Für Hemingway, der keinen Stierkampf ausließ, waren Pamplona und die Sanfermines der Ausdruck des wilden, unzähmbaren Spaniens, das er so sehr liebte, dass er es mitunter weit von der Realität weg verklärte, als letzten Hort ungewaschener Männlichkeit. Als Kriegsreporter im Spanischen Bürgerkrieg sah er dann auch das andere Spanien, unterstützte die Republik, blieb aber von toreros, corridas und den Sanfermines fasziniert bis zum Schluss. Nicht nur sein Roman "Fiesta" auch viele andere Werke sind durch Spanien und Pamplona, die Stierkämpfe und San Fermín inspiriert, selbst Figuren in seinem Bürgerkriegsepos "Wem die Stunde schlägt", entnahm er den Fiesta-Typen in Navarra.
Tatsächlich zählen die Sanfermines zu den ältesten nachweisbaren und fast durchgehend gefeierten Fiestas in Spanien. Bereits Anfang des 14. Jahrhunderts, die Mauren waren nur einen Steinwurf entfernt, trieben die Stierzüchter ihre Tiere im Herbst zum Markt, der Feria. In der war das ein Ereignis, das immer festlich umrahmt wurde, irgendwann ließen die Spanier bei den Ferias die Viehmärkte weg und feierten nur noch, siehe die Feria de Abril in Sevilla und ihre vielen primos und primas.
Schon 1591 beschloss der Stadtrat von Pamplona, dem mitunter wilden Herbstwetter in Navarra auszuweichen und verlegte die Sause auf "séptimo día del séptimo mes", also den siebenten Tag des siebenten Monats. Nur Bürgerkrieg und Corona unterbrachen das Fest je für ein paar Jahre, ansonsten hielt sie niemand auf. Nach und nach bildeten sich die üblichen Rituale und Traditionen heraus, der feuchte chupinazo, der "Anstoßer" am Rathaus, die Tänze, das kräftigende Frühstück mit Bohnen und der fetten Chistorra-Wurst, das Kapitalvebrechen Calimotxo (Rotwein mit Cola), die Aufregung, die Stiere, der Sprung vom Rathausbrunnen in die Arme der Umstehenden, die verbretterten Straßen des 875 Meter langen Parkours für die toros - und natürlich heute Unmengen von Touristen, die sich in weiße Hemden und rote Halstücher werfen und unheimlich spanisch fühlen, wenn sie unerfahren aber angetrunken unter die Hufe geraten.
Am 6. Juli startet 2022 das Massenspektakel, am 7. Juli gibt es den ersten Stierlauf, encierro um 8 Uhr morgens, live im ersten Kanal des spanischen Fernsehens zu sehen, danach ist Prozession, später werden die gesegneten Geschöpfe in der Arena gemetzelt, nach allen Regeln der "Kunst". Gegen den Stierkampf, überall in Spanien, wird auch in Pamplona zu San Fermín protestiert.
San Fermín, das nur am Rande, ist übrigens weder der Schutzpatron von Pamplona, noch von Navarra, sondern ein französischer Märtyrer-Bischof aus dem 3. Jahrhundert, dessen Existenz nicht einmal belegbar ist. Ein an den Haaren herbeigezogener Vorwand für eine Party, die unchristlicher nicht sein könnte. Deshalb macht sie auch so vielen so viel Spaß. In peñas sind sie organisiert, Freundeskreisen, meist nach Stadtvierteln geordnet, die bis je bis zu 300 Mitglieder haben können. Für sie sind die Sanfermines vor allem ein Stadtfest, das ihren Lokalpatriotismus demonstriert, die Kommerzialisierung, den Massentourismus sehen sie mit gemischten Gefühlen.
Aber: Jeder fünfte Euro, den Pamplona über das Jahr umsetzt, nimmt die Stadt in der einen Fiesta-Woche ein, bis zu 150 Millionen Euro. Hotels, Kneipen, Taxifahrer, Privatvermieter, die sogar stundenweise ihre Balkons vermieten, damit die Touristen einen besseren Blick auf den stierischen Minutenwalzer erhaschen können, alle verdienen sie Geld. 3,50 Euro kostet allein die Stierbeschau in den Corrales del Gas vor dem Treiben. Dieses Geld indes, geht in die Altenpflege vor Ort.
2019, zu den letzten Sanfermines, nahmen rund 13.800 Läufer an den encierros teil. Ein Gedrängel, das zwar seit Jahren begrenzt und regelmentiert wird, aber dennoch nicht richtig kontrollierbar wurde. 16 Tote forderten die "Spiele der Neuzeit" seit 1924, also seit Hemingway hier Zeuge wurde. Alles Männer. Darunter sind, was erstaunen mag, nur zwei Ausländer, die ihren von den Stieren erbettelten Verletzungen erlagen: Der Mexikaner Gonzalo Bustinduy 1935 und der US-Amerikaner Matthew Peter Tasio 1995. Den letzten Toten gab es 2009, der 27-jährige Daniel aus Alcalá de Henares. Nicht wenige Stierläufer sitzen heute im Rollstuhl, an schlechten Tagen können schonmal 40-50 Verletzte bei einem einzigen Stierlauf anfallen, die Krankenhäuser der Gegend sind auf alles vorbereitet.
Und es gibt neben Stieren und gehörnten Männern noch andere Opfer der Sanfermines und dessen mitgeschleppter toxischer Männlichkeit, die im literarischen Machismo eines Hemingway durchaus ein soziologisches Fundament entblößt. Frauen. Gehörte das Betatschen und enthemmte Anbaggern "irgendwie immer mit dazu", hörte es im öffentlichen Bewußtsein Spaniens spätestens 2016 auf, als Folklore durchzugehen. Damals wurde die Gruppenvergewaltigung einer jungen Frau durch eine selbsternannte "manada", ein Rudel währen den Sanfermines publik. Unter den Tätern auch ein Polizist, das Opfer durch Videos und Leaks bloßgestellt, wanderten die Vergewaltiger nach langem Prozess für rund 14 Jahre ins Gefängnis. Die Erkenntnis, dass sich eine Frau nicht nüchtern sein oder aktiv wehren muss, um als Vergewaltigungsopfer anerkannt zu werden und das Gesetz des "Nur Ja heißt Ja" zu sexuellen Selbstbestimmung, wurden durch dieses Verbrechen aus hormongesteuerter Überkompensation beschleunigt. "Lila Punkte" als Info- und Rettungsinseln und mehr Zivilcourage seien in den letzten Jahren in Pamplona bemerkbar, berichten Teilnehmerinnen.
Rettungskräfte und Polizei, Helfer und Kellner singen am 15. Juli zusammen mit den Teilnehmern wieder auf der Plaza Consistorial im Kerzenschein das berühmte "Pobre de mí", "Ach, ich Armer", bei dem die einen bedauern, dass die Fiesta zu Ende ist, die anderen einfach nur froh sein dürften, sie hinter sich zu haben.