Befragen wir dazu zwei Korifäen auf dem Gebiet: die Geschichte und die Experten des IGN, des nationalen Geographischen Instituts, bei dem alle Fäden und Daten zum Thema Erdbeben in Spanien zusammenlaufen, das Wahrscheinlichkeitsberechnungen und Risikoeinschätzungen abgibt. Zur Tätigkeit gehört daher auch die Koordination des nationalen seismischen Netzwerks an Messstationen und die Dokumentation. Jeder kann sich über die Smartphone-App „IGN Terremotos“ in Echtzeit über Erdbeben in Spanien informieren, mit einer Karte mit Details zu jeder außergewöhnlichen Erdbewegung und einer Alarmfunktion, bei der der Benutzer die Stärke des Bebens einstellen kann, ab der er „geweckt“ werden will.
Doch da fängt es schon an, denn die Erdbebenstärke laut der Richter-Skala sagt wenig über die Wirkung an der Oberfläche aus. „Wir hatten schon ein Erdbeben der Stärke 7,8. Aber es fand in 600 Kilometer Tiefe statt, 1954 war das, zwischen Almería und Granada“, erläutert der IGN-Seismologe Luis Cabañas. „Das war das stärkste, das wir je gemessen haben, doch wegen der Tiefe war es an der Oberfläche fast nicht zu spüren, es gab keinerlei Schäden“.
Er erklärt den Unterschied zwischen „Stärke“ und „Intensität“ an der Oberfläche, bei der die Erdschichten und -materialien eine Rolle spielen, vor allem aber die Tiefe des Epizentrums. Hingegen hatte das jüngste Erdbeben mit Todesopfern in Spanien, 2011 bei Lorca in der Region Murcia, „nur“ eine Stärke von 5,1 auf der Richterskala, „aber eine maximale Intensität der Stufe VII“ der sogenannten Mercalliskala, die bis IX geht, was „totale Zerstörung“ bedeutet. Dabei ist die sogenannte Erdbeschleunigung ein wichtiger Messwert, also was kommt von den Wellen, der Energie aus dem Erdinneren oben mit welcher Frequenz und Amplitude an.
„Das Risiko eines Bebens von den Ausmaßen in der Türkei und Syrien 2023 ist in Spanien äußerst gering“, beruhigt zunächst der Experte Cabañas, „sogar fast auszuschließen“. Dazu seien die aktiven Erdplatten hier zu klein, „zumindest soweit bekannt“, schränkt er wissenschaftlich korrekt ein. „Beben von der Stärke 5,5 bis 6“ bei entsprechend „normaler“ Intensität sollten „die meisten Gebäude im Süden und Südosten Spaniens aushalten“. Was darüber liegt, gar über 7, „dafür wären unsere Häuser nicht gemacht, einfach weil niemand von einem solchen Ereignis ausgeht“.
Einige Kollegen vom IGN sind bei der Schadensprognose für erwartbare Erdbeben in Spanien gar nicht so optimistisch. Kollegen von der Universität Alicante teilen deren Skepsis. 2011 legten sie eine seitdem laufend aktualisierte Studie vor, die vor „großen Zerstörungen“ warnt. Eigentlich gelten seit 1992 verbindliche Standards der Erdbebensicherheit auch bei jedem Wohnbauprojekt in seismisch aktiven Zonen, hinsichtlich der Statik und der Materialien, „nur werden die so gut wie nie kontrolliert“, so das IGN, das vor allem die enge Bebauung in Urbanisationen und Ferienorten entlang der Costa Blanca und Costa del Sol kritisierte und von einer „hohen Dunkelziffer“ ausgeht, bei der die Mindestanforderungen an die Erdbebensicherheit gleich gar nicht beachtet wurden. Die letzte Aktualisierung datiert aus dem Jahr 2002.
