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Spaniens Kulturerbe zerbröselt: Rote Liste von Hispania Nostra kämpft gegen Verfall

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Von: Marco Schicker

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Torre de la miel in Nerja
Der Torre de la miel in Nerja an der Costa del Sol. Eindrückliches Symbol für den Verfall von Kulturerbe. © Hispania nostra

Mit Kreativität, Beharrlichkeit und notfalls mit der „Roten Liste“ will der Verein Hispania Nostra Spaniens historische Bauwerke retten. Eine Sisyphos-Aufgabe mit Erfolgsmomenten - und ein alternativer Reiseführer.

Madrid – Die „Spanier haben keine sehr starke Tradition in gesellschaftlicher Mitwirkung, ihre Hilfsbereitschaft ist in konkreten Fällen groß, bei Notlagen, aber weniger auf lange Sicht. Das gilt, glaube ich, für die Mittelmeerländer generell“. Dieses Urteil kommt von Araceli Pereda in einem Interview mit „El Español“. Die Kunsthistorikerin leitet seit 2012 den gemeinnützigen Verein Hispania Nostra. Mehrfach wurde die 74-Jährige, die Museen und Stiftungen leitete, in Ministerien und beim Europarat arbeitete, für ihr Engagement ausgezeichnet. Ihre Mitstreiter beschreiben sie als „besonders hellen Geist“ und „unermüdlich“. Dass Spanien hinter Italien und China das Land mit den meisten UNESCO-Weltkulturerbestätten ist, verdankt das Land zum Teil auch ihr.

Hunderte Vereinsmitglieder und viele Freiwillige am Vereinssitz von Hispania Nostra in Madrid versuchen mit Kreativität und Beharrlichkeit so viel vom baulichen Erbe der spanischen Geschichte zu retten, sicht- und nutzbar zu machen, wie möglich. „Das Erbe sind wir alle“ lautet der Slogan des Vereins. Dies eine Mammutaufgabe zu nennen, ist fast untertrieben, Sisyphos ist quasi Ehrenpräsident.

Rote Liste der Baudenkmäler Spaniens: Über 100 neue Objeke kamen allein 2022 hinzu

Das zentrale Werkzeug des Vereins ist die seit 2008 geführte Rote Liste und die mediale Aufmerksamkeit, die sie erfährt. Hier werden historische Bauten dokumentiert, die in unmittelbarer Gefahr sind, zu zerbröseln, abgerissen zu werden, die zweckentfremdet genutzt oder unsachgemäß umgestaltet werden. Derzeit umfasst die Liste 1.160 Objekte in ganz Spanien, 66 zum Beispiel in der Region Valencia, 167 in Andalusien. 109 Objekte kamen landesweit allein im Jahr 2022 hinzu. Ein Spaziergang durch die Altstadt von Cartagena oder eine Überlandfahrt durch jede beliebige Provinz Spaniens machte klar, dass 1.160 Objekte nur eine kleine Auswahl sein können.

Puente de la Mesta in Badajoz, Extremadura
Die Puente de la Mesta in Badajoz, Extremadura, aus dem 12. bzw. 16. Jahrhundert. Hispania Nostra will den Verfall nicht hinnehmen. © Hispania Nostra

Über eine interaktive Karte kann jeder auf der Webseite bis ins Detail zoomen, jedes Objekt ist mit Fotos, Geschichte, Bewertung und Stand der Dinge dokumentiert. Das Fazit ist wenig überraschend: Ein toxischer Mix aus Behördenversagen, allgemeiner Gleichgültigkeit oder ökonomischem Egoismus nagt beharrlich an Spaniens Kulturerbe.

Die Rote Liste wird von einer Grünen und einer Schwarze Liste flankiert. Erstere umfasst im Moment 193 Objekte, die als „gerettet“ eingestuft werden konnten, vor allem auch durch Druck und Unterstützung von Hispania Nostra. Die Schwarze Liste führt die endgültig verlorenen Bauten auf, die untergepflügt wurden oder einfach nicht mehr zu retten sind. 14 sind darauf zu finden, was sehr wenig erscheint: Darunter der kuriose Felsenpalast Palacio de Inestrillas in La Rioja, der stückweise aus dem Berg bröselt, das Teatro Bellas Artes in San Sebastián, ein einmaliger Jugendstilbau von 1913, dessen Umbau zum Hilton-Hotel bis 2024 nur die Fassade retten wird, wie so vieles in unserer Welt nur noch Fassade ist.

