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„Adiós Deutschland“ - Don Otto, der von der Straßenbahn: Ein Aufbruch und Ende in Sevilla

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Von: Marco Schicker

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Otto Engelhardt auf alten Fotos
Gegen das Vergessen: 2019 widmete sich eine Doku von Ricardo Barby dem Leben und Wirken von Otto Engelhardt, von Braunschweig über Berlin bis Sevilla. © Alandamedia Producciones/Ayto San Juan de Aznalfarache

Otto Engelhardt elektrifizierte als AEG-Ingenieur Sevilla und halb Andalusien, wurde als Großindustrieller und Konsul zum Pazifisten und zum glühenden Republikaner. Faschisten ermordeten ihn, doch die Erinnerung an Don Otto lebt weiter.

Sevilla - Die Straßenbahnen wurden noch von Maultieren gezogen, als der junge Ingenieur Otto Engelhardt 1894 aus Berlin kommend in Sevilla eintraf. Im Jahr zuvor hatte eine Abordnung der Sevillaner die AEG-Werke in Berlin besucht. Dort bestaunten sie die bereits 1881 eingeweihte erste elektrische Straßenbahn der Welt, bewunderten moderne Kraft- und Umspannwerke, Schaltzentralen, Stromzähler in der Hauptstadt des Kaisserreichs. Elektrizität, erst recht Strom in fast allen Häusern, Fabriken und Geschäften, das war damals High-Tech und AEG das Microsoft seiner Zeit, zumindest in Europa. Das wollten die Spanier auch und die Deutschen freuten sich über einen riesigen neuen Markt.

Otto Engelhardt modernisiert Sevilla - „selbstfahrende“ Straßenbahn

Nun stand der 28-jährige Otto, Sohn eines Braunschweiger Spiegelfabrikanten und Hoflieferanten, in Sevilla, in einer Stadt, die schon Weltstadt war, noch bevor es Berlin überhaupt gab. Doch abends flimmerten hier jetzt nur ein paar armselige Gaslaternen die altehrwürdige Kathedrale und die Casa de Contratación an, wo seit Kolumbus die Reichtümer der Erde aufgeteilt wurden bis Spanien aus den Weltmeeren vertrieben wurde. Strom hatten in Sevilla nur die Reichen, schon im Barrio Santa Cruz direkt neben den Königlichen Palästen war es stockfinster und wo heute fröhlich das schräge Kultviertel Triana über den Fluss grüßt, sah man damals nur Schwarz. 1896 gab es in der ganzen Stadt gerade 486 Stromkunden, Behörden und Militär eingeschlossen. Mehr schafften weder das rudimentäre Leitungsnetz, noch gab es genug Kraftwerkskapazitäten.

Otto Engelhardt an einer Straßenbahn in Sevilla.
Otto Engelhardt (weißer Anzug) an einer seiner frisch elektrifizierten Straßenbahnen neben der Kathedrale von Sevilla, um 1900. © Ayuntamiento de San Juan de Aznalfarache

Sevilla hatte den Anschluss verloren, die Industrialisierung verschlafen, teils auch gezielt unterdrückt von den „Señoritos“, die aktiv den Fortschritt und Investitionen verhinderten, damit Lohn- und Feldarbeit billig und alles beim Alten bleiben konnte. Madrid und Barcelona, auch Teile von Galicien, Asturien und dem Baskenland brachen mit Fabriken ins 20. Jahrhundert auf, Sevilla zehrte vom vergilbten Glanz vergangener Zeiten.

Es werde Licht: Tausende Kilometer Kabel, Kraftwerke, Schaltkästen

Otto brachte im Gepäck die Ernennungsurkunde zum ersten Direktor der frisch gegründeten Compañía Sevillana de Electricidad, CSE, und reichlich Kapital der Deutschen Bank mit. Doch alles andere lag nun an ihm. Die Deutsche Bank hielt die Mehrheit an der Aktiengesellschaft, 76 weitere Aktionäre erhielten Anteile, darunter spanische Granden und einflussreiche Unternehmer mit Nähe zu Politik und Hof, aber auch deutsche Industrielle. Die Leitung teilten sich Sevilla und Berlin. Im Vorstand saß auch ein gewisser Emil Rathenau, Gründer von AEG und Telefunken, Banker und Vermarkter der Edison-Patente. Er war Ottos Mentor und der Vater von Walter Rathenau, dem späteren Außenminister der Weimarer Republik, der 1922 von Nazis ermordet werden würde.

