Einschiffen mit Cervantes: Cartagena, Schlendern durch eine 3.000 Jahre alte, junge Stadt

„Es treibt mich in den Krieg / Es ist meine Pflicht / Hätte ich Geld / Dann ginge ich nicht.“ Mit dieser Copla verewigte Miguel de Cervantes einen jungen Burschen, den Don Quijote und Sancho Panza auf dem Weg zum Militärdienst nach Cartagena trafen. Wir treffen Cervantes im heutigen Cartagena erneut.
- Cartagena in der Region Murcia ist eine jahrtausendealte Hafenstadt, die viel Geschichte bewahrt hat.
- Das römische Theater, Kathedralen und Plätze, Ausgrabungen im Stadtzentrum, Tapas, Festivals und der Hafen mit Marinemuseum sind in Cartagena besonders sehenswert.
- Der Tourismus hat Cartagena noch nicht gänzlich im Griff, für junge Leute ist es nicht leicht, sich hier eine Existenz aufzubauen.
Cartagena - Zweimal soll der Meistererzähler Cervantes während seines wilden Lebens in Cartagena gewesen sein: 1568 schiffte er sich wie der Junge im Roman ein und diente im Militär. 1571 nahm er, wie 150.000 andere Spanier auf über 500 Galeeren, an der legendären Seeschlacht von Lepanto teil, bei der ein christliches Bündnis Expansionspläne der Osmanen bremste.
Hafen von Cartagena als Tor in die Welt
Der Krieg brachte ihm einen auf immer gelähmten Arm und kurz darauf fünf Jahre Sklaverei in Algerien ein, von der er 1580 als 33-Jähriger freigekauft wurde. In Dénia erreichte er Heimaterde. 1581 soll er nochmals in Cartagena gewesen sein, einige Nennungen in seinen Werken „La Gitanilla“ und „Reise zum Parnass“ deuten darauf hin. Seine kleine Ode, welche die Erhabenheit der Einfahrt in Cartagena hymnisiert, ist in bunten Kacheln an der gewaltigen Festungsmauer verewigt worden, wie mir Manuel erklärt, der im Nebenjob als Fremdenführer arbeitet.

Ihn lernte ich in der Tasca El Tío Andrés zwischen einem Stierkopf an der Wand und Kellnern der ganz alten Schule zusammen mit wirklich feinem murcianischen Essen kennen und werde ihn, wie das Essen, schwer wieder los. Der Dauerstudent der Philologie will mir unbedingt Cartagena „de verdad“ zeigen, also das ganz echte.
Cervantes’ Trip ins Abenteuer kann der Besucher Cartagenas heute ein kleines Stück nachfahren. Ein Katamaran durchkreuzt per Rundfahrt zur vollen Stunde den Hafen und präsentiert jenes Kunterbunt, das Cartagenas etwas wilden Charme in Historie wie Gegenwart ausmacht. Da wechseln sich in schneller Folge alte Forts mit Bunkern aus der Bürgerkriegszeit ab, liegen rostige Containerschiffe neben Militärkreuzern, stinkt das große Repsol-Tanklager um die Ecke, sonnt sich die stiernackige Mannschaft einer Oligarchen-Megajacht faul auf dem Heli-Landeplatz.
Gegenüber liegt der Stadtstrand, daneben das zivile Marinemuseum, auf der anderen Seite das militärhistorische Marinemuseum, das mit altem Ruhme prahlt. Ein knalloranges Seerettungsboot läuft gerade aus, um im Mittelmeer Ertrinkende zu retten und sich anschließend dafür zu rechtfertigen. Dabei kreuzt es sich mit einem riesigen Kreuzfahrtschiff, auf dem ein paar Tausend satte Erlebnishungrige nach Abwechslung dürsten und gleich die Stadt fluten werden. Ob sie will oder nicht.
Asdrubal, der Unglücksknabe: Karthago reloaded und schlüsselfertig übergeben
Als unser Ritter von der traurigen Gestalt Cartagena kennenlernte, war sie ein größeres Nest, bestand aus „1.411 Männern, 1.298 Weibern und 777 Kindern, weiterhin 994 maurischen Sklaven und Sklavinnen“, buchhaltert ein zeitgenössischer Schreiber. Heute sind es 214.000 Einwohner in der zweitgrößten Stadt der autonomen Region Murcia. Der Anteil der Sklaven ist nicht bekannt.
Das Militär wurde damals wie heute nicht mitgezählt. Es kam und ging. Aber blieb. Bis heute besteht das große Arsenal, ein wichtiger Ausbildungsort der Armada, die ihren Ruf der Unbesiegbarkeit genoss, bis die Briten sie im 17. Jahrhundert so dermaßen gründlich zerlegten, dass Spanier seitdem lieber nach Fischen als nach neuen Kontinenten jagen. Immerhin, ihren Namen ließ die Stadt in der neuen Welt, beim kolumbianischen Schwippschwager Cartagena de Indias.
Cartagena liegt in einer Doppelbucht, die von steilwandigen Bergen und strategisch wertvollen Tälern umgeben ist. Nördlich wird es von der kilometerlangen Landzunge La Manga beschützt, die auch das Mar Menor vom Mittelmeer trennt. Kein Wunder, dass sich seit 3.000 Jahren Seefahrer aller Herren Länder um diesen idealen Hafen schlugen.

