Die Bilder von überfüllten Intensivstationen in spanischen Krankenhäusern, Feldlazaretten und Krankenhausbetten in Fluren haben aufgeschreckt. Die spanische Regierung hat erkannt, dass Privatisierungen und Einsparungen im öffentlichen Gesundheitswesen den Handlungsspielraum in Ausnahmesituationen so stark einschränken, dass das Menschenleben kostet. Man fühlte sich – nicht nur in Spanien – zu sicher und hatte das „beste Gesundheitssystem der Welt“, – solange nicht viele auf einmal erkranken. Daher sind Milliarden aus dem Budget sowie den EU-Hilfen dafür bestimmt worden, das Gesundheitswesen robuster und flexibler zu machen.
Ob die Umsetzung dem Plan folgt, wenn sich der Rauch verzogen hat, bleibt abzuwarten, doch einige Verbesserungen sind bereits zu bemerken: Es gibt erstmals eine strategische Reserve an Basismaterial sowie ein vom Staat geführtes Netzwerk an Unternehmen, die jederzeit auf „Kriegsproduktion“ umstellen können. Es sollen im Land hunderte neue Gesundheitszentren errichtet werden, um die Erstversorgung zu stärken und damit die Krankenhäuser zu entlasten. Die Autonomen Gemeinschaften erhielten über vier Milliarden Euro zusätzlich für Personal, die privaten Kliniken werden ins Versorgungsnetzwerk in Notzeiten einbezogen. Wenn sich jetzt noch die Einsicht durchsetzen möge, dass Assistenzärzte und vor allem Pflegepersonal besser bezahlt werden müssen.
Denn vor allem die Bewohner in den spanischen Altersheimen waren die großen Opfer der Coronavirus-Pandemie. Offiziell anerkannt starben 29.400 Menschen in spanischen Altenheimen wegen Covid, tausende davon in der ersten Welle in Madrid wohl auch wegen „unterlassener Hilfeleistung“ auf Anordnung der Regionalregierung, das untersuchen zumindest die Gerichte. Das Drama in den Altenheimen zwingt die Gesellschaft, darüber nachzudenken, ob Pflege- und Seniorenheime auf privatwirtschaftlicher Basis die Grundbedürfnisse einer zunehmend alternden Gesellschaft erfüllen können.
Die Frage, wie wir mit unseren Senioren umgehen, bedeutet auch, wie wir selbst im Alter leben wollen? Konkret gibt es eine neue Checkliste der Mindestanforderungen an gesundheitlicher Aufsicht, die Altersheime erfüllen müssen, um zugelassen zu werden. Modelle wie betreute Wohngemeinschaften, die in anderen Ländern schon funktionieren, werden auch in Spanien mehr erprobt.
Ende Mai 2020 führte die Regierung Sánchez das Ingreso mínimo vital, IMV ein, ein Grundeinkommen, auf das die Ärmsten der Gesellschaft Zugriff haben, rund fünf Prozent der Bevölkerung. Ohne die Pandemie würde man auf diese Basisabsicherung für den benachteiligsten Teil der Bevölkerung noch heute warten. Von rund 400 bis 1.200 Euro, je nach Haushaltsgröße, reichen die monatlichen Zahlungen, die, zugegeben, oft erst nach Monaten bewilligt wurden, weil der Beamtenapparat mit der Antragsflut völlig überfordert war. Begünstigte sind all jene, die aufgrund prekärer Arbeitsverhältnisse, ihrer Marginalisierung als Migranten oder anderer sozialer Randgruppen keine Chance bekamen, von ihrer Hände Arbeit etwas zu sparen und vom regulären Sozialsystem aufgefangen zu werden.
