„Die Betreuung in Spanien ist schlicht und einfach unzureichend“, sagt auch die Psychologin Estrella Segura, die bei der Vereinigung zur Integration von psychisch Kranken in der Provinz Alicante (AIEM) tätig ist. Derzeit kämen laut dem Nationalen Statistikinstitut (INE) 0,55 Psychologen auf 1.000 Einwohner in Spanien. „Die Realität im öffentlichen Gesundheitswesen ist entmutigend, es gibt sehr wenige Plätze für die große Anzahl von Personen mit einem Abschluss in Psychologie, die eine Stelle in einem staatlichen Zentrum suchen.“
In Spanien gebe es zwar viele Fachkräfte, die sich in irgendeiner Form der psychischen Gesundheit widmen: Psychologen, Psychiater, Sozialarbeiter, Logopäden, etc. „Doch ich finde, es mangelt an wirklicher Information, es fehlen Protokolle für die Bürger und das Wissen, dass es Mittel und Fachkräfte gibt, die sich mit psychischen Störungen beschäftigen“, sagt Segura. Und aufgrund langer Wartezeiten im öffentlichen Gesundheitswesen bleibt Betroffenen, sofern sie es sich leisten könnten, oft nur der Weg in die private Psychotherapie.
Eine Situation, die sich jetzt ändern soll, nachdem die psychische Gesundheit auf die politische Agenda gerutscht ist. So hat die Regierungskoalition unter der Federführung von Unidas Podemos im September einen neuen Gesetzentwurf zur Salud Mental vorgelegt. Dieser beinhaltet unter anderem folgende Änderungen hinsichtlich des Vorgängergesetzes:
Doch auch im öffentlichen Bewusstsein sind psychische Probleme „dank“ der Pandemie kein Tabuthema mehr.„Die Gesellschaft hat ihre Wahrnehmung gegenüber der psychischen Gesundheit geändert, vielleicht weil sie endlich zugibt, dass irgendetwas nicht stimmt, wenn wir mit unserer Familie zusammenleben, mit dem Kopf aber ganz woanders sind, wenn wir einen angenehmen Moment erleben und dann plötzlich wieder diesen Kloß im Hals spüren, der kommt und geht“, meint Estrella Segura. „Wir machten ein Tabu aus vielen Themen, die jetzt sichtbar werden.“ Die Pandemie habe dabei „unsere Meinung zur Gesundheit im Allgemeinen, und ganz besonders die Wahrnehmung der psychischen Gesundheit revolutioniert“, hat die Psychologin beobachtet. „Und das erleben wir sowohl in der ersten Person als auch auf globaler Ebene.“ Dabei gehörten die Menschen, die bereits vorher unter psychischen Störungen gelitten hatten, sowie auch ihre Betreuerpersonen ohne Zweifel zu denjenigen, die am meisten unter den Folgen der Pandemie zu leiden hätten, ist Estrella Segura überzeugt.
Laut ihrer Erfahrung sind die heute am weitesten verbreiteten psychischen Probleme Angst- und Stresszustände sowie Depressionen. „Wir haben allgemein ein sehr hektisches Leben, wir ruhen uns nicht angemessen aus, und wenn wir es tun, dann nicht bewusst“, sagt die 27-jährige Psychologin. „Wir beziehen unser geistiges Wohlbefinden nicht in unsere tägliche Routine mit ein, wir ignorieren die Zeichen unseres Körpers und Geistes, die uns auf eine emotionale Erschöpfung aufmerksam machen, die wir mit uns herumschleppen, bis sie sich eines Tages in einen absolut lähmenden Stress verwandelt.“
Oft sei es ein langer Prozess, bis Betroffene ihr Probleme selbst erkennen würden. „Und es ist sehr hart und langwierig für diejenigen, die ihn durchleben“, weiß die Psychologin. Jemand, der letztlich Hilfe suchen würde, habe vermutlich lange darauf gewartet, „dass es vorbeigeht“. Und ebenso schmerzhaft sei dieser Prozess für nahestehende Freunde und Verwandte. „Aber für die betroffene Person da zu sein, sie zu begleiten, das ist schon sehr viel“, meint die Psychologin.
Sie selbst habe ihren Beruf nach einer sehr schweren familiären Erfahrung gewählt. „Ich wollte wissen, wie ich anderen helfen kann, die leiden“, erzählt sie. „Wenn ich heute die Erleichterung einer Person spüre, die sich mir gegenüber öffnet, dann fühle ich die heilende Kraft des menschlichen Wesens“, sagt Estrella Segura. Für sie heißt „psychisch gesund“ sein, Träume und Wünsche zu haben, aber gleichzeitig mit Frustration und schmerzhaften Erfahrungen umgehen zu können. „Für mich ist das Anzeichen eines gesunden Geistes die Fähigkeit, es als normal anzuerkennen, dass nicht alles immer gut laufen kann, und das bedeutet auch, dass wir nicht immer glücklich sein können.“