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Wofür Spaniens Glocken läuteten: „Whatsapps“ aus dem Kirchturm

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Von: Anne Thesing

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Ein Mann schaut von einer Treppe im Kirchturm auf eine große Glocke.
Glocken in Spanien: Rafael Ballester fühlt sich auf Ontinyents Kirchturm wie zuhause. © Anne Thesing

Wie früher in Spanien vom Kirchturm herab Nachrichten per Glocken-Geläut verbreitet wurden und warum der Beruf des Glöckners noch heute fasziniert.

Ontinyent - An diesem Tag ist es ungewöhnlich still im Kirchturm. Normalerweise würden die Glocken jede Viertelstunde schlagen – so ist es am Computer programmiert. Für heute hat Rafael Cantavella den Computerbefehl rücksichtsvoll ausgestellt. „Da würden wir hier oben jedesmal einen ganz schönen Schreck bekommen“, sagt er lachend. „Hier oben“, das ist auf einer Plattform im Glockenturm der Kirche Santa María von Ontinyent, im Hinterland von Valencia. Mit seinen 71,61 Metern ist er der offiziell höchste Glockenturm in der Region Valencia und damit auch einer der höchsten in Spanien.

An bestimmten Tagen, zum Beispiel zu Ontinyents Fiestas, steigt Cantavella hier fünf bis sechs Mal am Tag hoch. Nicht, um dem Glockencomputer Befehle zu geben, sondern um oben auf dem Kirchturm selbst Hand anzulegen. Denn zu besonderen Anlässen schlagen er und seine rund 20 aktiven Mitstreiter des Ontinyenter Glockenvereins noch manuell die „Campanas“ an. „Wir wollen nicht, dass dieses Kulturgut verloren geht“, sagt Vereinskollege Rafael Ballester.

Spaniens Kirchturm-Glocken: Glöckner-Beruf vom Aussterben bedroht

Denn genau die Gefahr besteht. Die Technik des manuellen Glockenläutens und der dazugehörige Beruf des Glöckners, der hoch oben auf den Kirchturm steigt, sind auch in Spanien vom Aussterben bedroht - und schließen sich damit anderen traditionellen Berufen an. „Ist das schlimm?“, könnte man sich fragen, vor allem, wenn man zu denen gehört, die läutende Glocken als nervigen Lärm abtun, obwohl es doch in den Ohren von Glockenfreunden „kein Lärm, sondern laute Musik ist“, wie es der Vorsitzende des Valencianer Glockenvereins, Francesc Llop, beschreibt.

Doch selbst wenn dem so sein sollte, warum muss eine tonnenschwere Glocke in mühsamer Handarbeit geläutet werden, wenn doch mittlerweile ein sanfter Druck auf eine Computertaste dafür ausreicht? Warum sich den Kirchturm hoch- und runterquälen, wenn das Geläute aus der Ferne gesteuert werden kann? Weil sich das Ergebnis eines Knopfdrucks nicht mit dem des Läutens per Hand vergleichen lässt, würden Glockenexperten wohl antworten. Und weil hinter dem Glockenläuten viel mehr steckt als das computergesteuerte Anzeigen der Viertel-, halben oder vollen Stunde.

„Was heute Whatsapp ist, waren früher die Glocken“, erklärt Rafael Cantavella. „Schon im Mittelalter wurden sie jeden Tag mindestens dreimal geschlagen. Um 7.30 Uhr, um die Bürger zu informieren, dass das Stadttor geöffnet ist und sie raus aufs Feld können. Um 12 Uhr für die Pause und ein Ave-Maria-Gebet und um 19.30 Uhr, um das Schließen des Stadttores anzukündigen.“

Todesnachricht aus dem Kirchturm: Die Sprache von Spaniens Glocken

Doch das war nicht alles. Zu diesen alltäglichen Glockenschlägen kamen in dieser und anderen Städten in Spanien Geläute für besondere Anlässe. Die traurigste Nachricht, die vom Kirchenturm aus verkündet wurde: der Tod. Je wichtiger die verstorbene Person, umso mehr Schläge – die Frau mit zweien stand, unverständlicherweise, in der Rangliste ganz unten, drei bekam der Mann, übertrumpft von Nonnen, Priestern, Bischof, dem König und, mit bis zu 36 Schlägen, dem Papst.