Otto Engelhardt um 1894
Mit nur 28 Jahren wurde der AEG-Ingenieur Otto Engelhardt 1894 Direktor von Sevillas Elektrizitätswerken. © Archivo Municipal de Sevilla.

Doch all das war damals noch weit weg. Engelhardt musste, wie eins Kolumbus, den neuen Kontinent erst erobern. Und er begann furios, besorgte fünf Dutzend neue Triebwagen für die Tranvía, die Straßenbahn, und elektrifizierte sie. So wurde Sevilla 1899 die fünfte Stadt Spaniens mit einer elektrischen Straßenbahn, nach Madrid, Barcelona, Bilbao und San Sebastián, rund 20 Kilometer lang war das Netz da bereits und bot drei Linien an. Engelhardts Team, er stockte binnen weniger Jahre auf über 2.000 Mitarbeiter auf, ließ in die sandigen, meist noch ungepflasterten Straßen, tausende Kilometer Kabel verlegen, Kraftwerke für Kohle und Wasser wurden gebaut oder unter Vertrag genommen. Die Universität, die Königliche Tabakfabrik und der Hafen, an dem einst ein erschöpfter Elcano als erster Weltumsegler anlegte, wurden zuerst elektrifiziert, dann folgte die Kathedrale. Ab 1901 leuchtete auch das riesige Gelände der Feria de Sevilla elektrisch auf. Die CSE kaufte nach und nach die damals zum Großteil privat betriebene Straßenbeleuchtung kleineren Unternehmen, machte mittelalterliche Häuser zu Schaltkästen.

Und es ward Licht: Otto Engelhardt erleuchtet Sevilla

1907 kaufte Engelhardt mit deutschem und schweizerischem Geld sogar die gesamte Straßenbahn von einer britischen Firma, der Tramway of Seville. Engelhardt schuf dafür eine eigene Gesellschaft und wurde auch ihr Chef. Bald war der Deutsche als „Otto, él de la tranvía“, „Otto, der von der Straßenbahn“ bekannt, der die „tranvías de sangre“, also die von Tieren „mit Blut“ betriebenen Karren, durch „Selbstfahrende“ ersetzte. 1908 eröffnete die CSE am Prado de San Sebastián ihre neue Firmenzentrale. Die Sevillaner nannten sie einfach „Lichtfabrik“, fábrica de la luz. Noch während Sevilla elektrifiziert und die Infrastruktur ausgebaut wurde, ließ Engelhardt auch die Vorstädte ausleuchten und per Überlandleitungen ans Netz bringen. Seit seiner Ankunft 1894 bis zum Ersten Weltkrieg 1914, also in 20 Jahren, erreichten die AEG-Kabel so auch das gesamte Umland Sevillas bis Dos Hermanas, Coria del Rio, Utrera und sogar Jerez.

Auch das gemütliche San Juan de Aznalfarache am Ufer des Guadalquivir und nur ein paar Kilometer vor den Toren von Sevilla wurde elektrifizert, Engelhardt gründete hier eine Familie und baute sich eine hübsche Villa im andalusischen Stil. Seine Villa Chaboya war nicht nur für die Familie da, sondern wurde bald eine Art Country-Club mit vielen Besuchern, deutschen wie spanischen und englischen. Engelhardt beteiligte sich an weiteren Unternehmen, gründete in San Juan die Pharmafirma Sanavida, die es noch heute gibt und die Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel verkaufte. Nach Aussagen seiner Nachfahren war Otto sehr gesellig, der Typ lustiger, gutmütiger Onkel, mit dem man gerne ein Bier trinkt. Intellekt, Humor und Humanismus sind Etiketten, die Engelhardt von vielen Zeitzeugen immer wieder bekommt, Prädikate, die längst nicht allen erfolgreichen Unternehmern und Industriellen zu verleihen waren - und sind.