Gier, Gleichgültigkeit, Behördenversagen: Toxischer Mix nagt an Spaniens Baudenkmälern

Ein sehr typisches Beispiel ist der Palacete de los Condes de Benahavís-La Mundial in Málaga, der Ferienwohnungen weichen wird, aber auch der Verfall einer historischen Metzgerei in Ciudad Real und eines alten Gefängnisses mitten in Úbeda in Andalusien gehen auf urbanistische Spekulation zurück. Es sorgt für Aufsehen, wenn ein Objekt auf die Rote Liste kommt und oft auch für einen Aha-Effekt. Oft wissen nicht mal die Nachbarn, welchen historischen Wert eine Ruine oder ein unscheinbares Gehöft hat. Es kann aber auch vorkommen, dass der Eigentümer den Zugang zu einem unter Denkmalschutz stehenden Objekt, wie zum alten Wachturm in Pilar de la Horadada frech verweigert.

Doch gerettet ist damit noch nichts: Hispania Nostra organisiert selbst fachlich flankierte Exkursionen, geht in die Schulen, Crowdfunding für die Finanzierung von Restaurierungen ist ein zentrales Element der Arbeit und rettete so manchen Bau vor dem Verfall. Allerdings ruft der Verein erst zu Spenden auf, wenn der rechtliche und behördliche Rahmen geklärt, eine langfristige Nutzung und Erhaltung gesichert scheinen. Und das ist meist die größte Hürde.

Dampfloks in Ponferrada
Friedhof historischer Dampfloks in Ponferrada, Galicien. Auch Denkmale des Alltagslebens stehen auf der Roten Liste. © Hispania Nostra

Mit einer Smartphone-App, einschließlich Merchandising-Verkauf, Event-Kalender und Formular für die Anzeige von gefährdeten Objekten durch jeden Einzelnen, setzt sich Hispania Nostra vielschichtig und mit den Waffen des digitalen Zeitalters für das analoge Erbe ein. Und läuft doch den Entwicklungen häufig hinterher. Zwar hat sich einiges zum Guten gewandelt, auch Dank des Kulturtourismus und europäischer Normen, doch Raubgräberei, Vandalismus, illegaler Kunsthandel bleiben ein Problem.

Am zerstörerischsten sind Gleichgültigkeit und das Chaos aus Eigentumsverhältnissen und damit dem mangelnden Zugriff von Experten sowie die Kompetenzflucht der Behörden. Es fehlt ein zentrales Denkmalschutzamt mit Durchgriff bis in die Kommunen, das die Hand auf Objekte legen kann. Das Kulturministerium in Madrid hat theoretisch diese Macht, scheut sich aber, sie einzusetzen, denn mit jeder Deklaration übernimmt sie auch die finanziellen und personellen Lasten für ein Objekt. Das Ministerium für Kultur und Sport hat 2022 ein Budget von 1,6 Milliarden Euro, ganze 51 Millionen davon sind für das „Patrimonio“ reserviert.

Selbst die großen Symbole spanischer Pracht müssen um ihre Fonds zur Erhaltung ringen. Die Alhambra von Granada, die Millionengewinne einfährt, ist in Verantwortung der Junta de Andalucía, sie finanziert sich noch selbst. Doch schon die Moschee-Kathedrale von Córdoba, ebenfalls Weltkulturerbe, hängt von einem Cabildo, einem Kirchenrat ab, der entscheidet, wieviel der Einnahmen in Restaurierung und Betrieb des Weltwunders aus dem 8. Jahrhundert gehen und wieviel in dunklen Kanälen der Kirche verschwinden.

Lotteriespiel des Schicksals: Beispiele zu gescheitertem und gelungenem Denkmalschutz in Spanien

Die spanische Kirche hat sich die Mezquita von Córdoba frech ins Kataster schreiben lassen, obwohl sie staatlicher Besitz ist. König Carlos I., das ist dokumentiert, hat sie der Kirche nach der Reconquista nur zur Nutzung überlassen. Spaniens katholische Kirche, größter Grund- und Immobilienbsitzer des Landes, der allerdings weder Grund-, noch sonst eine Steuer zahlt, riss sich so tausende Objekte unter den Nagel, bettelt aber bei jeder Dacherneuerung die öffentliche Hand an, wie gerade jetzt für die Kathedrale von Málaga. Kirchen, Klöster, Einsiedeleien, Feldkapellen sind neben Wachtürmen und Burgresten denn auch die häufigsten Objekte auf der Roten Liste.

