Was der Katalane und der Baske 1846 in ihrer Geschäftstüchtigkeit freilich nicht auf der Rechnung hatten, war die Feierfreude der Andalusier, die die Viehmesse kaperten und in eine vorgezogene Sommerfrische mit angeschlossenem Volksfest umwandelten. Und das bereits von Anfang an. Und so klagten die Gründer der Feria schon nach der Premiere, dass "Wir hier viel mehr Polizei brauchen, die Sevillaner mit ihrem Singsang und ihren Tänzen machen den Abschluss von Verträgen fast unmöglich", schreiben sie an die Stadt.
Daran sollte sich nichts ändern, im Gegenteil, das Volksfest, der Aufgalopp der geschniegelten señoritos auf ihren stolzen Gäulen oder in Kutschen, in denen sich die aufgetakelten Damen zufächern, der Tanz, das Trinkgelage verdrängte mit der Zeit die Viehmesse. Für Sevillaner und Leute aus dem Umland ein Höhepunkt im Jahreskalender und ein touristisches Event, das rund 800 Millionen Euro Umsatz in die Stadt bringt, zu einer unverwechselbaren Marke wurde wie das Münchner Oktoberfest, mit ebensovielen Ablegern.
Wo einst ganze Schafherden, Stiere und Zuchthengste den Besitzer wechselten, machten sich bald neben den Zelten auch Karrusselle und mit ihnen allerhand fahrendes Volk breit, die Feria wurde eine Stadt in der Stadt mit heute über 1.000 casetas und eigenen Straßenplänen. Der Bereich des Rummels heißt Calle del Infierno, Höllenstraße. 1973 geschah der entscheidende Umzug ins Barrio Los Remedios, dem Südende des legendären Bezirks Triana auf der rechten Seite des Guadalquivir. Das Festgelände, das sich vom Zentrum über die beiden Brücken Puente de Remedios und Puente de Delicias gut erreichen lässt, ist mittlerweile 45 Hektar groß, 1.093 Buden wurden für die Feria 2022 vom 30. April bis 7. Mai genehmigt. Gefeiert wird aber praktisch in der ganzen Stadt.
Das große Feria-Theater in Sevilla (Sevilla ist überhaupt eine einzige Bühne, über 100 Opern spielen hier) unterscheidet sich von anderen Volksfesten durch ein sehr spezifisch andalusisches Bühnenbild - die jährlich wechselnde portada, das kunstvoll gestaltete Eingangstor repräsentiert diese Theateridee - und einige unverzichtbare Requisiten. Die Feria ist aber nicht nur eine Zusammenstellung aller nur denkbaren Sevilla-Klischees, sondern auch eine Art lebendiges Modell der andalusischen Gesellschaft - und die ist nach wie vor streng ständisch organisiert.
So sind die meisten privaten casetas für den Normalsterblichen unzugänglich, sie gehören den "alten" Familien, den Viehzucht- und Sherry-Dynastien, Landbesitzern mit Vorfahren bis zu den Westgoten, aber auch neureichen Sunny-Boys, deren größte Lebensleistung das Erben war. Wer niemanden kennt, kommt in diese kaum hinein, es sei denn, er fragt und hat Glück oder die Feiernden sind schon so betrunken, dass es ihnen egal ist. Daneben gibt es etliche öffentliche casetas, von Vereinen, bis Parteien, Gewerkschaften, Gastrobetrieben.
Die gestreiften Zeltbahnen, mal mehr, mal weniger geschmückt mit Blümchen, Tuchbahnen, Fähnchen, Fässern, Stierköpfen und folkloristischem Firlefanz sind sozusagen die Basislager der Ferianten: Hier stärkt man sich für lange Nächte, hier reitet man auf, hier wird geflirtet, bis die Zeltwände wackeln. Vom Tiermarkt zum Basar der Eitelkeiten. Gegessen wird traditionell viel pescaíto, Teller mit Bergen von frittiertem Fisch, aber auch Löffelgerichte wie Kichererbsen mit Spinat oder Kabeljau, neben den Klassikern aus dem Meer und den feinsten Ibérico-Schinken - Mehr zu Andalusiens Küche. Als Katerfrühstück gibt es natürlich auch in Sevilla die churros mit Schokolade, die hier "calentitos" heißen oder den berühmten montadito de pringá, eine Art Wurst, ursprünglich aus dem Bodensatz der Eintöpfe gemacht.
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Getrunken wird natürlich auch viel, Bier, Wein, Cava. Doch eigentlich vor allem Manzanilla oder Fino. Beides sind trockene Sherrys, doch der Manzanilla darf nur so heißen, wenn er aus Sanlúcar de Barrameda, 2022 Spaniens Gastronomiehauptstadt, kommt, während der Fino in und um Jerez zuhause ist. Man sagt dem Manzanilla etwas mehr sanfte Blumigkeit nach, während der Fino etwas "männlich-herber" sei. Geschmackssache. In Mode gekommen ist in den letzten Jahren der Rebujito, weil der nicht so reinhaut und süß schmecht. Es bleibt beim Sherry, doch wird der mit viel Eis und Zitronenlimonade zum Longdrink.