Otto, der Konsul: Engelhardt wird zu einer Institution in Sevilla

Aus dem jungen Ingenieur war eine Institution in Sevilla geworden, auch die Investoren in Deutschland waren zufrieden. Die Elektrifizierung hatte nicht nur nur hellere Straßen und eine elektrische Tram gebracht, sondern Strom als Basisleistung demokratisiert, für alle zugänglich gemacht. Nicht zuletzt kamen nun auch mehr Investoren in eine durch Kolonien und Handelswege traditionell strategisch interessante Region. Gleichzeitig setzte Engelhardt soziale Mindeststandards zumindest in seinen Firmen durch, auch das war eine Neuheit im damaligen Spanien und noch viel mehr im Armenhaus Andalusien. Vier Patente meldete Engelhardt als Hobbytüftler an, unter anderem für einen selbst nachladenden, geschlossenen Kohleofen, der auf die Bedürfnisse ärmerer Haushalte zugeschnitten war.

Otto Engelhardt in der Uniform eines deutschen Konsuls in Sevilla
Otto Engelhardt in der Uniform eines Konsuls des deutschen Kaiserreiches. Später gab er alle deutschen Auszeichnungen und die Staatsbürgerschaft zurück. © Ayuntamiento de San Juan de Aznalfarache

Als 1909 viele Verletzte aus dem zweiten Rif-Krieg in Marokko in die Spitäler Sevillas kamen, schmückte Otto einige seiner Straßenbahnwagen zu Reklame-Fahrzeugen für den guten Zweck aus und sammelte damit Spenden ein. Unter anderem das Hospital de las Cinco Llagas wurde damit ausgebaut, das in seinem Leben noch eine entscheidende Rolle spielen würde. 1911 dankte ihm König Alfonso XIII. das Engagement mit der Medaille „Isabel la Católica“. Bereits 1903 ernannte ihn Kaiser Wilhelm zum Honorarkonsul des Deutschen Reiches für Sevilla. Das war eigentlich nur ein Ehrentitel, der Prestige und Kontakte abwarf, doch Konsul Deutschlands zu sein, das sollte Otto noch schwer auf die Füße fallen.

Vom Konsul zum Pazifisten: Engelhardt auf verlorenem Posten

1914 brachen Österreich und Deutschland den Ersten Weltkrieg vom Zaun. Spanien, dessen Monarchie sich ihrer Schwäche bewusst war, mühte sich darum, nicht in den Strudel der Vernichtung gezogen zu werden. Doch die Alliierten sahen nun in allem, was irgendwie deutsch war, eine Kriegspartei und übten Druck auf Spanien aus, den deutschen Konsul loszuwerden. Dass der sich offen gegen den Krieg engagierte, interessierte damals keine der blutlechzenden Kriegsparteien. Es half Engelhardt bei Briten und Franzosen auch nichts, dass er als Konsul Informationen über eine false flag Aktion deutscher Spione gegen Sevillanische Schmuggler zugespielt bekam, die Spanien provozieren sollte, seine Neutralität aufzugeben. Durch die Weitergabe der Informationen an die Spanier vereitelte Engelhardt den Sabotageakt und begründete diesen „Verrat“ später damit, dass es nicht seine Aufgabe als Konsul sei, sein Gastland in einen Krieg zu verwickeln. Er stellte also das Völkerrecht über nationale Loyalität, das war damals fast revolutionär.

Ausstellung zu Ehren Otto Engelhardt
Ausstellung zu Ehren Otto Engelhardts in seinem Wohnort San Juan de Aznalfarache im Jahre 2021. © Ayuntamiento de San Juan de Aznalfarache

Engelhardt wurde in der Folge auch öffentlich zum Pazifisten, gründete einen Verein namens „Pro Sevilla - Ciudad de la Contraguerra“, Sevilla, eine Stadt gegen den Krieg. Er hatte schon in der Marokko-Krise erkannt, dass es immer die kleinen Leute waren, die den Preis für die Machphantasien der Oberschicht zahlten. 1916, mitten im Krieg, beantragte er im deutschen Außenministerium die Gründung einer Deutschen Schule in Sevilla, weil hunderte deutsche Familien und Lehrer der Deutschen Schule Lissabon aus Portugal ausgewiesen wurden und in Sevilla Asyl suchten. Ab 1921 wurde diese Schule errichtet, das Colegio Alemán de Sevilla existiert noch heute. 1919 dann lag Deutschland am Boden, Engelhardt gibt desillusioniert und auf politischen Druck seinen Titel als Konsul zurück, dessen Aberkennung ohnehin nur die Kriegswirren verhindert hatten. Bald musste er aber auch die Direktion der Elektrizitätswerke und der Straßbenahngesellschaft niederlegen. Die Engländer drohten mit der Einstellung der Kohlelieferungen, sollte der Deutsche im Amt bleiben. In Sevilla würden dann die Lichter ausgehen.

