„Als der weise Jentil das Licht am Himmel sah, rief er: ,Kismi ist gekommen‘“, erzählt Bergara weiter.
Kismi bedeutete in der Sprache der Jentiles „Affe“, und damit meinten die Riesen wohl, dass Jesus Christus geboren sei. Der alte Jentil erklärte daraufhin, die Zeit der Riesen sei nun beendet und die von Jesus angebrochen, und stürzte sich von einer Klippe. Alle anderen Riesen versteckten sich unter den Dolmen und verschwanden in der Erde. „Alle, bis auf einer. Dieser ging hinunter in die Dörfer und erzählte den Menschen von der Ankunft Kismis, Jesus Christus“, sagt Bergara. Die baskische Version der Weihnachtsgeschichte war geboren, man hatte eine Figur, die die frohe Kunde verbreitete, und eine Legende, die bis heute erzählt wird. Etwa 1.000 Jahre ist es her, dass sich das Christentum im Baskenland verbreitete und den Glauben an die alte Mythologie schrittweise ablöste, vergleichsweise spät also. Doch die Basken waren ja schon immer eigen.
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Sie haben mit dem Euskera eine Sprache, von der niemand so recht weiß, woher sie eigentlich kommt, und die mit keiner anderen Sprache verwandt ist. Und sie haben eben ihre eigene, uralte Mythologie. Geschichten und Legenden werden zwar überall erzählt, doch nirgendwo so, wie im Baskenland, und kaum irgendwo anders dürften sie bis heute so lebendig sein wie in Euskal Herria. Eben weil die Basken recht spät das Christentum für sich entdeckten, aber auch, weil die baskische Mythologie stets nah am Volk war.
Während die Griechen ihren Zeus auf den Olymp verbannten und die Römer Jupiter gar in den Himmel, sind die Protagonisten der baskischen Mythologie da, wo eben auch die Basken sind: In den Wäldern und Seen, auf Bergen und in Höhlen. Der Basajaun zum Beispiel, der Herr der Wälder, den die Schriftstellerin Dolores Redondo zum Auftakt ihrer Bestseller-Trilogie aus dem Baztan-Tal in Navarra einem breiten Publikum des 21. Jahrhunderts vorstellte. Er ist in den Wäldern des Baskenlandes anzutreffen, trägt dichtes Fell, und zum Naserümpfen der Basken wird er auch als baskischer Yeti bezeichnet.
„Der Basajaun hat eine sehr enge Verbindung zu den Schäfern. Er zeigt sich, um vor drohenden Unwettern zu warnen oder um Wölfe zu verscheuchen, die der Herde zu nahe kommen. Die Hirten danken es ihm mit Brot, Milch oder was sie sonst erübrigen können“, sagt Bergara. Natürlich haben die Basken auch einen einäugigen Riesen, den Tartalo, und so etwas wie Nymphen, Lamiar genannt, es gibt Hexen, die Sorginak – und über allem steht die Göttin Mari.
„Eine Besonderheit der baskischen Mythologie ist, dass alle Wesen einer Matriarchin unterstehen“, sagt Bergara. Wer einen Basken fragt, wo die Göttin Mari, die vermutlich ursprünglich mal eine Fruchtbarkeitsgöttin war, anzutreffen ist, bekommt als Antwort den Berg Anboto. Hier lebte Mari sieben Jahre lang, bevor sie weiterzog zum nächsten Berggipfel, auf einem Karren, der von Widdern gezogen wurde und umhüllt von einem Feuerballen, sodass die Basken den Umzug gut von der Erde aus beobachten konnten. Von Mari hängt alles ab, Glück und Unglück, Leben und Tod, eine gute oder eine schlechte Ernte.
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„Die Geschichten aus der baskischen Mythologie wurden bei der mündlichen Weitergabe ausgeschmückt, es wurde hinzugefügt und weggelassen, von Region zu Region entwickelten sich eigene Versionen. Doch wenn man all die Verzierungen wegkratzt, kommt man immer wieder zur eigentlichen Essenz zurück“, sagt Bergara. Eine Essenz, die wie alle Mythologien und auch Religionen stets versuchen, Antworten zu geben auf die Fragen, die die Menschen seit jeher beschäftigen: Warum gibt es uns? Warum sind wir hier? Wie können wir Dinge erklären, für die wir keine logische Erklärung haben? „Es ist eine Art und Weise, die Welt zu verstehen. Heute leben wir längst in einer anderen Zeit, natürlich. Aber viele Elemente aus diesen Geschichten sind bis heute thematisch aktuell“, sagt Autor Bergara.
Auch deshalb versucht er, Kinder, Jugendliche und Erwachsene für die uralten Legenden zu begeistern. Manche werden sich seit Jahrzehnten, andere seit Jahrhunderten, ein paar sogar seit über 1.000 Jahren erzählt. Mit seinen Büchern hat Bergara es geschafft, den wichtigsten Legenden und Wesen aus der baskischen Mythologie ein neues, aktuelles Gewand zu verpassen, mit vielen Illustrationen und Zeichnungen. Und er hat sich mit einer Gruppe aus Navarra zusammengetan, die die mythischen Wesen aus Schaumgummi nachbaut und mit ihnen bei Volksfesten auftritt. Daraus sind Videos entstanden, die heute in baskischen Schulen gezeigt werden.
Bergara geht es darum, der nächsten Generation ein Stück dieser fantastischen Welt zu zeigen. „Wir haben eine ganz eigene Kultur. Dabei ist unsere Sprache vielleicht das wichtigste Element. Aber es gibt auch die alten Tänze, die Instrumente, die Musik – und die Mythologie“, so Bergara. Für Erwachsene schreibt er gerade am dritten Teil einer Thriller-Trilogie, in der die Jentiles, jene Riesen, eine wichtige Rolle spielen. Seine Kollegin Dolores Redondo hat es schon geschafft, Menschen für all diese seltsamen Wesen zu begeistern. Ihre Bücher wurden in 38 Sprachen übersetzt, die Baztan-Trilogie in deutsch-spanischer Zusammenarbeit verfilmt. Elizondo, das Dorf in Navarra, in dem die Geschichten spielen, erfreut sich eines touristischen Booms, es gibt Führungen zu den Romanschauplätzen, 2021 wurde der Werbespot zur Weihnachtslotterie, dem weltberühmten Gordo, hier gedreht.
Vollkommen verdient: Hier oben, in den Pyrenäen, hinter den dicken Mauern der Steinhäuser, lebt ein Volk, das es sich lohnt, kennenzulernen. Mit seiner atemberaubenden Landschaft, seiner komplizierten Sprache, bei der die Buchstaben wahllos aneinandergereiht zu sein scheinen, und seiner so einzigartigen Kultur. Und wer einmal durch ein baskisches Dorf geschlendert, die Sierra de Aralar hinaufgestapft oder im Nebel durch den Irati-Wald spaziert ist, dem mag es gar nicht mehr so unwahrscheinlich vorkommen, dass plötzlich eine Gruppe von Zwergen mit roten Hosen hinter einem Baum auftauchen könnte.