Asdrúbal aus Karthago, ein Verwandter des berühmteren Hannibal, war nicht der erste, aber wohl der unglücklichste Erbauer der Stadt. Als General des legendären Seevolkes der Karthager nahm er 227 vor Christus die Bucht in Beschlag, um auf den Resten einer iberischen Siedlung eine Filiale Karthagos zu errichten. Da stand seine Heimat schon im aussichtslosen Kampf mit der Übermacht Rom. Nach 18 Jahren emsigen Bauens kamen im 2. Punischen Krieg die Römer herüber, übernahmen die Anlagen schlüsselfertig, legten auch noch Asdrúbals tunesische Heimat in Schutt und Asche und benannten ihre Eroberung – wie zum Hohn – in Cartago Nova um.
Dienerin vieler Herren
Die Herren wechselten und mit ihnen wohl das Antlitz, weniger aber der Charakter der Stadt, und noch viel weniger das Schicksal ihrer Diener. Die glanzvolle römische Epoche wurde von den Visigothen, vereinfachend auch Vandalen genannt, im 4. Jahrhundert abgelöst, dann folgten gegen 550 die Byzantiner, 734 die Mauren, die sich bis 1245 hielten.
Rundgang durch Römertheater und Museen in Cartagena:
In mehreren Ausbaustufen wurde Cartagena, das zur Krone Kastiliens und nicht jener Aragoniens wie das benachbarte Valencia (meist) zählte, von den spanischen Königen sturmfest gemacht. Gegen die Piraten aus Nordafrika, gegen die Engländer im Erbfolgekrieg und später von der Republik gegen die Putschisten aus dem eigenen Land. Cartagena war eine der letzten Städte, die den Franco-Faschisten in die Hände fiel. Deren Rache war furchtbar, auch an der Zivilbevölkerung.
Die Reste einer punischen Mauer, also aus den Zeiten Asdrúbals des Karthagers kann man besichtigen, natürlich Castillos maurischen und spanischen Ursprungs, christliche Kathedralen und auch Felszeichnungen aus prähistorischer Zeit. Doch das römische Erbe überstrahlt einfach alles und der Besucher Cartagenas kann sich am Ende seines Aufenthaltes nicht mehr sicher sein, ob er eine spanische Stadt mit römischen Resten oder eine römische Metropole mit spanischen Einsprengseln besichtigt hat.

Zur Bestätigung zähle man die sieben Hügel, in welche die Stadt gebettet wurde, so als ob man Rom im Modell nachbaute. Die Fiestas heute dominieren weder die Moros noch die Cristianos wie andernorts, sondern messingblitzende Römerlegionen, die im Artillerie-Depot-Museum gerade wieder ihre Übungsrunden drehen, wobei die blechernen Harnische Schwerstarbeit leisten, um die Bierbäuche ihrer Träger im Zaume zu halten.
Römertheater und romanische Kathedrale
Das große Amphitheater (teatro romano) ist Herz der Geschichte und der Stadt. Erst seit den 1990er Jahren wird es systematisch archäologisch erschlossen. Luftlinie keine 300 Meter vom Hafen entfernt, zeigt es, wie sicher und heimisch sich die Römer hier fühlten. An das Theater, das 1.500 Menschen Platz bot und von dem sogar die Bühnenarkaden sichtbar sind, schmiegt sich die Ruine einer Kathedrale aus dem 13. Jahrhundert. Das spätromanisch anmutende Gotteshaus war einst Bischofssitz und steht auf den Ruinen einer noch älteren Kathedrale der Byzantiner. Das Teatro Romano ist frei zu besichtigen, es werden aber auch interessante thematische Führungen in mehreren Sprachen angeboten.