Plaza de España in Sevilla
Die Plaza de España in Sevilla. Hauptattraktion der Ibero-Amerikanischen Ausstellung von 1929 wurde eine dauerhafte Sehenswürdigkeit der Stadt. © Wikimedia/Francisco Colinet

Engelhardt besuchte seinen im Krieg schwer verletzten Sohn in Braunschweig, reiste nach Berlin und stellte fest, dass Deutschland nicht mehr seine Heimat war. Er war in Spanien zuhause, in Sevilla. 1922 schreckte ihn der Mord am deutschen Außenminister Walter Rathenau auf, Sohn seines Förderers und AEG-Vorstands Emil Rathenau. In Spanien wiederum entmachtet sich im gleichen Jahr der König quasi selbst und erlaubt Ministerpräsident Primo de Rivera die Installation eine faschistoiden Diktatur, mit Parteienverboten, Zensur und Verfolgung gegen alles Republikanische und Progressive. Diese sollte bis 1930 Bestand haben. In diesen finsteren Zeiten leuchtete 1929 Sevilla nochmals hell auf, zur Ibero-Amerikanischen Schau, die der Stadt einen Modernisierungsschub gab, der ohne Engelhardts Elektrifizierung gar nicht denkbar gewesen wäre. In den 1990er Jahren ging die CSE übrigens im Endesa-Konzern auf und die Straßenbahngesellschaft gehört heute dem Land als Metro de Sevilla.

Adiós Deutschland: Engelhardt wird zum aktiven Antifaschisten

König Alfonso und das alte Spanien sonnten sich bei ihrer Geister-Expo 1929 ein letztes Mal im ranzigen Glanz der alten Kolonial- und Weltmacht, Sevilla lebte kurz, was auch das Berlin der 20er Jahre durchmachte: einen Tanz auf dem Vulkan, der letzte Walzer des alten Europa. Eine umfangreiche Transformation des Stadtbildes 1929, die bis heute nachwirkt, gehörte auch dazu. Dann kam auch in Spanien die große Zeitenwende, die Republik, eine Hoffnung, die in Chaos, Putsch und Bürgerkrieg versinkt, besser gesagt, versenkt wird. Bereits 1931 gibt Engelhardt, der Großindustrielle und glühende Republikaner, alle deutschen Auszeichnungen zurück und jetzt auch seinen Pass. Die Republik lädt ihn ein, Spanier zu werden. Der junge Ingenieur Engelhardt aus Braunschweig, der 1894 im dunklen Sevilla ankam, um es zu erleuchten, war nun offiziell Don Otto. „Ein Deutscher, der mit einem andalusischen Herz geboren wurde“, wie es vor einigen Jahren ein Politiker bei einer Gedenkstunde obduzierte.

Otto Engelhardt: Adios Alemania
„Adiós Alemania“ (1931-1934) Otto Engelhardts persönliche Abrechnung und ein Manifest gegen den Faschismus in Deutschland. © Archivo General de Andalucía

Engelhardt schreibt jetzt regelmäßig glühende Artikel gegen den Faschismus an der Schwelle zur Macht in Deutschland, aber auch zu spanischen und europäischen Themen in der Zeitung „El Liberal de Sevilla“, die von einem engen Freund geleitet wird. 1932 publiziert er erstmals seine Broschüre mit dem Titel „Adiós Deutschland - mit seinen Baronen und Faschisten“, worin er zweisprachig erklärt, warum er seiner Heimat den Rücken kehrt. Mit den „Baronen“ sind die Kriegsgewinnler Thyssen und Krupp, aber auch die Banker gemeint, die Hitler an die Macht bringen wollen, um ihre Interessen zu wahren, freilich auch, um einen „bolschewistischen Umsturz“ zu verhindern. Diese Publikationen, zumal aus der Feder eines früheren deutschen Diplomaten, sorgen natürlich für Aufsehen in Berlin.

