Aus Südtirol könnten die Verrückten kommen, die Bären aus Ungarn oder Rumänien, zumindest k.k.-Land. Dafür sprächen rote Stoffstreifen auf den Blusen der Tänzer. Doch Genaues weiß hier keiner mehr, Jahrzehnte waren die Tänze vergessen, zwischendurch sogar verboten. Ethnologen zweifeln: Es könnten genauso gut Bauerntänze anderer spanischer Gegenden sein, heidnische Iberer-Riten, die Rhythmen keltisch. Nur Deutsches, das lässt sich hier nicht identifizieren.
Die kulturellen Identitäten der Einwanderer verschwanden damals in kürzester Zeit, anders als z.B. in Rumänien oder Ungarn. Denn bis auf den christlichen Gottesglauben hatten sie auch kaum gemeinsame Kultur, sprachen verschiedene Sprachen und Dialekte, aßen nicht einmal das Gleiche (in der Küche Córdobas ist keine Spur deutsches zu finden), sie kamen schließlich aus aller Herren Ländern, wahrscheinlich höchstens 40 Prozent aus deutschen. Spanisch, das ihnen Priester beibrachten, wurde von Tag eins ihre gemeinsame Sprache, ihr Neuanfang im vermeintlichen Paradies. Erst in Spanien wurden sie zu einer Gemeinschaft.
Fuente Carreteros, das Dorf der Bären und Verrückten, ist eine von drei Dutzend Neugründungen, alle entlang der alten Vía Augusta, später Camino Real, dem Königsweg, der sich durch die Sierra Morena schlängelt und die Häfen Südspaniens mit Madrid verbindet. Um 1760 herrschten hier die Bandoleros. Wegelagerer und Schmuggler, aber auch Freiheitskämpfer in eigener Sache; machten Reisenden, Händlern und Steuereintreibern das Leben zur Hölle. Auf eine Guardia Civil musste man noch fast 100 Jahre warten. Die Bourbonen, erst seit ein paar Jahrzehnten, seit Ende des Erbfolgekriegs, auf Spaniens Thron, hatten das Land noch nicht so richtig im Griff, während das Imperium in Übersee zusehends zerbröckelte.
Der aufgeklärte Absolutist, Carlos III., eiferte mit seinen Reformen Vorbildern wie Friedrich dem Großen von Preußen nach, legte Kirche und Konvente, aber auch den Adel an kürzere Leinen, wollte sein Land modernisieren, im Rahmen seiner Unantastbarkeit von Gottes Gnaden eine gerechtere Gesellschaft entwerfen. Von Modellkommunen war die Rede, sogar vom „neuen Menschen“. Aber mit welchen Menschen? Seit 150 Jahren war die Gegend leergefegt, nicht die einzige Region in Spanien, die das betraf.
Denn als Spanien Anfang des 17. Jahrhunderts die letzten Morisken, konvertierte Moslems, denen Spanien 800 Jahre Heimat gewesen war, vertrieben hatte, verkamen Felder, versiegten die sprudelnden Wassergräben von Al-Ándalus, verfielen die Siedlungen. Kriege und Seuchen setzten Spanien zu, das Weltreich kostete schon lange mehr, als geplündertes Gold und andere Rohstoffe einbrachten. Carlos III. erkannte, dass er sich mehr um das Stammland kümmern musste. Nur war die Erde am Mittellauf des Guadalquivir nicht so freigiebig wie im sonst damit verwöhnten Spanien, das Meer weit weg, das hügelige Terrain beschwerlich, die Sommer unerträglich und die Winter kälter als an der Küste. Kein Spanier kam freiwillig her, selbst wenn er gedurft hätte.
Die Nuevas Poblaciones Andaluces, ein umfangreiches Besiedlungsprogramm, sollten der Region weit weg vom Schuss neuen Schwung geben, als Experimentierfeld und Vorbild für weitere Landstriche Spaniens dienen. Doch Europa hatte gerade den Siebenjährigen Krieg hinter sich, Menschen waren ein knappes Gut, arbeitsfähige Katholiken ohne Vorstrafen – denn nur die wollte Carlos – fast eine Rarität, die die Herren ihrer Lande selbst ausbeuten wollten und hüteten wie ein Schatz.
