Meistens. Denn manchmal noch kochen die alten Streitigkeiten hoch, wie vor 20 Jahren, als im Sommer 2002 ein Dutzend marokkanische „Gendarmen“ Spanien überfielen, zumindest ein Stück davon. Doch dazu gleich mehr. Zunächst begeben wir uns zum anderen „Erzfeind“, an die französische Grenze. Oder genauer, dahinter, denn in den französischen Pyrenäen finden wir das spanische Dorf Llívia, das zwar zur katalanischen Provinz Girona gehört, aber vollständig von französischem Territorium umschlossen ist. Das ist so seit 1660, seit Spanien im Pyrenäen-Vertrag, der den Dreißigjährigen Krieg ‒ nach 42 Jahren ‒ auch hier beendete, rund 30 Pyrenäen-Dörfer des alten Aragón an Frankreich abtreten musste.
Das Örtchen Llívia allerdings genoss als einziges der katalanischen Dörfer ein königliches Stadtprivileg von Kaiser Karl V., das sogar die Franzosen respektierten und es daher Spanien als Trostpreis-Enklave überließen. Der Schengen-Raum wird wohl nirgendwo so geschätzt wie von den 1.700 Einwohnern in Llívia. Noch 1939 mussten Francos Putschisten die Franzosen um Erlaubnis ansuchen, um in das letzte Republikaner-Nest einmarschieren zu dürfen, ohne einen Krieg auszulösen. Sie bekamen die Erlaubnis.
Unweit von diesem Schauplatz liegt Andorra, bevorzugtes Steuerparadies katalanischer Separatisten, Selbständiger und auch spanischer YouTuber und Parteibonzen. Das Mini-Fürstentum war lange umkämpft und hat als historische Kuriosität überdauert, weil sich die beiden Großmächte wegen eines Bergdorfes nicht ständig bekriegen wollten, Unabhängigkeit wegen Erschöpfung sozusagen. Es ist das einzige Ko-Fürstentum der Welt und hat, wenn auch durch ein Parlament regiert, zwei Staatsoberhäupter, Co-Príncipes, den jeweiligen Präsidenten von Frankreich und den jeweiligen Bischof von Urgel für die spanische Seite. So stellen beide Länder sicher, dass niemand Unbefugtes den Unberührbaren in die Kontoauszüge schauen kann.
Die lustigste Geschichte haben aber mal wieder die Basken zu bieten. Durch die Grenz-Doppelstadt Irún/Hendaya fließt der Bidasoa. Mitten im Fluss liegt die 200 Meter lange Insel Isla de los Faisanes. Ihr Name hat nichts mit den Fasanen zu tun, wie der Name nahelegt, sondern mit der kulturellen Ignoranz zentralspanischer Beamter gegenüber der baskischen Sprache. Der Name entlehnt sich eigentlich dem baskischen Wort für Übergang, pasatu. Dieses unbewohnte Inselchen wechselte seit 1659 über 700 Mal den Besitzer, denn damals einigten sich Frankreich und Spanien im Vertrag von Bayonne darauf, die Hoheit über das Mini-Eiland zu teilen, was gleichzeitig den Dreißigjährigen Krieg zum ungefähr vierzehnten Male endgültig beendete.
Auf Faisanes haben seitdem von Februar bis Juli die Spanier das Sagen, den Rest des Jahres die Franzosen. Jedes Mal eilt dann zur Übergabe ein Bote mit den Hoheitsunterlagen von einem Rathaus ins andere und pro forma wird für die jeweilige Herrschaftszeit das Staatsoberhaupt Spaniens oder Frankreichs zum Vizekönig der Insel, was im Falle des stolz-republikanischen Frankreichs besonders absurd erscheint. Die Fasanen-Insel trägt den Beinamen Insel der Konferenzen und auch Prinzessinneninsel, denn oft verhandelten die Nachbarn hier ihre kleinlichen Territorialstreitigkeiten und wurden auf ihr mehrere Verlobungen zwischen den Töchtern und Söhnen, Cousins und Cousinen der Philippes und Felipes besiegelt ‒ es blieb immer in der Familie.