1934, die düstersten Prognosen haben sich nun bewahrheitet, legt er eine Neuauflage nach und schreibt damit sozusagen sein Todesurteil: „Der Krieg ist ein Verbrechen und ein schmutziges Geschäft, das nicht dazu dient, Angelegenheiten zwischen Nationen zu klären (...), sondern um die Taschen opulenter Industrieller, der Chefs der großen Monopole zu füllen, die ein großes Interesse daran haben, die Völker gegeneinander in Wallung zu halten“. Der Krieg als Mittel der Politik, so schlussfolgert Engelhardt, sei illegal. Er zitiert Spaniens ganz neue, republikanische Verfassung und meint: „Spanien ist das erste Land, das in seiner Verfassung gegen das Verbrechen des Krieges angeht - Viva España!“ Zwei Jahre später würden Spanier gegen Spanier Krieg führen.

Telegramm an Hitler: Engelhardt schreibt sein Todesurteil

Engelhardt steht schon länger auf einer Beobachtungsliste, nicht erst ab 1933 sammeln Polizei und deutsche Geheimdienste Akten über ihn, befragen Bekannte und Reisende. Der Konsul in Sevilla und die Botschaft in Madrid intervenieren direkt bei Behörden und Verlagen, um Publikationen Engelhardts zu unterbinden. „Es gibt viele Unterlagen der deutschen Polizei über Otto und da war schon klar, dass er getötet werden soll“, erzählt seine Urenkelin Ruth Engelhardt in einer Doku von 2019. Es gibt Hinweise, dass der Tötungsbefehl als „Säuberung“ eine Gegenleistung für die Militärhilfe war, die Hitler Franco angedeihen ließ. Engelhardt schreibt 1934 ein Telegramm an „Adolf Hitler, persönlich“. In dem Schreiben „befiehlt“ er dem Führer die „sofortige Schließung der Konzentrationslager“, mit dem Verweis auf das Völkerrecht. Viele Deutsche wollen vor Mai 1945 nichts von KZs gewusst haben. Wer wollte, wusste davon schon 1934 - selbst in San Juan de Aznalfarache bei Sevilla. Engelhardt wird nun vom Pazifisten zum aktiven Widerstandskämpfer, er versteht, dass man Tyrannen und Kriegstreibern mit „Friedensverhandlungen“ nicht beikommt, weil sie darin nur eine Kapitulation sehen würden. Sein Engagement schließt das persönliche Opfer, das Risiko mit ein. Alles Lektionen, die bis ins heute lehrreich bleiben.

Engelhardts Tod: Verscharrt im Massengrab des Spansichen Bürgerkriegs

Am 19. August 1936, der faschistische Putsch, der den Spanischen Bürgerkrieg auslösen würde, war gerade zwei Monate alt, wurde der 70-jährige Engelhardt ins Hospital de las Cinco Llagas eingeliefert, das gleiche, dem er 25 Jahre zuvor mit einer Spendenkampagne geholfen hatte. Aus Dankbarkeit brachten sie damals im Hof eine Plakette an. Im Register des Krankenhauses, heute das Parlament Andalusiens, wird Otto Engelhardt im Bett Nummer 37 mit einer Phlebitis geführt, einer Venenentzündung, landläufig als Krampfadern bezeichnet. Weiter lesen wir, dass am 12. September Truppen des Generals Queipo de Llano, die „Gesundschreibung“ erzwangen und Engelhardt im Krankenbett verhafteten. Er wurde ins „Amt für Öffentliche Ordnung“ in die Calle Jesús del Gran Poder gebracht. Zwei Tage später, am 14. September 1936, wurde er an der Mauer des Friedhofs San Fernando von Sevilla erschossen und in einem Massengrab verscharrt, so wie einen Monat zuvor der Dichter Lorca und danach noch Zigtausende. Engelhardts Verbrechen: „Unterstützung einer feindlichen Kriegspartei“, übersetzt: Republikaner. Sein Sohn Conrado wollte in der Kommandantur die persönlichen Habseligkeiten des Vaters abholen, man jagte ihn unter Morddrohungen davon.