Erfahren wir heute über unser Smartphone in Sekundenschnelle von einem Brand, egal wo er lodert - gerade in Spanien gibt es da jüngst viele traurige Beispiele -, wurde früher auch bei diesen Schreckensmomenten geläutet. Um zu warnen, aber auch um zur Mithilfe bei der Bekämpfung von Feuer und Co. aufzufordern. „Jedes Dorf hat eine Gefahrenglocke. Sei es im Kirchturm oder im Rathausturm“, sagt Ballester. Der Vorteil der Glocke: Das im ganzen Ort unüberhörbare Signal wurde direkt an alle gesendet. Niemand musste erst aufs Handy schauen, um zu erfahren, was los war. Wenn die Glocke rief, wusste jeder Bescheid, worum es ging – ob er wollte oder nicht.

Was erstaunlich ist, denn hinter den Glocken verbarg sich praktisch eine eigene Sprache, die nicht nur der Glöckner, sondern auch die Adressaten, also die Bürger, verstehen mussten. Bis zu 200 verschiedene Glockenschläge, je nach Anlass, sind zum Beispiel für Valencias bekannten Glockenturm der Kathedrale, den Micalet, überliefert. Für jeden Anlass musste der Glöckner genau wissen, welche Glocke wann und mit wie vielen Schlägen an der Reihe war. Noch heute werden in diesem Kirchturm in Spanien zu bestimmten Anlässen die elf Glocken gleichzeitig per Hand geschlagen, 2013 wurde das manuelle Glockengeläute des Micalet zum Immateriellen Kulturerbe der Region Valencia ernannt.

Hoher Kirchturm, viele Glocken: Ontinyent auf Spaniens Rangliste vorn dabei

Immerhin: Nicht nur was die Höhe des Kirchturms angeht – der Micalet misst „nur“ 64 Meter –, auch was die Zahl der Glocken betrifft, kann sich Ontinyent rühmen, innerhalb Spaniens in der Rangliste vor seinem berühmten Bruder aus Valencia zu stehen. Insgesamt 13 Glocken hängen in Ontinyents Turm. Jede hat ihren offiziellen und einen Rufnamen, jede ihre persönliche Geschichte.

Da ist die neueste unter den Glocken, die 515 Kilo schwere Santa Águeda aus dem Jahr 2011, deren Vorgängerin ohne Vorwarnung schlappmachte und einfach in der Mitte durchbrach. 2009 wiederum wurde die 241 Kilo schwere Santa Bárbara gegossen, die an der Seite des Kirchturms hängt, aus deren Richtung normalerweise die in Spanien teils heftigen Unwetter anziehen – um vor genau diesen zu warnen. Ebenfalls 2009 musste die 1.642 Kilo wuchtige Petra erneuert werden. Schon 1998 hatte ihre Vorgängerin Risse und wurde zur Restaurierung von Spanien aus nach Deutschland geschickt, wo man der geflickten Glocke zehn Jahre Garantie gab. Exakt nach Ablauf der Garantiezeit kamen die Risse zurück.

