlich des Ethos. Denn gegen Armut und Verelendung, die nicht naturgegeben sind, sondern auf strukturellen Ungerechtigkeiten beruhen, gibt es vielleicht keinen Impfstoff, wohl aber Rezepte, gesellschaftliche Antikörper sozusagen, die zumindest eine deutliche Linderung brächten.