Da diente sich bei Hofe in Madrid ein ganz besonderes Exemplar deutschen Geschäftssinnes an, ein gewisser Herr Thürriegel aus Bayern. Er schaffte es dank Kratzfußes und hochstehender Kontakte aus Diplomatie und Militär, sich die exklusive Anwerbelizenz beim spanischen König zu beschaffen. Dabei kam Thürriegel zugute, dass Carlos als Reformkönig nicht nur wegen Friedrich des Großen eine gute Meinung über die „Teutschen“ hatte. Auch die zigtausenden deutschen Soldaten, die für Spanien unter Sold kämpften, hatten einen, nunja, robusten Ruf. Und schließlich betrat Carlos den spanischen Thron 1759 mit Maria Amalia von Sachsen an seiner Seite, mit der er 22 Jahre lang verheiratet war und mit der er zuvor gemeinsam Sizilien und Neapel regiert hatte. Sie heirateten zwar aus dynastischem Kalkül, wie damals üblich, sollen sich aber innig geliebt haben. Als die Wettinerin mit Habsburgischer Mama, Maria Amalia, 1760, nach nur einem Jahr in Spanien und noch keine 36 Jahre alt, an Tuberkulose starb, soll Carlos gesagt haben, dass ihr Tod „der einzige ernsthafte Verdruss war, den sie mir in 22 Jahre Ehe bereitete“.
Hätte König Carlos den Johann Kaspar von Thürriegel damals googeln können, hätte er sich die Sache vielleicht nochmal überlegt. Denn der war ein ausgemachter Glücksritter, ein Emporkömmling aus verarmtem bayerischen Landadel, der zum Abenteurer zwischen den Fronten wurde. Er diente als Oberstleutnant in drei Armeen, nahm an den Schlesischen Kriegen für Bayern, dann für Frankreich teil. Im Siebenjährigen Krieg führte er ein preußisches Freikorps, überwarf sich mit einem Kommandeur aus den eigenen Reihen und wurde vom Alten Fritz als französischer Spion in den Kerker geworfen, wo er Schmähschriften gegen seine Feinde und Verleumder verfasste.
Doch Carlos III. stellte die Real Cedula, das Königliche Edikt auf Thürriegels Namen aus, das nur ihn zur Anwerbung von 6.000 „Flamencos y Alemanes“, also Flamen und Deutschen berechtigte. Das Projekt Spanien war für den aus Gnade entlassenen Thürriegel wie ein Lottogewinn. Schnell baute er ein Pyramidensystem von Anwerbern auf, um „gute Katholiken“ vor allem aus Süddeutschland, der Schweiz, dem Elsass, den Niederlanden und bis hinunter in die k.k-Erblande der Österreicher dazu zu bringen, in den südlichsten Zipfel Europas auszuwandern, mit wenig mehr als einer Wagenladung Hab und Gut und dem Versprechen auf ein Stück Land unter der Sonne und einer gewissen Freiheit von ständig wechselnden Herren und stetem Krieg. Thürriegel versprach ihnen regelrecht das Paradies auf Erden.
Die Bewerber bekamen eine Karte in die Hand gedrückt und die Empfehlung, die Nordroute über das Baskenland zu nehmen und eine Pilgerreise auf dem Jakobsweg zu fingieren, sodass sie niemand aufhalten oder rekrutieren konnte. In Pamplona ließ er die Leute einsammeln und bog mit ihnen nach Süden ab. Andere schiffte er in Genua ein und brachte sie nach Cádiz.