„Glocken zu restaurieren, lohnt sich meist nicht“, sagt Cantavella denn auch, dem es wohl für seinen Geschmack etwas zu still im Kirchturm geworden ist. Er nimmt sich ein dickes Tau vom Haken und macht sich daran, María zum Läuten zu bringen. Der Glockenschlag dröhnt in den Ohren – normalerweise tragen die Glöckner Ohrenschützer –, dabei gehört María mit ihren 152 Kilo zu den Leichtgewichten. Petra ist dagegen die schwerste, gefolgt von der zugleich ältesten, der Rauxa i Foc aus dem Jahr 1563. 1.312 Kilo bringt sie auf die Waage. Kein Vergleich mit den kleinen Ximbolet, Sant Bertomeu und Micaleta, zwischen fünf und 23 Kilo sind sie leicht – dafür aber umso rebellischer. „Wegen ihres Leichtgewichts läuteten sie schon bei kleinsten Windstößen. Das störte und man bat uns, sie festzubinden“, sagt Cantavella und lässt María endlich zur Ruhe kommen. War es anstrengend, sie zu läuten? „Das Glockenschlagen erfordert nicht viel Kraft“, sagt er und wischt sich unauffällig den Schweiß von der Stirn. „Das können auch Frauen und Kinder.“

Ein Glockenturm ragt vor grünen Blättern eines Baumes in den strahlend blauen Himmel.
Einer der höchsten in Spanien: Der Glockenturm von Ontinyent. © Anne Thesing

Einer der letzten in Spanien: Fragen an Glocken-Experten aus Ontinyent

Wie genau das Glockenläuten funktioniert, erfuhren Ontinyents Glockenfans vom letzten Glöckner der Stadt, den sie Mitte der 90er Jahre, als sie ihre Colla gründeten, befragten. Sie hatten Glück, dass es damals überhaupt noch jemanden gab, der das Handwerk beherrschte, denn seit den 60er Jahren ging es in Spanien bergab mit dem Beruf, der mehr und mehr durch Motoren, Elektronik und Computerbefehle ersetzt wurde.

Zum Leidwesen aller heutigen waschechten Glockenfans in Spanien. „Motorsysteme können das menschliche Anschlagen nicht imitieren“, stellt Josep Jordá, Vorsitzender des Comtat-Glockenvereins, in der Zeitung „Las Provincias“ klar. Nur Glöckner seien in der Lage, einen Rhythmus und eine ganz spezielle Intensität auf die Glocke zu übertragen, „mit der Standardisierung durch Motoren geht das verloren“, sagt er. „Die Glocken drehen sich jetzt monoton, ohne Seele, ohne Vibrationen und ohne die Möglichkeit, eine Harmonie zu erzeugen, die die valencianischen Kirchtürme früher in Konzertbühnen verwandelte“, klagte der Geistliche Luis Aparicio 1970. Was nicht nur Glockenexperten auffällt. „Wenn wir manuell läuten, sagen uns danach viele, dass man den Unterschied merkt“, versichert Cantavella.

Ein Mann läutet im Kirchturm mit einem Tau eine Glocke.
Glockenläuten ist seine Leidenschaft: Rafael Cantavella in Ontinyents Kirchturm. © Anne Thesing

Fortschrittliche Glocken: Fluch oder Segen im Kirchturm?

Doch trotz all der manuellen Melodik und Sentimentalität: Der Glöcknerberuf war kein Zuckerschlecken – und die Mechanisierung nicht nur Teufelszeug. „Es muss niemand mehr hoch auf den Kirchturm steigen. Wir brauchen keine Seile mehr. Es ist nicht mehr dieser Sprung in die Luft nötig, während dem man die Füße an die Wand stützen muss, um mit dem Körpergewicht das Gewicht der Glocke zu besiegen“, lobte Vicente Cardona aus Paterna 1966 den Fortschritt im Glockensektor in Spanien.

Rafael Ballester vom Ontinyenter Glockenverein hält nicht allzu viel vom Fortschritt. „Er hat noch nicht einmal ein Handy“, lacht sein Glockenkollege Rafael Cantavella. „Wer ihn erreichen will, muss warten, bis er zu Hause ist.“ Oder im Glockenturm. Was braucht man schon Whatsapp und Co., wenn man weiß, wie man im Kirchturm die Glocken zum Läuten bringt.

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