Berufen konnte sich die Kirche dabei auf eines der ersten Rassengesetzes Europas vom "reinen Blut". Die österlichen Prozessionen machten dieses "Wir" gegen "Die" sichtbar, sie waren im rituellen Sinne zwar ein Leidensweg, aber auch die Imitation eines Kreuzzuges, eine Manifestation der Macht. Der rechtgläubige Bekenntniswahn, ob aus Überzeugung, Pragmatik oder schierer Angst ging sogar soweit, dass man zweifelhaften Gestalten der "Schinkenprobe" unterzog. Wer sich weigerte, in den Serrano-Schinken zu beißen, musste heimlich Jude oder Moslem sein. Die Bruderschaften mit ihren Prozessionen waren sozusagen die Schinkenprobe im Ornat.
Dabei gab es einigen Wildwuchs, den die Kirche glaubte, bald ordnen zu müssen. So erhielten die Gilden und Bruderschaften auf dem Gebiet der Krone von Aragón, also unter anderem dem heutigen Valencia, Katalonien und auf den Balearen, von den Katholischen Königen schon Ende des 15. Jahrhunderts das Recht, Waffen zu tragen, zum Schutz vor Moriskenaufständen und Piratenüberfällen.
Diese germanías, wie sie auf Katalanisch heißen, nutzten dieses Privileg mitunter dazu, groß in den Sklavenhandel einzusteigen und die vom Islam konvertierten Spanier, die hier seit 800 Jahren lebten, wie Vieh zu verkaufen und auszubeuten. Die Germanías wurden reicher und so selbstbewusst, dass sie sich 1519 gegen den eigenen Adel in Valencia erhoben, um dessen Privilegien wie Steuerfreiheit und Vorzugsrechte bei Landkäufen anzugreifen. Spaniens Reichseiniger Carlos I. saß zu der Zeit noch nicht fest im Sattel und war als Kaiser Karl V. ständig im Ausland beschäftigt und so dauerte es bis 1528 bis wieder die alte Ordnung einzog, rund 800 "Brüder" wurden hingerichtet.
Ordnung schaffen musste die Kirche auch bei den braven Bruderschaften. Da die meisten Gläubigen nicht lesen konnten und die Messen auf Latein gelesen wurden, verstanden sie im Gottesdienst schlicht nicht, worum es ging. Selbst wer lesen konnte, hatte keine Ahnung, denn die erste Bibel auf Spanisch erschien erst 1569 – in Basel. Um die Jesus-Story unters Volk zu bringen, ließ man um die Kirchen, teils sogar in ihnen, szenische Nachstellungen zu. Die verselbständigten sich allerdings auf eine Weise, dass die Kirche bald keine lebendigen Darsteller mehr dulden wollte, die sich an der freien Interpretation der Bibel versuchten.
Um die Sache in pädagogisch-kanonisch geordnete Bahnen zu lenken, stellte man den Bruderschaften Reliquien und Heiligenfiguren auf Tragbahren zur Verfügung. So kommt es auch, dass jedes Stadtviertel seinen eigenen Patron mit Fiesta erhielt. Wo sich Passionsspiele mit lebenden Darstellern hielten, gab es auch mal Ärger. Die Inquisition verbot zum Beispiel das berühmte Passionsspiel von Elche wegen allzu lebensnaher und - Gottseibeiuns - sinnlicher Darstellungen. Erst ein päpstliches Edikt ließ es wieder zu. Bei den Prozessionen kam es der kirchlichen Ideologie sehr zupass, dass sich die Gläubigen unter den schweren Bahren bücken müssen, die auf ihnen drücken, in Büßerkappen werden sie zu einer grauen Masse.
Organisiert sind die katholischen Laienbruderschaften nach dem Kanonischen Recht, die Vorgaben kommen also direkt aus dem Vatikan und intern sind die Gruppen streng hirarschisch, militärisch aufgebaut und sie sind strukturell noch immer eine Männderdomäne. Erst im Jahr 2011 erklärte der Erzbischof von Sevilla, Juan José Asenjo, dass Frauen in allen Cofradías und Hermandades erlaubt seien und auch als kapuzierte Nazarener mitlaufen dürften. Das letzte Wort behielten aber die Bruderschaften, längst nicht alle nehmen Schwestern auf. Und auch sonst halten sich die Traditionen nicht immer an die strengen kirchlichen Vorgaben und so sehen manche Prozessionen aus wie Karnevalsumzüge, andere wie Militärparaden, wo sogar die spanische Fremdenlegion, immerhin eine offizielle Einheit der spanischen Armee, in Uniform mitmarschiert und Kreuze trägt.
Die Prozessionen unterscheiden sich in solche „de sangre“ (des Blutes, von den Selbstkasteiungen mit Ketten) und jene „de luz“ (des Lichts). Solche, die sich mehr dem Opfertod Jesu widmeten und jenen, die die Auferstehung thematisierten. Ihre Varianten und Symboliken sind unzählig und undurchschaubar, auch dahinter steckt Absicht. Der Gläubige muss sich klein fühlen, damit das Große noch größer wirkt. Deutschlands Kulturpapst Alfred Kerr beschrieb bei seiner Spanien-Reise in den 1920er Jahren das „sklavische“ in der Haltung.
Doch die Realität der Kirche holt auch die Prozessionen ein, von denen viele heute als Kulturerbe registriert sind. Zwar laufen den Bruderschaften im Unterschied zur Kirche die Gläubigen nicht weg, im Gegenteil, in manchen Regionen - vor allem Andalusien - bekommen sie sogar Zulauf, doch der Glaube als Motivation zum Mittragen und Mitlaufen rückt immer weiter in den Hintergrund. Der Gemeinschaftssinn, das Gruppenerlebnis aber behält seine Anziehungskraft. Die Passion wird bei vielen zur Folklore, zur Freizeitbeschäftigung wie die örtliche Fiesta-Gruppe, Blaskapelle oder der Pfadfinderverein. Das Göttliche vermenschlicht sich so wieder, wie Jesus, das Menschenskind. Ob das der Kirche nun passt oder nicht.
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