Doch die Sache sprach sich natürlich rum, Thürriegel kam auf die Fahndungslisten, wurde bald in halb Europa gesucht: „Es ist ein gewisser sich so nennender Thürriegel, welcher vorgibet für des Königs in Hispanien Majestät mehrere teutsche Leute zu künftigen Unterthanen anzuwerben den Auftrag und die Vollmacht zu haben; wie er dann auch zu dem Ende eigene Büchel mit allerhand ansteckenden Versprechungen verteilet, einfältige, guthmüthige Gemüter zu bethören und an sich zu ziehen trachtet...“. So leitet die Kaiserlich-Königliche Oberamtskanzley derer Graf- und Herrschaften Bregenz, Hohenems und Hohenegg ein Warn- und Bannschreiben vom Dezember 1767 ein.
323 Reales bekam der königlich privilegierte Menschenhändler für jeden eingewanderten Kopf, das sind umgerechnet in heutige Kaufkraft ungefähr 2.000 Euro. Thürriegel, der selbst die Armut kannte, wurde mit der Hoffnung armer Schlucker steinreich. Doch die Gier ist ein Hund, wie man auch in Bayern sagt, Thürriegel bekam den Hals nicht voll und nahm es mit den „unbescholtenen Katholiken“ bei dieser Kopfprämie nicht allzu genau. So schleppte er auch eine Reihe zweifelhafte Gestalten, menschliches Treibgut der Nachkriegszeit nach Spanien, ja, sogar Protestanten sollen darunter gewesen sein. Gesellenzeugnisse wurden frech gefälscht, denn für „Facharbeiter“ gab es noch eine Prämie obenauf. Nicht wenige, denen die Justiz in deutschen Landen auf den Fersen war, nutzten diese Gelegenheit, sich nach Spanien zu verdrücken. Das Kolonialisierungsbüro in La Carlota fand das alles gar nicht witzig, denn die Beamten hatten sich vor ihrem König zu verantworten.
Die königliche Kolonialverwaltung agierte hier ähnlich, als handelte es sich bei den „Nuevas Poblaciones“ um ein Stück „Neue Welt“. Es war so auch kein Zufall, dass an die Spitze der Behörde mit Pablo de Olavide ein Mann mit reichlich Kolonialerfahrung gesetzt wurde. Olavide wurde in Lima, der heutigen peruanischen Hauptstadt, geboren und war ein weltgewandter Jurist, ein hochgebildeter Humanist, Autor, Philosoph und bekannt als glühender Reformer und Verwaltungsgenie.
Olavide, dem der König vertraute, ging die Sache generalstabsmäßig an: Zuerst wurden in jeder neuen Siedlung ein Verwaltungsgebäude und eine Kirche errichtet, die Militärgarnisonen konnte er sich sparen, denn „die Deutschen“ machten selten Ärger. Die Neuankömmlinge bekamen einen Pfarrer in ihrer Sprache, Spanischunterricht, Baumaterial für ein Häuschen, ein Stück Land, Saatgut, Vieh, wenn es denn welches gab, und weitgehende Abgabenbefreiung. Das war mehr, als sie in der alten Heimat je erhoffen durften, vor allem waren sie im Rahmen des Genehmigten Herren ihrer selbst und das war in der damaligen Zeit fast revolutionär.
Das Projekt entwickelte sich relativ schnell, denn Thürriegel hatte weniger als ein Jahr Zeit bekommen, seine Menschen-Quote zu erfüllen, und die Kolonialverwaltung zeigte sich sehr zufrieden mit der Anpassungsfähigkeit der Neuen: Die heterogene, vielsprachige Herkunft, aber wohl auch der Umstand, dass nicht wenige der Auswanderer einiges Kerbholz zurückließen, beschleunigte den Prozess der Assimilierung. Der Neuanfang auf Spanisch war ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Der Hunger trieb zusätzlich an.
Nur wenige Jahre nach der Gründung der „Nuevas Poblaciones“ meldete die Verwaltung entlang der 180 Kilometer Südflanke der Sierra Morena zwei Dutzend richtige Ortschaften mit 26 Kirchen, rund 2.000 Häuser verteilten sich auf Gemeinden und Ländereien, Menschen heirateten, gebaren Kinder, feierten Feste. Friedhöfe wurden angelegt, 1769 in La Carlota der erste in Spanien ganz außerhalb der Stadtmauern, aus Gründen der Hygiene. Die Kolonisten lebten zunächst von der Landwirtschaft, pflanzten Obstbäume und Brombeersträucher, Olivenbäume und eine halbe Million Weinstöcke. 20 Mühlen wurden errichtet und es gab auch etliche Wirtshäuser und - natürlich - eine deutsche Brauerei.