Teatro de Bellas Artes in San Sebastián
Das Teatro de Bellas Artes in San Sebastián, Baskenland. Ein Luxus-Hotel wird nur die äußere Fassade belassen. © Hispania nostra

Die schiere Masse historischen Erbes und die sehr unterschiedlichen Interessenslagen machen den Denkmalschutz in Spanien zu einem Lotteriespiel des Schicksals. Ein paar Beispiele: Da will ein Wirt in Sevilla während der Corona-Schließung seine Bar gegenüber der Kathedrale renovieren und entdeckt hinter der Furniervertäfelung der Wände aus den 50er Jahren ein vollständiges Hammam aus dem 12. Jahrhundert, mit Sterngewölbe, Säulen, den typischen prachtvoll verzierten Fensteröffnungen und allen technischen Installationen. Die Renovierung geht schnell, Stadtarchäologen kontrollieren die Normen, der Wirt bezahlt, die Rechnung geht auf, denn er hat nun das schönste Lokal in Sevilla und kann sich vor Kunden nicht mehr retten.

Gewölbe mit Hammam in einer Bierbar in Sevilla.
In Bier baden, über 100 Jahre war das Hammam in Sevilla hinter einer provisorischen Wand verborgen. © EFE/José Manuel Vidal

In San Fernando bei Cádiz soll auf einer Brache ein Hockeyplatz angelegt werden, doch nach ein paar Baggerschaufeln stoßen die Arbeiter auf Skelette, Dutzende. Wie sich herausstellt, liegt hier der älteste bekannte Friedhof der Jungsteinzeit, über 6.200 Jahre alte Gräber, ungeplündert, feinsäuberlich mit unschätzbaren Grabbeigaben, die Einblick in eine Hierarchie geben, die man von dieser Zeit gar nicht kannte. Nun basteln Uni, Stadt und Land an einer „Kampagne“, um das Feld begehbar zu machen, die Schätze zu konservieren. Entschieden ist aber noch nichts.

In Cádiz‘ Altstadt sollen in der „Höhle zum Blauen Vogel“, eine berühmt-berüchtigte Flamenco-Kaschemme, ein paar Mauern befestigt werden und schon stoßen die Arbeiter auf die Depots eines bis dato unbekannten Verladehafens aus der Zeit der Phönizier, die hier vor 3.000 Jahren Erze und Öl verschifften. In Córdoba legen sie eine 45 Zentimeter große Phallus-Statue in einem Olivenhain frei, in Jaén ein kunstvolles Mosaik und jeweils drumherum römische Villen. In Antequera finden sie ein römisches Dampfbad neben dem Bahnhof und so nebenbei die ganze Römerstadt Singilia Barba. Einige Funde kommen ins Museum, der Rest wird unter einer Grasnabe „konserviert“.

Mit Denkmalschutz in Spanien manchmal gefährdeter als ohne

Entlang der spanischen Küsten gibt es mehr 2.000 Jahre alte Fisch- und Garum-Fabriken als neue Mercadonas und in Utrera identifizieren Archäologen beim Feierabendbier eine mittelalterliche Synagoge in einer Cocktailbar. Viele der Objekte bleiben indes unbeachtet: Im Norden von Málaga bei Fuente de Piedra wurde vor 500 Jahren ein Bauerngehöft rund um eine alte ländliche Moschee gebaut, die neuen Mauern immer wieder vor die alten und sie so halbwegs konservierend.

Fortaleza Califal de Gormaz in der Provinz Soria
Auf der Roten Liste: Das notdürftig zusammengehaltene Fortaleza Califal de Gormaz in der Provinz Soria. © Hispania Nostra

Doch erst seit kurzem kam heraus, dass das Gotteshaus in der Pampa wohl fast 1.200 Jahre alt ist und zur Zeit des Kalifats die zweitgrößte Moschee von Al-Ándalus war. 800 Gläubige beteten hier gleichzeitig. Die Gemeinde hat natürlich kein Geld, die Kreisstadt Antequera wiederum kommt mit den eigenen Ausgrabungen nicht hinterher, kümmert sich lieber um christliches, statt muslimisches Erbe. Der Eigentümer schmiss nach 40.000 Euro Kosten angesichts der unbezahlbaren Denkmalschutzauflagen entnervt hin. Die Moschee-Finca „Cortijos de Las Mezquitas“ ist nun schlechter geschützt ist als vor dem Denkmalschutz 2006. „Fast nicht mehr zu retten“ lautet die Analyse der Fachleute. Sie versuchen es trotzdem, auch wenn die Rote Liste sich schon in Richtung schwarz einfärbt.

