„Was heute Whatsapp ist, waren früher die Glocken“, erklärt Rafael Cantavella. „Schon im Mittelalter wurden sie jeden Tag mindestens dreimal geschlagen. Um 7.30 Uhr, um die Bürger zu informieren, dass das Stadttor geöffnet ist und sie raus aufs Feld können. Um 12 Uhr für die Pause und ein Ave-Maria-Gebet und um 19.30 Uhr, um das Schließen des Stadttores anzukündigen.“
Doch das war nicht alles. Zu diesen alltäglichen Glockenschlägen kamen in dieser und anderen Städten in Spanien Geläute für besondere Anlässe. Die traurigste Nachricht, die vom Kirchenturm aus verkündet wurde: der Tod. Je wichtiger die verstorbene Person, umso mehr Schläge – die Frau mit zweien stand, unverständlicherweise, in der Rangliste ganz unten, drei bekam der Mann, übertrumpft von Nonnen, Priestern, Bischof, dem König und, mit bis zu 36 Schlägen, dem Papst.
Erfahren wir heute über unser Smartphone in Sekundenschnelle von einem Brand, egal wo er lodert - gerade in Spanien gibt es da jüngst viele traurige Beispiele -, wurde früher auch bei diesen Schreckensmomenten geläutet. Um zu warnen, aber auch um zur Mithilfe bei der Bekämpfung von Feuer und Co. aufzufordern. „Jedes Dorf hat eine Gefahrenglocke. Sei es im Kirchturm oder im Rathausturm“, sagt Ballester. Der Vorteil der Glocke: Das im ganzen Ort unüberhörbare Signal wurde direkt an alle gesendet. Niemand musste erst aufs Handy schauen, um zu erfahren, was los war. Wenn die Glocke rief, wusste jeder Bescheid, worum es ging – ob er wollte oder nicht.
Was erstaunlich ist, denn hinter den Glocken verbarg sich praktisch eine eigene Sprache, die nicht nur der Glöckner, sondern auch die Adressaten, also die Bürger, verstehen mussten. Bis zu 200 verschiedene Glockenschläge, je nach Anlass, sind zum Beispiel für Valencias bekannten Glockenturm der Kathedrale, den Micalet, überliefert. Für jeden Anlass musste der Glöckner genau wissen, welche Glocke wann und mit wie vielen Schlägen an der Reihe war. Noch heute werden in diesem Kirchturm in Spanien zu bestimmten Anlässen die elf Glocken gleichzeitig per Hand geschlagen, 2013 wurde das manuelle Glockengeläute des Micalet zum Immateriellen Kulturerbe der Region Valencia ernannt.
Immerhin: Nicht nur was die Höhe des Kirchturms angeht – der Micalet misst „nur“ 64 Meter –, auch was die Zahl der Glocken betrifft, kann sich Ontinyent rühmen, innerhalb Spaniens in der Rangliste vor seinem berühmten Bruder aus Valencia zu stehen. Insgesamt 13 Glocken hängen in Ontinyents Turm. Jede hat ihren offiziellen und einen Rufnamen, jede ihre persönliche Geschichte.
Da ist die neueste unter den Glocken, die 515 Kilo schwere Santa Águeda aus dem Jahr 2011, deren Vorgängerin ohne Vorwarnung schlappmachte und einfach in der Mitte durchbrach. 2009 wiederum wurde die 241 Kilo schwere Santa Bárbara gegossen, die an der Seite des Kirchturms hängt, aus deren Richtung normalerweise die in Spanien teils heftigen Unwetter anziehen – um vor genau diesen zu warnen. Ebenfalls 2009 musste die 1.642 Kilo wuchtige Petra erneuert werden. Schon 1998 hatte ihre Vorgängerin Risse und wurde zur Restaurierung von Spanien aus nach Deutschland geschickt, wo man der geflickten Glocke zehn Jahre Garantie gab. Exakt nach Ablauf der Garantiezeit kamen die Risse zurück.
„Glocken zu restaurieren, lohnt sich meist nicht“, sagt Cantavella denn auch, dem es wohl für seinen Geschmack etwas zu still im Kirchturm geworden ist. Er nimmt sich ein dickes Tau vom Haken und macht sich daran, María zum Läuten zu bringen. Der Glockenschlag dröhnt in den Ohren – normalerweise tragen die Glöckner Ohrenschützer –, dabei gehört María mit ihren 152 Kilo zu den Leichtgewichten. Petra ist dagegen die schwerste, gefolgt von der zugleich ältesten, der Rauxa i Foc aus dem Jahr 1563. 1.312 Kilo bringt sie auf die Waage. Kein Vergleich mit den kleinen Ximbolet, Sant Bertomeu und Micaleta, zwischen fünf und 23 Kilo sind sie leicht – dafür aber umso rebellischer. „Wegen ihres Leichtgewichts läuteten sie schon bei kleinsten Windstößen. Das störte und man bat uns, sie festzubinden“, sagt Cantavella und lässt María endlich zur Ruhe kommen. War es anstrengend, sie zu läuten? „Das Glockenschlagen erfordert nicht viel Kraft“, sagt er und wischt sich unauffällig den Schweiß von der Stirn. „Das können auch Frauen und Kinder.“
Wie genau das Glockenläuten funktioniert, erfuhren Ontinyents Glockenfans vom letzten Glöckner der Stadt, den sie Mitte der 90er Jahre, als sie ihre Colla gründeten, befragten. Sie hatten Glück, dass es damals überhaupt noch jemanden gab, der das Handwerk beherrschte, denn seit den 60er Jahren ging es in Spanien bergab mit dem Beruf, der mehr und mehr durch Motoren, Elektronik und Computerbefehle ersetzt wurde.
Zum Leidwesen aller heutigen waschechten Glockenfans in Spanien. „Motorsysteme können das menschliche Anschlagen nicht imitieren“, stellt Josep Jordá, Vorsitzender des Comtat-Glockenvereins, in der Zeitung „Las Provincias“ klar. Nur Glöckner seien in der Lage, einen Rhythmus und eine ganz spezielle Intensität auf die Glocke zu übertragen, „mit der Standardisierung durch Motoren geht das verloren“, sagt er. „Die Glocken drehen sich jetzt monoton, ohne Seele, ohne Vibrationen und ohne die Möglichkeit, eine Harmonie zu erzeugen, die die valencianischen Kirchtürme früher in Konzertbühnen verwandelte“, klagte der Geistliche Luis Aparicio 1970. Was nicht nur Glockenexperten auffällt. „Wenn wir manuell läuten, sagen uns danach viele, dass man den Unterschied merkt“, versichert Cantavella.
Doch trotz all der manuellen Melodik und Sentimentalität: Der Glöcknerberuf war kein Zuckerschlecken – und die Mechanisierung nicht nur Teufelszeug. „Es muss niemand mehr hoch auf den Kirchturm steigen. Wir brauchen keine Seile mehr. Es ist nicht mehr dieser Sprung in die Luft nötig, während dem man die Füße an die Wand stützen muss, um mit dem Körpergewicht das Gewicht der Glocke zu besiegen“, lobte Vicente Cardona aus Paterna 1966 den Fortschritt im Glockensektor in Spanien.
Rafael Ballester vom Ontinyenter Glockenverein hält nicht allzu viel vom Fortschritt. „Er hat noch nicht einmal ein Handy“, lacht sein Glockenkollege Rafael Cantavella. „Wer ihn erreichen will, muss warten, bis er zu Hause ist.“ Oder im Glockenturm. Was braucht man schon Whatsapp und Co., wenn man weiß, wie man im Kirchturm die Glocken zum Läuten bringt.