Doch so gut sich die Bilanz liest, stand das Projekt doch mehrfach am Rande des Scheiterns. 1768/69 wüteten gleich mehrere Epidemien unter den Siedlern, die Pocken und das Fleckfieber (Typhus) dezimierten die Zahl der „Deutschen“ so sehr, dass einige Orte gänzlich aufgegeben wurden. Carlos gestattete eine seltene Ausnahme: Zur Auffüllung der gelichteten Reihen wurden Familien aus Valencia, speziell aus Alicante umgesiedelt. 1770 kam Carlos das Wetter zu Hilfe, denn durch mehrere massive Missernten in Mitteleuropa zum Ende der „Kleinen Eiszeit“ machten sich nochmals Menschen in den Süden auf und schlossen sich den Siedlern der Sierra Morena an.
Doch die Neuen konnten nicht überall vollständig von der Kolonialverwaltung überwacht und auch beschützt werden. So nutzten in vielen Orten alte Gutsherren die Armut der Einwanderer maßlos aus, rissen sich ihre vom Staat bereitgestellten Felder und Geräte für etwas Nahrung unter den Nagel. Als billigste Arbeitskräfte trieben sie die armen Seelen wieder in Leibeigenschaft. Die Einwanderer gerieten mitten in einen Machtkampf zwischen dem alten Spanien und den ambitionierten Plänen der Karlschen Aufklärung. Der hatte 1767 4.000 Jesuiten enteignet und aus dem Land gejagt, ihre Schulen verstaatlicht, die Rechte der Großgrundbesitzer, also meist des Adels, stark beschnitten und so an der alten Ordnung gerüttelt. Spanien stand kurz vor einem Bürgerkrieg.
Diese alte Ordnung, die auf den Privilegien der „Altchristen“ ruhte, die sich auf das Gesetz des reinen Blutes, des ersten Rassengesetzes Europas noch unter den Katholischen Königen am Ende des 15. Jahrhunderts beriefen, war der alten Elite so „heilig“, dass wieder einmal die Inquisition einspringen sollte. Die sorgte schon seit hunderten Jahren dafür, dass vor allem ökonomische Konkurrenten unter Morisken- oder Kryptojudenverdacht gestellt und so umstandslos enteignet und entsorgt werden konnten. Jede Art von Reformeifer oder Progressivität konnte so unterdrückt werden, auch Könige machten davon rege Gebrauch, denn die Inquisition wurde 1478 in Sevilla als Allianz von Kirche und Staat, als Symbiose der Macht gegründet.
Sie abzuschaffen, das traute sich auch der reformfreudige Carlos III. nicht, zumal auch er einige zu freiheitliche Geister in ihren Kerkern schmoren ließ. An den aufgeklärten König selbst, den die Kirche durchaus für einen Ketzer, gar Freimaurer hielt, einen Kirchenfeind mit zu vielen modernen Ideen, traute sich aber sogar das „Santo Oficio“ nicht heran. Die Bande zwischen beiden waren einfach zu wichtig, zu heilig, beide brauchten sich. Die katholische Kirche war und ist überall, aber in Spanien besonders, die wichtigste Machtstütze der Besitzenden. Sie lehrt die Unterodnung, das Oben, das Unten, das knien und das dulden. Das hielt die Inquisition aber nicht davon ab, sich auf Carlos’ Untertanen zu stürzen, wie den „Peruaner“.