Gehöft Cortijo de las Mezquitas
Das alte Gehöft Cortijo de las Mezquitas birgt ein tausendjähriges Geheimnis. © Diputación de Málaga.

In Málaga Stadt wird die U-Bahn um ein paar Stationen Richtung Zentrum verlängert. Die Arbeiten müssen lange unterbrochen werden, weil man unter einer Avenida am Corte Inglés-Kaufhaus einen ganzen Stadtbezirk aus der Maurenzeit findet, der gleich vier Epochen abdeckt, dazu das größte islamische Gräberfeld in ganz Europa. Mühsam raffen Stadt und Land Geld zusammen, um das Gefundene zu restaurieren und zugänglich zu machen und damit trotzdem die U-Bahn fahren kann. Eine unterirdische Stadt soll entstehen, der Zugang über Führungen ab Herbst 2022 kontrolliert möglich werden.

Denkmalschutz in Spanien: Es geht nicht nur um alte Bauten, sondern auch um Identität

Andere Grabungsstätten wie El Cierro de Villar, auch bei Málaga, wahrscheinlich die am besten erhaltene und größte Phönizier-Stadt Europas, schütteten sie lieber gleich zu, um sie zu schützen, vor Wetter wie vor Plünderern und legen nur das frei, was sie pro Kampagne auch bewältigen und konservieren können. Im September 2022 hoben sie ein Stück Grasnabe an und hatten schon uralte Keramikscherben in der Hand, Importe der Iberer aus Italien aus dem 4. Jahrhundert vor unserer Zeit.

Hispania Nostra geht es um einen weiten Kulturbegriff, nicht nur um die Architektur der Macht. Eine frühere Konservenfabrik und eine Sidra-Bodega in Asturien, eine Bahnstation in Murcia, eine Färberwerkstatt in Aragón, eine Kachelfabrik, ein Theater, ein ganz gewöhnliches, aber besonders typisches Wohnhaus des Málaga des 18. Jahrhunderts. Sie alle sind Zeugen nicht nur der alten Pracht, die uns Herrscherhäuser und Reiche, die kamen und vergingen, hinterließen, sondern Spuren, die vom Alltagsleben berichten, das zum Teil noch die Oma erlebt hat, die einen Blick ins alte Spanien zulassen und so Identität stiften könnten.

Das war das Spanien, in dem das Dorf noch der wichtigste Wohnort der Menschen war. Denn, das sollte man nicht vergessen und unterschätzen, die Landflucht ist ein ganz wesentlicher Faktor für den Verfall der Baudenkmäler, wie für die Verwahrlosung der Kulturlandschaft insgesamt. Was in den Städten aus Gier abgerissen wird, verfällt auf dem Land durch Vergessen und Witterung. Die erste Industrialisierung, dann die franquistische Umsiedlungspolitik und bald Landflucht durch Massentourismus lösten beides aus.

Straßen wichtiger: "Was man nicht kennt, schützt man nicht"

Doch solange ein Lokalpolitiker mit der Einweihung einer neuen Straße mehr Stimmen fangen kann, als mit der Rettung und Neunutzung eines alten Gebäudes, wird sich daran auch nicht viel ändern. Gibt es einfach zu viel bauliches Kulturerbe in Spanien, ist es schlicht der Lauf der Zeit, dass so viel verfallen muss? „Was allen gehört, wird nicht so geschätzt“ und „was man nicht kennt, dem misst man auch keinen Wert zu“, resümiert die Hispania Nostra-Präsidentin Araceli Pereda den Umgang mit dem baulichen Kulturerbe in Spanien. Sie identifiziert das Wissen um die Schätze und ihre Nutzbarkeit als Schlüssel für ihre Rettung. Dass „die humanistischen Fächer in den Schulen allmählich verschwinden“, sei dabei nicht hilfreich.

Zur Roten Liste von Hispania Nostra, die sich auch hervorragend als alternativer Reiseführer eignet.

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