Unsere Einladung soll Sie zu einem Spaziergang locken, nur ein paar Meter hinter dem ausgetrampeltsten aller ausgetrampelten Touristenpfade Andalusiens, dem Paseo de los tristes am Darro-Fluss. Dort, wo der Weg nach links oben Richtung Albaicín abbiegt, direkt am Palacio de los Córdova, dem schönsten Hochzeitsort Granadas, biegen Sie mit, gehen aber die erste Straße wieder nach rechts: Camino del Sacromonte. Und dann immer wellig geradeaus, den Gerüchen von Eintopf und wildem Fenchel nach, der Spur des Marihuanas folgend, das aus den Flamenco-Kaschemmen drängt und sich mit dem Rauch der Kanonenöfchen vermischt. Vor lustig bemalten Häuschen stehen grell lackierte Stühle, sie verkaufen Bier, Wein, Souvenirs und Konzerttickets für den Abend. Es gibt Flamencoschulen und ein Auditorium im Gebüsch, hier leben und spielen nicht einfach Flamenco-Familien, es sind ganze Dynastien. Hier darf jeder mal König sein.
Im Sommer ist Sacromonte tagsüber ein wuseliger Ameisenhaufen, aber es ist gerade Winter in Granada, bitterkalt weht es aus der Sierra hinüber, da bin ich fast allein. Natürlich ist es touristisch, die Leute müssen ja Geld verdienen. Airbnb hilft ihnen dabei, das historische Erbe freilich zerstörend. Viele casa cuevas, die Höhlenwohnungen, die Sacromontes schaurigen Mythos vertieften, sind zu 5-Sterne-Appartements demoliert worden, andere stilvoll gestaltet. Manche Höhlen erklärt die Stadt für unbewohnbar, andere werden gefördert. Willkür kennen sie am Sacromonte.
Selbst die westlichen Klischee-Hippies, die den Gitanos seit den 70ern gehörig auf den Senkel gingen, sind weitergezogen, suchen sich andere Bühnen für die uniformierte Selbstdarstellung von Friede, Freude, Eierkuchen. Digitale Nomaden, Instagramer und Influencer gaben in Sacromonte nur kurze Gastspiele, zu wenig Spektakel gibt es hier für sie. Und jenes, das es gibt, dazu haben sie keinen Zugang. Nicht, weil man ihnen den nicht gewährte, weil sie ihn nicht finden können.
Spazieren wir weiter auf dem Camino, immer an Lorca entlang, durchwandern eine Straßenbucht, in der Höhlenlokale wie Ankerplätze auf Besucher warten, auf denen gleich neben den Touristen knallbunte, billige Wäsche aufgehängt wurde, so absurd pittoresk, dass ich den Verdacht nicht loswerde, auch das ist Kulisse. So kommen wir bald an ein kleines Schild, das uns links hinauf schickt in den Barranco de los Negros, vorbei an abbruchreif scheinenden Hütten, die zu Postkartenmotiven geworden sind.
100 Meter nach „außer Atem“ sind wir da, im tief in den Bergfalten versteckten Gitano-Viertel, das die Stadt Granada zum Freilichtmuseum „Cuevas de Sacromonte“ gemacht und so gerettet hat. Auf die Frage an den Einlasser, bis wann die Höhlen denn bewohnt waren, kam erst ein vorsichtiges „in den 1970-ern zogen die Bewohner hier weg“. Erst wenn der Besucher Interesse zeigt, wird der Mann warm, dem sie wohl aufgetragen haben, sensible Touristen-Rehe nicht mit Diktaturgeschichten zu verschrecken: „Sie wurden vertrieben, zwangsumgesiedelt“, ergänzt er nun. In Neubaublöcke, die sie beziehen durften, wenn sie für Elendslohn in Fabriken, auf Feldern oder in Minen schufteten. Integration nannten sie das, nicht nur zur Franco-Zeit.
386 offizielle Dekrete sind seit 1425, seit der ersten Erwähnung von Gitanos in Spanien, ergangen. Nummer 1 war noch ein königliches „Freies Geleit“ für die kuriosen Pilger und Gaukler, danach ging es nur noch um Verbote, Erniedrigung, Kinderraub, Deportationen, und 1749 erklärte Spaniens Regierung sogar den Vorsatz des Genozids: „einzufangen und einzusperren“ seien sie. Ihre „Ausrottung“, exterminio, sei das Ziel, formulierte es König Fernando VI., der sich als „der Gerechte“ und „der Achtsame“ in die Geschichtsbücher gelogen hat. Sohn Carlos III. beendete die Menschenjagd nach zehn Jahren offiziell, weitere zehn Jahre später ließ man dann auch in Granada die Letzten frei.
Die Stadt übernahm nach Ende der Franco-Ära den leergefegten, verwahrlosten Barranco und die Höhlen rechtzeitig und verhinderte so, dass sich Wohlhabende hier Villen errichten konnten. Der Panoramablick in die Sierra Nevada, auf Granada – noch über die Alhambra hinweg –, hätte Millionenprofite versprochen. Es ist ein Wunder, dass das nicht geschah. „Wenn wir diese Höhlenwohnungen nicht erhalten, die Geschichten nicht erzählen, dann würden wir nur die Geschichte von Königen und Bischöfen, die der Reichen und Mächtigen kennen. Aber auch arme Menschen haben eine Geschichte“, kommt der Museumseinlasser in Fahrt. Im Sommer spielen sie mitten im „Hof“ der Anlage Theater und natürlich Flamenco.