Pablo de Olavide, Chef der Kolonialverwaltung für die Neuen Siedlungen in Andalusien, stand ganz oben auf deren Liste. Er setzte nicht nur Carlos’ Willen durch, sondern prangerte auch Amtsmissbrauch von Beamten, Korruption und Diebstähle an, ohne Rücksicht auf Stand und Ansehen. Als er 1769 nach La Luisiana kam, das am nächsten zu Sevilla gelegene Siedlungsprojekt, sorgten seine offenen Berichte an Carlos sogar für den Einsatz von Militär, damit die königlichen Direktiven durchgesetzt werden konnten.
Olavide fand Luisiana komplett verwahrlost vor, unter der Knute heimischer Gutsherren: „Nur unter Qualen konnte ich den Anblick des furchtbaren Zustands (der Siedler) ertragen. Die meisten leben in langen Baracken aus Holz, ein Brett dient als Dach, die Hitze zermürbt ihre Gesundheit. Doch selbst in den wenigen festen Häusern leben sie von fast nichts. Da ist es schon besser, jede Familie lebte getrennt von den anderen nahe den Feldern, gut durchlüftet, doch die Materialien dafür kamen nie an. Aber hier in den Baracken sind sie zu über Hundert zusammengepfercht, alt mit jung, die Gesunden zusammen mit den Kranken, alle ausgeliefert dem Dreck, der Unordnung und der Ansteckung“.
1778 holte sich die Inquisition Olavide und verbannte ihn für mehrere Jahre unter dem Vorwand, unerhörte religions- und kirchenkritische Schriften verfasst und verbreitet zu haben. Er musste Frondienst in mehreren Klöstern ableisten und floh dann nach Frankreich. Das sollte auch eine Warnung an Carlos sein, es mit den Neuerungen nicht zu übertreiben. Doch längst investierten spanische Unternehmer, die ihr Geld in den Überseekolonien gemacht hatten, die aber bald nicht mehr haltbar waren, in die unter königlichem Schutz stehenden „Colonias Alemanas“. Dieses Kapital brauchte keine Kirche mehr. Schon ab den 1770ern entstanden so Textilfabriken für Leinen und Seide, auch Hutfabriken und Porzellanmanufakturen. Mit Napoleon breiteten sich die Kinder und Enkel der Eingewanderten aus, gründeten auf eigene Faust weitere Orte, viele „Villanuevas de...“ in ganz Andalusien gehen auf sie zurück. 1835 dann verloren die Binnenkolonien ihren steuerlichen Sonderstatus und wurden komplett in die spanische Administration eingegliedert.
Für Thürriegel, der seit 1767 in halb Europa per Haftbefehl gesucht, vom spanischen König aber zum Oberst befördert wurde, ging die Sache nicht günstig aus. Zwar kassierte er ein Vermögen, spekulierte damit aber, fühlte sich in Spanien allzu sicher. 1787 wurde der 65-Jährige wegen Zoll- und Steuervergehen zu zehn Jahren Festungshaft in Pamplona verurteilt. Bayerische Heimatforscher wollen auch dafür die Inquisition verantwortlich machen, was spanische Historiker aber widerlegen konnten. Es stimmt, die Hofcamarilla intrigierte neidisch gegen den Deutschen, der Verurteilung liegen aber tatsächlich Wirtschaftsvergehen zu Grunde, Thürriegel verwickelte sich in den betrügerischen Bankrott eines ehemaligen Geschäftsfreundes. Ihm mag es wenig Trost gewesen sein, dass aus dem gleichen Grund wie er einst ein Miguel de Cervantes schuldlos ins Gefängnis gesteckt wurde.
Thürriegel gelang nach kurzer Zeit durch Bestechung die Flucht, was zur Absetzung des Festungskommandanten von Pamplona führte. Er wusste, dass er nicht nach Mitteleuropa flüchten konnte, selbst in Frankreich hätte er nur untergetaucht leben können. Außerdem kränkelte er zusehends. Seine letzte Hoffnung war es da, sich seinem König Carlos vor die Füße zu werfen, um Gnade zu betteln, schließlich hatte er Spanien so viel gebracht. Doch der aufgeklärte Monarch achtete das Urteil der Gerichte und steckte Thürriegel umstandslos wieder ins Gefängnis. Der Kaspar hatte seine Schuldigkeit getan, der Kaspar musste gehen. Und so schlossen sich die Thürriegel erneut hinter selbigem, wenn auch nicht mehr in einem Kerker mit Ketten und Ratten, sondern in einer Suite.