Eine Kathedrale aus der Barockzeit ist der aktuelle Stand des spanischen Katholizismus in der Stadt. Landeinwärts, unter der Stierkampfarena, wird gerade ein weiteres Amphitheater freigelegt, der Ort, der als circo einst für die blutrünstigen Schauspiele der Römer diente. Von dort sind es nur ein paar Stufen hinauf zum Castillo de la Concepción, das ersehnten Schatten spendet und eine wunderbare Aussicht über Hafen und Stadt erlaubt. Wer in der Hitze nicht Überblick und Bewusstsein verlieren will, der gehe ins Augusteum, an der Plaza San Francisco, wo das Beste der alten Römerstadt sehenswert in Szene gesetzt wurde.
Kopflos bei San Francisco
Manuel, mein informeller Führer, hat es aufgegeben. Er überlässt mich meinem historischen Entdeckerdrang, er selbst schafft es nur von einer Tapasbar zur nächsten. „Willkommen im echten Spanien“, sagt er und meint damit, dass Cartagena und Murcia kulturhistorisch ein Mischwesen darstelle. Irgendwie eingeklemmt zwischen dem aragonesisch-katalanisch geprägten Valencia und Andalusien sowie der Mancha.

Die Plaza San Francisco im Zentrum der autofreien Innenstadt, gleich neben der Kathedrale, mit geschliffenem Steinboden und gigantischen Gummibäumen. Eine kopflose Augustus-Statue weist den Weg zum Augusteum, mitten auf dem Platz sitzt eine große Familie auf einer Restaurantterrasse. Man erkennt nicht genau, ob sie noch eine Bulería singen oder sich schon in den Haaren haben. Prächtige Bürgerhäuser wechseln mit sich selbst und Graffiti-Künstlern überlassenen Ruinen ab. Ein Mosaik der Gegensätze ist diese Stadt, wie eine permanente Zeitreise, gesteuert durch einen frivol-morbiden Zufallsgenerator.
Junge Stadt auf der Suche: Festivals der Weltmusik
„Zur Fiesta de Mayo sind wir alle Gitanos“, grinst Manuel und bestellt im „Viejo Almacén“, dem Alten Lager am Südende des Platzes, gekochte Schweineohren in Glibber. Er verzehrt sie mit einem Krug Wein und einem Sancho-Pansa-Schmatzen: „Eigentlich hat sich seit Cervantes nicht viel verändert, das Militär gibt immer noch den Ton an“, schwadroniert Manuel, als wir am großen Arsenal der Marine vorbeistreifen. Manuel ist die Pein des Militärdienstes – im Gegensatz zum Wandersmann vor 400 Jahren – erspart geblieben.

Tausende Studenten bevölkern die Stadt, machen sie lebendig und jung. Armut gibt es noch immer viel, aber mehr Möglichkeiten: Universitäten, Arbeit und Freiheit, – wenn auch noch nicht für alle in gleichem Maße. Der Tourismus macht noch einen Bogen um die Stadt, AirBnB ist hier nur eine Randerscheinung. Dabei bietet Cartagena mit dem Weltmusikfestival "La Mar de Músicas", seinem Jazzfestival und anderen Konzerten, die in einem Auditorium über dem Römertheater stattfinden, ein beachtliches kulturelles Niveau.
Auf der Molinete, einem der sieben Hügel, steht eine alte Windmühle neben römischen Ruinen, in die sich Liebespaare und andere Lichtscheue gerne zurückziehen. Manuel insistiert, dass es die Mühlen Murcias und nicht jene der Mancha waren, die Cervantes zu seinem zeitlosen Welttheater Don Quijote inspirierten. „De verdad!“ schiebt er nach. „In vino veritas“, wussten hingegen schon die alten Römer.