Dabei sollte es Spanien besser wissen, nicht nur durch das Erdbeben von Lorca, das 2011 neun Menschen das Leben kostete und über 300 verletzte. Mehr als 1.100 Wohnhäuser wurden so beschädigt, dass sie auf amtliche Anordnung abgerissen werden mussten, ebenso wie 45 Industriebauten und selbst alte Gebäude, die schon so einige Beben überstanden hatten, litten stark. Am schwersten erwischte es die Kirche Iglesia de Santiago von Lorca aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, bei der das Hauptschiff einfiel und der Kirchturm bei einer Live-Übertragung für die Nachrichten einstürzte. 2021 erschreckte bei Granada eine ganze Erdbeben-Serie die Menschen, es gab Sachschäden.
Eine Gegend wird von den Seismologen und Urbanistik-Experten besonders argwöhnisch beobachtet, die Vega Baja im Süden von Alicante, rund um Torrevieja, Rojales und Orihuela Costa. 1829 zerstörte ein Erdbeben, das nachträglich auf eine Stärke von 6,6 geschätzt wird, fast die gesamte Ebene, dabei starben rund 400 Menschen, über 5.000 Gebäude wurden zerstört, die Stadt Almoradí nach Zeitzeugenberichten „dem Erdboden gleich gemacht“. Die Zerstörungen auch in Torrevieja und Guardamar del Segura waren so groß, dass die Spanier Experten aus Portugal holten, die ihre Städte mit dem Know How des Marquis de Pombal neu planen und bauen sollten. Dieser wurde nach dem großen Beben von Lissabon 1755 berühmt, als er die völlig zerstörte Hauptstadt Portugals mit Straßenrastern und Baunormen neu und nun sicherer wieder erbaute. Torrevieja übernahm zwar das Raster von Pombal, doch nur ein paar Jahrzehnte später stockte man bedenkenlos auf oder baut bis heute wild in alle Richtungen, so viele Wohnungen wie möglich pro Parzelle. Und in Spanien scheint es mehr Bauskandale mit Beteiligung der Behörden als Erdbeben zu geben.
Lissabon 1755 war ein Schock für ganz Europa und relativiert die Aussage des IGN über die geringe Wahrscheinlichkeit eines großen Bebens. Zwar fand das Erdbeben damals rund 300-400 Kilometer im Atlantik vor Lissabon tatsächlich nicht in Spanien statt, hatte aber tödliche Auswirkungen bis weit nach Spanien hinein. Experten schätzen heute die Stärke damals zwischen 8,5 und 8,9 auf der Richterskala ein. 60.000 bis 100.000 Tote soll das Beben, vor allem aber dessen Nachwirkungen gefordert haben, davon einige tausend auch in Marokko, rund 1.000 in Huelva und mehrere hundert an sonstigen Küsten und im Hinterland von Andalusien. Tausende Gebäude wurden in der uralten Stadt Cádiz überschwemmt, das nur durch seine massiven Stadtmauern einer größeren Katastrophe entkam. Sevilla, 300 Kilometer von Lissabon und 600 Kilometer vom Epizentrum entfernt wurde so stark beschädigt, dass ganze Stadtviertel abgerissen werden musste und noch bei Barcelona tat sich eine Erdspalte auf, die heute als Heilbad bei Montserrat genutzt wird.
Damals kamen freilich Unwissen und Pech zusammen und haben vor allem in Lissabon fast die Hälfte der Einwohner getötet. Beim Beben selbst, dem zwei starke Nachbeben folgten, starben viele Menschen durch einstürzende Häuser, sogar in Kirchen, die man für unzerstörbar hielt. Sie flohen daraufhin an den Tejo, der an seinen breiten flachen Ufern hoffentlich Schutz bot. Doch das Wasser zog sich zurück, ein Tsunami von bis zu 12 Meter Höhe tötete dann weitere Menschenmassen. Jene, die zurückkehrten, fanden ihre Stadt fünf Tage lang brennend vor, das Erdbeben ereignete sich just an Allerheiligen, wo traditionell in jedem Haus Kerzen zum Andenken an die Verstorbenen brannten. Ein noch unterentwickeltes, eigentlich praktisch nicht existentes Notfall- und Gesundheitswesen, Seuchen, Hunger und auch Gewaltverbrechen taten ein Übriges.