Die Höhlen sind dezent anschaulich hergerichtet, eine als Wohnung, die nächste als Stall, dann eine Werkstatt, Weberei, Töpferei, eine Schmiede und so weiter, mit Gerätschaften, Alltagsgegenständen. Selbst die hier gezeigte ärmliche Einrichtung erschiene noch zu romantisch, gäben uns nicht alte Schwarz-Weiß-Fotos an den kalkweißen Wänden der wohltemperierten Bauten eine Ahnung von den tatsächlichen Entbehrungen, die das Leben hier bedeuteten: Kein Strom, kein Wasser, keine Zukunft, kilometerlange Märsche auf Felder und zu den Tierherden, endloses Stricken, Flechten, Knoten, Beten, Betteln für ein bisschen Essen. Keine Schule, keine Ärzte für die Kinder. Und doch waren die Höhlen besser als gar nichts, sie waren ein Heim. Nicht nur hier am Sacromonte, auch in Guadix und bis hinauf nach Rojales, wo die Höhlenwohnungen ein Kulturzentrum wurden.
Die Details kann man kaum beschreiben, man muss sich das anschauen. Täglich von 10 bis 18 Uhr geht das. Und dann weitergehen, noch zwei Wegbiegungen und nochmals aufwärts steht die Abbadia de Sacromonte, eine völlig überdimensionierte Abtei. Errichtet ab 1600, wird seit ewig nur der kleinste Teil genutzt, der andere in Stückarbeit restauriert. Bald können sie den Baukran auch unter Denkmalschutz stellen. 1595 fand ein Mann hier angeblich die Testamente des San Cecilio, Jünger des Apostels Santiago, der dessen Christianisierungsarbeit in Spanien fortgesetzt haben soll, nachdem man diesen köpfte. Als aber bekannt wurde, dass der Finder der Gebeine, der Bleiplatten und einiger Pergamente des Heiligen Cecilio ein konvertierter Maure, also morisco war, da zweifelten die Gelehrten die Echtheit an.
Der Konvertit wollte sich wohl bei den neuen Herren einschmeicheln und nach dem Morisken-Aufstand in der Alpujarra (bis 1571) die Wogen glätten. Warum die Franziskaner dann den Fund als Heiligtum behielten und ihre kirchlichen Paläste dennoch rund um den Fundort errichteten? Weil es Katholiken mit der Echtheit ihrer Reliquien nie so genau nehmen mochten, ein Luxus, den sie sich mangels Originalmaterial gar nicht leisten konnten. Ein Glaubensbekenntnis gegenüber einer Lüge ist allemal tiefer und devoter als ein Bekenntnis zu forensisch abgesicherten Wahrheiten. Echtheitszertifikate gibt es für Reliquien so viele wie Hostien. Seinen Namen hat der „Heiligberg“ von dieser Episode.
Der Bezug zu den sich verbergenden und fliehenden Morisken blieb ein Teil der Geschichte des Viertels, zusammengefasst und jenseits der Geschichtsklitterungsbücher les- und hörbar im Flamenco. Die Zambra mora, ein adaptierter Maurentanz, ist eine seiner dunkelsten Spielarten: An einem schnarrenden, durchgehenden Generalbass der Flamenco-Gitarre umspielen arabische Harmonik und unverkennbare „Oasen-Rhythmik“ der Berber eine traurige Melodei. Wie eine klingende Azulejo-Kachel von drüben aus der Alhambra, eine mit einem Sprung. Diese Zambra mora konnte nur hier entstehen und zur Zambra gitana werden, hier in Sacromonte, der Endstation Sehnsucht Andalusiens. Wie der Cante jondo, der tiefe, innige Gesang, der die Puristen so entzückt – Lorca war einer davon – und uns Außenstehende meist ratlos lässt.
Flamenco meint die Grazie des Flamingos. Kann sein. Flamenco heißt aber auch flandrisch, der Tanz imitiert die ausladenden Arm- und Handbewegungen der dortigen Hoftänze, welche die Gitanos bei ihrem Pilgerzug aufschnappten. Mag auch sein. Das Wort Flamenco stammt vom arabischen Begriff „felach mengus“, auch „falach mankub“ ab, dem landlosen, umherirrenden Bauern, dem, so die Übersetzung, alles genommen wurde. Alle drei Interpretationen stimmen, jede einzelne für sich wäre unvollständig.
So versteht man vielleicht etwas besser, was und wie sie hier singen und spielen und dass ausgerechnet jene, die man am meisten verfolgte und ausschloss, die anderen Verlierer der Geschichte zu und in sich aufnahmen. Die Menschen genauso wie deren Melodien und Verse, den Glauben und den wilden Fenchel, die sie am Wegesrand auflasen und die sie bis hierher führten, wo Lorca, bevor er ein Tal weiter von hier erschossen wurde, sie besingen konnte, rührend und spröde zugleich, sie nicht schonend, aber liebend, weil sie nicht besser, aber immer frei waren, so wie er, in seiner Romanze an den Mond, den Mond über Sacromonte.
Besuch im Museum der Höhlen von Sacromonte und weiterführende Informationen. www.sacromontegranada.com
Unweit vom Sacromonte führt ein Spazierweg entlang der 1.000 Jahre alten Stadtmauer der Zirí-Dynastie.
Zum Thema: Granadas Tore - Alhambras Pforten: Eine Reise durch Zeiten, Reiche und Legenden.