Gaspar de Turrijel, wie die Spanier den bayerischen Sonderling namentlich verunstalteten, starb dort im Januar 1800, wurde neben der Kirche der Zitadelle schmucklos begraben, hinterließ seiner Witwe, der Gräfin von Schwanenfeld, noch ein beachtliches Erbe und „eine Menge Möbel, die sie sich bitte abholen möchte“, wie die Behörden ihr schrieben. Thürriegels Gattin war angeblich die uneheliche Tochter von König Karl Albrecht von Bayern, kurzzeitg Kaiser Karl VII. Ob das stimmt oder nicht, die Geschichte ist ein echter Thürriegel.
La Carlota, La Luisiana, La Carolina und die anderen Gründungen der Kolonisten sind heute, wenn sie nicht verfallen sind, durch und durch spanische Gemeinden, tiefstes Andalusien. Immer wieder verließen junge Generationen die Dörfer in Randlage, mal für den Bergbau in Galicien, mal für den Landbau in der Mancha oder die Fabriken Kataloniens. In den 1960er Jahren kehrten etliche dem tief verarmten Franco-Spanien den Rücken und zogen als Gastarbeiter Richtung Wirtschaftswunder-Deutschland. Ironie des Schicksals: Sie kehrten in die Heimat ihrer Vorfahren zurück, aus der die einst ins vermeintliche Paradies gelockt wurden. Gleichzeitig zogen nun von dort die ersten Residenten in ihr spanisches Paradies am Mittelmeer.
Die „deutschen Orte“ in der heutigen Provinz Jaén gehören heute mit der höchsten Arbeitslosigkeit und Armut zum „leeren“ Spanien. Die Bandoleros sind zurück, als gut vernetzte Drogenbanden und auch die señoritos haben sich gehalten. Der Mensch lebt nicht von Sonne und Oliven allein. Wer von den jungen Leuten weg kann, der geht auch heute noch. Die alte Ordnung scheint gesiegt zu haben. Und es gibt wieder Deutsche, die zum Arbeiten, diesmal im Home-Office in Andalusiens Dörfer auswandern.
Am 28. August feiern die Daheimgebliebenen in La Carlota, wo 1767 alles begann, die „verbena del emigrante“, den Tag des Einwanderers, im Andenken an jene, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben kamen. Das Dorfmuseum, das Ecomuseo, haben sie ihrer Geschichte gewidmet, mit alten Gerätschaften, Fotos, Karten, einer deutschen Bibel und bemalten Ostereiern – die sollen „die Deutschen“ nämlich auch mitgebracht haben, auch wenn sie vielleicht Rumänen waren. In Luisiana und Carolina feiern sie das „Fest des deutschen Bieres“, - seit 2010. Es gibt Oktoberfeste in Spanien, die sind Dekaden älter. Viel vermeintliches Erbe ist schlicht erfunden, sogar die Trachten, die bei den Fiestas das 18. Jahrhundert auferstehen lassen, scheinen einem Theaterfundus statt einem alten Tiroler Bauernschrank entnommen. Bis auf deutsch oder niederländisch klingende Nachnamen und Grabsteine, einem halben Dutzend Calle Thürriegel, deren Straßenschilder alle falsch geschrieben sind, ist von „den Deutschen“, die im 18. Jahrhundert zu Abertausenden ins spanische Niemandsland gelockt wurden, nicht viel geblieben.
Es gibt von Luisiana bis Carolina heute mehr Flamenco-Gitarristen als Akkordeon- oder Hackbrettspieler, auf den Dörfern tanzen sie mehr Bulerías als Ländler. Aber es gebe hier mehr Blondinen als anderswo in Spanien, sagen scherzhaft die Alten auf der Plaza, ausgerechnet hier, in der Sierra Morena, den „brünetten“ Bergen.
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