Reisen wir nach Süden, fallen dem Spanien-Kenner natürlich sofort Gibraltar, Ceuta und Melilla ein. Kurios ist hier, neben der langen Geschichte, dem anhaltenden Phantomschmerz der Spanier und der britischen Sturheit rund um den Affenfelsen, dass ausgerechnet der Brexit dafür sorgte, dass Gibraltar jetzt zur Schengen-Zone gehört. Spanien bestand darauf, den Bewohnern und den täglich pendelnden Gastarbeitern (rund 10.000) ist es recht. Der Schmuggel macht die britische Kolonie zum Zigarettenautomaten des Empire, ansonsten dominieren auch hier die Briefkastenfirmen fiskaler Schlitzohren.
Ceuta und Melilla, die beiden autonomen spanischen Städte an der Küste Marokkos mit je rund 70.000 Einwohnern, sind neben einer territorialen Kuriosität vor allem auch ein Mahnmal gescheiterter Welt- und Entwicklungspolitik, mit ihren über 6 Meter hohen Zäunen, die regelmäßig von verzweifelten Menschen aus Afrika gestürmt werden. Ceuta, seit 1415 die erste Überseekolonie Portugals, fiel 1668 an Spanien als Trostpreis für den Verlust ganz Portugals für die spanische Krone, die dort ein paar Jahrzehnte herrschte.
Melilla wiederum war schon seit den Katholischen Königen Ende des 15. Jahrhunderts spanisch beansprucht, fiel immer wieder in andere Hände, erst 1862 wurden die Grenzen fixiert und erst nach 1956, als Franco Marokko endlich in Ruhe ließ, damit die USA ihn aus der internationalen Isolation befreiten, auch geachtet.
Beide Städte spielten auch eine wichtige Rolle bei der Reconquista, waren Ceuta und Melilla doch Hafen und erstes Refugium vertriebener Juden, Mauren, Morisken, sie behielten bis heute ihren multikulturellen Charakter, in Ceuta und Melilla finden wir die bunteste der spanischen Küchen. Irgendwann vielleicht, wenn Nord und Süd eine gewisse sittliche Reife erlangen sollten, Religion kein Trennungsgrund mehr sein muss, weil sie aus der Politik verbannt wird, können die Zäune hier auch fallen und eine Art maghrebinisches Schengen entstehen. Noch keine Mauer, kein Zaun, hat in der Menschheitsgeschichte Probleme zwischen Völkern gelöst, sie höchstens vertagt, und es gab einmal eine Zeit, da war die Meerenge von Gibraltar (benannt übrigens nach Tariq, dem maurischen Eroberer Spaniens im Jahr 711) eine Brücke und keine Grenze.
Bis dahin aber bleiben uns noch einige Klecker-Inseln direkt an der marokkanischen Küste erhalten, die Spanien in einer Art postkolonialem Verlustsyndrom als „Hoheitsgebiete“, plazas de soberanía, beansprucht, Marokko damit frech vor der Nase herumturnt, die aber ökonomisch ein Klotz am Bein sind und deren strategische Bedeutung nicht erst mit der Einführung neuer Überwachungstechnologien fragwürdig geworden ist. Uns zum Amüsement kommen sie gerade recht. Es handelt sich um die Mini-Inseln Islas Alhumecas, Islas Chafarinas, Isla de Alborán und die berühmte Isla de Perejil, die Petersilieninsel. Allesamt sind unwirtliche, kleine Felsen-Eilande nur wenige Hundert Meter von der Küste entfernt, besetzt durch spanische Militärgarnisonen von jeweils ein paar Dutzend Mann, abgezählten Rationen Ibérico-Schinken und einer Fritteuse für Churros.
Mit Ausnahme der Petersilien-Insel, Isla de Perejil (arabisch Laila, berberisch Tula), die, 250 Meter vor der Küste gelegen, unbewohnt bleibt und von beiden Ländern beansprucht wird, weil man sie in den einschlägigen Abkommen (Fez 1912 sowie 1956) einfach übersehen hatte. Früher war sie mal portugiesisch, es gab sogar mal eine Festung darauf, noch früher gehörte sie zum Königreich von Tartessos (bis 500 v. Christus), das erzählt zumindest der griechische Historiker Strabon. Hier kam es vor 20 Jahren, im Sommer 2002, zu einem Vorfall von internationalen Ausmaßen.