Es dauert nicht lange, dann wird gesungen und getanzt, Sevillanas natürlich. Dieser 6/8-taktige "andalusische Walzer" ist längst spanisches Gesamterbe und nur ein Stiefkind des Flamenco. Die Gitanos adoptierten Rhythmus und Groove auf ihre Weise, doch eigentlich entwickelte er sich als dörflicher Volkstanz aus einer Mischung aus südlichem Ländler und höfischen Sarabanden, bis er durch die Feria-Auftritte immer mehr seine heutige Form erreichte, zum Grundsound der Riesen-Fiesta wurde und ein Spektrum von Schunkel-Fiesta-Schlager bis zu feintönigen Kabinettstückchen abdeckt.
Weitere Requisiten: Flamenco-Kleidchen von stilvoll bis mit möglichst großen Punkten und auffälligem, aber passendem Kopfschmuck, Fächer. Die Feria ist der Catwalk schlechthin für die Flamenco-Mode geworden, die längst ein eigener Industriezweig ist, auch hier ist die Verschmelzung und auch Entfremdung mit und von der Gitano-Kultur zu beobachten. Eigene Modenschauen als Rahmenprogramm sind Teil der Feria. Früher nähten sich die Damen Rüschen, Spitzen und andere Deko an die Kleider, um etwas Besonderes für die Festtage zu schaffen. Die "typischen" Punktkleider hingegen sind ein Erbe der franqusitischen Tourismusindustrie, die diese Kleider den Tänzerinnen der Tablaos aufdrängte, um ein "Image" zu schaffen. Es überdauerte.
Die Gitanos selbst dienten den Senoritos auf der Feria meist als Hofnarren, als Musiker, Tänzerinnen, als billige Träger, Kellner, Aufräumer, Pferdepfleger, Kutscher oder Helfer in der Arena. Denn auch die Stierkämpfe in der nahen Plaza de Toros de la Real Maestranza mit ihrem ovalen Kampfplatz sind von der Feria nicht wegzudenken, auch nicht 2022, wo über 30 Stiere dran glauben werden müssen. Auch heute bewirtschaftet ein Heer von "Gastro-Zigeunern" die Feiergesellschaften und hunderttausenden Gäste aus ganz Spanien und der halben Welt, die dreifache Hotelpreise zahlen, um sich durch das Gedränge zu wühlen. Die Herren der casetas machen auf den Rücken der Saisonkräfte kräftig Kasse und bekommen dabei den Hals nie voll genug. Bis zu 16 Stunden ohne freien Tag schuften Kellner, Köche durch, sind die Gäste weg, werden sie noch zum Putzen abkommandiert.
Die spanische Arbeitsministerin drohte den caseteros dieses Jahr offen damit, gründliche Kontrollen der Arbeitsinspektion anzuordnen und empfindliche Strafen zu verhängen, sollte zum Beispiel die Mindestruhezeit zwischen zwei Schichten von 12 Stunden nicht eingehalten werden. Das ginge indes nur, wenn die caseteros mehr Personal einstellten. Das wollen sie nicht, denn sie finden niemanden, sagen sie. Oder scheuen die höheren Sozialabgaben. "Soll sich die Frau Arbeitsministerin doch selbst eine Schürze umbinden und hier arbeiten, dann versteht sie vielleicht die Realität", richteten sie der "Kommunistin" auf dem Ministersessel aus.
Alles soll so bleiben wie es war, auf der Feria, in Andalusien. Erst recht 2022, nach zwei Jahren Corona-Pause: Die ungezügelte Freude auf gezügelten Pferden, die fast hysterische Lust, das Leben in vollen Farben zu Feiern, ohne an Morgen denken zu müssen und natürlich das spezifisch Andalusische, auch wenn es an manchen Ecken in Sevilla dann etwas ranzig riecht, nicht nur vom Öl der Fritteusen.
Auftakt zur Feria der Abril de Sevilla ist das große Fischessen in der "noche de pescaíto" am 30. April, Mit dem Einschalten der Beleuchtung um 0.00 Uhr am 1. Mai ist das Evenet offiziell eröffnet. Täglich bis 7. Mai gibt es Kutschen-Paraden und Aufritte, Modenschauen, Konzerte. Für die Anreise wird dringend vom privaten Pkw abgeraten. Die Touristinfos verteilen Lagepläne. Weitere Infos: www.sevilla.org
Zum Thema: Farben, Folter und Flamenco - Ein Tag und eine kurze Nacht in Triana, Sevillas Kultviertel.
Tipp: Die offenen Patios von Córdoba, 3. bis 15. Mai 2022.