Viele dieser Faktoren, könnte man meinen, fielen heute weg, auch die damals himmelschreiende Armut ist einer dieser Faktoren, die leider im heutigen türkisch-syrischen Katastrophengebiet während und nach dem Beben, man denke nur an das Kriegsgebiet, eine große Rolle spielt. Sogar ein Tsunami-Warnsystem für das Mittelmeer, das im Vergleich zum Atlantik wie ein Swimming Pool wirkt, soll installiert werden, was sich fast wie Luxus anhört. Das Erdbeben von Lissabon 1755, das war schließlich auch der Urknall für die moderne, methodische Seismologie. Doch auf der anderen Seite ist der Mensch heute auch viel abhängiger von Technologie und Vernetzung, ein langer, flächendeckender Stromausfall nach einem Erdbeben oder auch einer Havarie, der befürchtete Blackout, der ganz Europa lahmlegen könnte, würde auch unsere Gesellschaft auf eine sehr harte Probe stellen
In Torrevieja und Orihuela Costa leben heute mindestens 150.000 Menschen auf der gleichen Fläche, auf der 1829 nur rund 5.000 Menschen lebten. Auch das ist ein zusätzlicher Risikofaktor. In einigen Urbanisationen stürzen dort Häuser sogar schon einmal ohne jede Nachhilfe aus dem Erdreich ein, wegen Pfuschs oder krimineller Energie bei der Genehmigung. Die Bausubstanz ist in nicht wenigen Siedlungen jener in der Südosttürkei durchaus ähnlich, bestätigte auch ein Bauingenieur offen im spanischen Fernsehen.
Die Geschichte der Neuzeit kennt viele tödliche Erdbeben in Spanien, neben dem große Atlantik-Beben von 1755. Am verheerendsten war jenes von Arenas del Rey bei Granada 1884, geschätzt auf 6,7 bis 7, mit 839 Todesopfern. In Algerien, praktisch in Rufweite von der spanischen Levante-Küste, starben 2003 rund 2.000 Menschen durch ein Beben und einen Tsunami, 2016 wurden in Melilla, der spanischen Exklave an der marokkanischen Küste, 26 Menschen verletzt. Auch der Vulkanausbruch auf La Palma auf den Kanaren 2021 wurde duch tausende Erdbeben angekündigt und eingeleitet. Gehen wir weiter zurück in der Geschichte, stoßen wir schon bei den alten Römern auf desaströse Schilderungen von Beben in ihrer Provinz Hispania, wobei eines sogar einen Tsunami an der spanischen Küste ausgelöst haben soll, der es den damals noch unregulierten Lauf des Guadalquivir 80 Kilometer hinauf bis Sevilla (damals Hispalis und Itálica) schaffte und die Stadt überschwemmte.
Ganz aktuelle Forschungen aus dem Jahr 2023 fanden zudem belastbare Indizien, dass die berühmte Kalifenstadt vor den Toren von Córdoba, Medina Azahara, ab dem Jahr 1020 zunächst nicht durch Plünderungen im Rahmen des Bürgerkriegs während des Zerfalls des Kalifatsstaates in der Versenkung verschwand, sondern durch eine ganze Reihe starker Erdbeben. Bis heute hat man erst rund zehn Prozent der Palaststadt wieder ausgraben können – und die war ganz sicher viel stabiler gebaut als die meisten Residenten-Urbanisationen in Torrevieja oder Orihuela Costa.
Dass sich an der Bauweise in Spanien – selbst mit Kontrollen – angesichts der Tragödie in der Türkei und Syrien viel ändern wird, glauben die Seismologen und die Stadtplaner nicht. „Man baut so, wie man die Erdbeben wahrscheinlich in einer bestimmten Zeitspanne erwartet“, resümiert Luis Cabañas vom IGN die Sache ziemlich nüchtern. Die Frage ist halt eben nur, ob wirklich so Erdbeben sicher gebaut wird, wie vorgeschrieben. Der Blick auf die Erdbeben-App des IGN für Spanien mag aufgrund der vielen roten Punkte auf der Karte zwar nicht gerade beruhigen, doch jedes kleine Beben „entspannt“ auch die Erde, ist aber letztlich eine Erinnerung daran, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die der Mensch einfach hinnehmen muss. Unvorschriftsmäßig gebaute Häuser gehören nicht dazu, Erdbeben aber schon.