Eine Handvoll als Gendarmen verkleidete Soldaten der marokkanischen Armee fingierte am 11. Juli eine Drogenrazzia, um die Staatsflagge Marokkos in den Felsenboden zu rammen und die gesamte Petersilie abzuernten. Der Auftrag dürfte vom erst 1999 auf den Thron gestiegenen König Mohammed VI. direkt gekommen sein, der sich ein bisschen wichtig machen wollte. Er war ‒ mal wieder ‒ verärgert über die algerienfreundliche Westsahara-Politik des spanischen Regierungschefs José María Aznar und es gab auch mal wieder Gezeter über Fischereirechte, kurz, es war Zeit für einen Schwanz- oder Zepter-Vergleich zwischen beiden Alpha-Präsidenten.
Die Spanier fielen auf den Unsinn herein und schickten tatsächlich eine hochmoderne Streitmacht über das Mittelmeer, um ihre Insel zurückzuerobern, von der bis heute niemand in Spanien weiß, wozu man sie eigentlich braucht und deren Namen sich die Spanier nur merken, weil darin etwas Essbares vorkommt. Das Sonderkommando stimmte die spanische Hymne an, was bei den Muselmännern wenig Eindruck machte, weil Spaniens Hymne gar keinen Text hat. In der nationalen spanischen Presse wurden in buntesten Farben Reconquista-Szenarien gegen die „Invasion der Araber“ an die Wand gemalt, Marokko mobilisierte wütende Fahnenverbrenner und sein Militär, die UNO wurde eingeschaltet und die US-Amerikaner setzten beide Streithähne schließlich an einen Tisch.
Nach einer guten Woche einigte man sich darauf, dass keiner die Hoheit des anderen über den Felsen anerkennt, aber auch niemand mehr einen Fuß darauf setzen dürfe, außer dem Mädchen Rajma, die hier ihre Ziegen die angeblich saftigste Petersilie des Mittelmeeres grasen lässt. Ihre Familie tat das schon immer, wer sind Spaniens Monarch oder der König von Marokko, ihren Ziegen zu sagen, wann sie Hunger haben.
„Niemand hatte die Absicht, eine Mauer zu errichten“: Auch der Peñón de Vélez de la Gomera, genau auf halbem Wege zwischen Ceuta und Melilla, wäre so ein unschuldig militarisiertes Felseninselchen wie die oben genannten, wenn der liebe Herrgott nicht ein teuflisches Vergnügen daran gefunden hätte, den Menschen die Dinge noch ein wenig zu verkomplizieren: Ein Erdbeben im Jahre 1930 sorgte dafür, dass der unwegsame Felsen von nicht einmal zwei Hektar, der übrigens seit 1564 durchgehend in spanischer Hand ist, mit einer Landzunge an das afrikanische Festland und damit an Marokko angekoppelt wurde.
Die spanische Garnison geriet nun in große Not und stand vor einem Problem, das, so glaubte man, nur eine Mauer lösen konnte. Sie ist mit 85 Metern ‒ es sind unter 70, wenn die Wellen hochschlagen ‒ die kürzeste und wahrscheinlich sinnloseste Landgrenze der Welt. Die Marokkaner, die sich um einen überraschenden Landgewinn betrogen sahen, rächten sich, in dem sie die vereinbarte Versorgung der Besatzung mit Trinkwasser einstellten. Die Spanier tranken dann 70 Jahre nur noch Wein, bis ihnen Madrid eine kleine Entsalzungsanlage schickte. 2012 wiederholte sich hier der Slapstick mit der Flagge von der Petersilien-Insel durch eine „Freiheitsbewegung“. Diesmal räumten die Marokkaner aber selbst mit den muslimischen Hippies auf, doch führte der Vorfall dazu, dass Spanien die Garnison nochmals aufstockte, die nun bis aller Tage Ende ihre Dauermanöver aus Langeweile, Sturmgewehr, Siesta und Meerblick exerzieren muss und nur beten kann, dass, ojalá!, die Marokkaner niemals ernst machen.