Villa Chaboya
Die im Neo-Mudéjar gebaute Villa Chaboya, Familiensitz der Engelhardts bis Anfang der 1980er Jahre verfällt zusehends. San Juan de Aznalfarache will sie kaufen und zum Museum gestalten. © Google Street View Capture

In sein Haus in San Juan de Aznalfarache, die Villa Chaboya, zogen nur Tage später deutsche Nazis ein, Soldaten der Legion Condor, die sich in Spanien mit Bombardements austobte, neue Waffen und Taktiken testete, tausende Republikaner und Zivilisten tötete. „Meine Familie war gezwungen, diese Leute zu bewirten, sie zu unterhalten“, erzählt Ruth Engelhardt, Ottos Urenkelin, in einer Dokumentation. 1984 verkaufte die Familie das Anwesen, bis heute verfällt es. Zwar steht das im andalusischen Regionalstil des Neomudéjar erbaute Gebäude unter lokalem Denkmalschutz, doch der Eigentümer „erfüllte keine der Vorschriften, sie warten einfach, bis es zusammenfällt, damit sie es los sind“, klagt die Urenkelin.

Lebendiges Erbe: Don Otto wird Schulstoff

„Es ist ein Projekt für die Zukunft“, die Villa Engelhardts in einen Begegnungs- und Gedenkort, ein Museum für Engelhardt umzugestalten, verspricht das Rathaus immer mal wieder hinsichtlich der Villa Chaboya. Wieder tauchten Hakenkreuze an den Wänden auf. Engelhardt bleibt ein Politikum. 2016 besetzten linke Gruppen die Villa symbolisch. Das Rathaus versuche seit 2014 eine juristisch langwierige und teure Enteignung, 2020 beschloss der Stadtradt nochmals, die Villa vom aktuellen Eigentümer, einer Baumschule „Viveros Aznaljarafe“ zu kaufen, notfalls per Zwang, blieb auf dem Weg aber wieder stecken, „weil wir den im Gundbuch vermerkten Eigentümer nicht ausfindig machen können“, wie es dort heißt. Doch ohne Eigentümer gibt es keine Enteignung. Engelhardt konnte vor 100 Jahren in einem Jahrzehnt ganz Sevilla erleuchten, heutzutage scheint es in der gleichen Zeit unmöglich, einen Menschen ausfindig zu machen.

Im Haus der Provinzverwaltung von San Juan hat die Bürgerliste „Pro San Juan“ Ende 2021 eine Ausstellung zu Engelhardt organisiert. 2018, kurz vor dem Regierungswechsel in Andalusien, wurde auch die alte Plakette am Hospital de las Cinco Llagas in Sevilla, wieder angebracht. Mit dabei waren Vertreter der damals regierenden PSOE, Republikaner, Familienangehörige Engelhardts, auch der deutsche Konsul in Málaga. Im Zentrum Sevillas gibt es die Calle Otto Engelhardt, just dort, wo Sevillas Elektrizitätsgesellschaft Anfang des Jahrhunderts ihre erste Zentrale errichtete.

2019 erschien auf dem Filmfestival Braunschweig eine Doku: „Otto entdecken: Der Konsul, der Hitler herausforderte“, in der erstmals gründlicher das Leben und Wirken Engelhardts aufgearbeitet wurde, Artikel in historischen Fachzeitschriften und Internetportalen erschienen, Braunschweig und San Juan de Aznalfarache wollen Partnerstädte werden. 2022 ließ das Rathaus San Juan eine Broschüre über Engelhardt drucken und in den Grundschulen des Ortes als Lehrstoff verteilen, ihr Titel „Otto Engelhardt: Auf der Suche nach Fortschritt und Freiheit“. Denn Don Otto, der von der Straßenbahn, ist ein Vorbild, von dem man lernen sollte. Er war im Wortsinne ein leuchtendes Vorbild, eine Lichtgestalt.

Zum Thema: „O, Spanien!“ - Deutschlands Kulturpapst Alfred Kerr auf Spanien-Reise 1922.

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