Man kann über das zeitweise Ausstellungsverfahren ERTE, bei dem der Staat (mit EU-Geldern) seit März in vielen Bereichen den Unternehmen, die nicht richtig arbeiten können, die Lohnkosten abnimmt, geteilter Meinung sein. Die Zahlungen (70 Prozent des Lohns in den ersten sechs, danach 50 Prozent) kamen oft sehr spät an und vor allem kleine Betriebe blieben oft außen vor. Doch zigtausende Betriebe haben auf diese Weise überlebt. Leider hat man es versäumt, ein ähnlich pauschales System auch allen Selbständigen und Kleinstbetrieben angedeihen zu lassen, wie man es in anderen Ländern tat, wo die Umsatzausfälle pauschal übernommen wurden. Eine Pleitewelle, die erst noch richtig anrollt, trübt daher die „gute Nachricht“ vom ERTE-System, das vor ein paar Jahrzehnten in Spanien noch undenkbar gewesen wäre. Erst in den letzten Tagen, im März 2021, bewegt sich etwas mit Milliarden-schweren Hilfspaketen für Unternehmen und Selbständige.
Im Unterschied zur letzten, der Finanzkrise, spielt Geld diesmal keine Rolle. Regierungschef Sánchez hat hart gegen Bremser dafür gekämpft, dass Spanien am Ende auf bis zu 140 Milliarden Euro EU-Mittel zugreifen können wird. Der größte Teil ist für die Reaktivierung und den Umbau der Wirtschaft vorgesehen, nach ökologischen, nachhaltigen Kriterien und für einen Sprung im Bereich Technologie und Digitalisierung sowie der Erneuerbaren Energien. Nun kann man aus Erfahrung unken, wie viel davon in sinnlose Projekte oder zwielichtige Kanäle versickern wird, doch ohne Corona hätte es diesen Push nicht gegeben, der weit über den reinen Wiederaufbau zum Status quo hinausgehen wird, wenn auch nicht von Heute auf Morgen.
Ein Sprung, der auch bei anderen Krankheiten Fortschritte bringen wird. Es sind nicht nur die in ihrer Wirkungsweise revolutionären Pfizer- und Moderna-Impfstoffe, die womöglich auch bald gegen Krebs und andere Geißeln der Menschheit eingesetzt werden können. Vielmehr hat die Wissenschaft belegt, dass sie in kurzer Zeit eine existentielle Bedrohung für die Menschheit abwehren kann, durch öffentliche Gelder – denn die EU schoss Milliarden in die Impfstoffforschung vor. Die Impfung wirkt, die Zahlen aus den spanischen Altenheimen belegen das unumstößlich. Seit der Finanzkrise wurden indes vor allem staatliche Forschungslabore sträflich zusammengespart. Corona rückt die wissenschaftliche Forschung und Entwicklung wieder auf den Platz, der ihr zusteht, als essentieller Gesellschaftzweig.
Schon nach der Finanzkrise hoffte man, die Marktwirtschaft würde in sich gehen und reformieren. Große Konzerne haben die Tendenz, Gewinne für sich zu behalten, Verluste aber auf die Gesellschaft umzulegen, mit der Begründung „systemisch“ zu sein. Doch kaum etwas geschah. Jetzt, in der Corona-Krise, haben genossenschaftliche Modelle Zulauf bekommen, in denen der Betriebszweck nicht allein die Auszahlung der Gewinne an anonyme Teilhaber ist, sondern die Mitarbeiter oder Mitgliedsunternehmen selbst beteiligt sind. Das Betriebsziel ist der Erhalt der Arbeitsplätze, erst danach kommt die Rendite. Pionier auf diesem Gebiet ist die baskische Konföderation der Kooperativen Konfekoop, das sich in den Bereichen Agrar, Handel, Wohnen, Geldverkehr engagiert.
Auch das Gesetz zur Regulierung der Heimarbeit in Spanien und deren massenhafte Akzeptanz in den Branchen, in denen sie machbar und sinnvoll ist, hätte es ohne Corona nicht gegeben. Das Misstrauen der Arbeitgeber wurde widerlegt, der alte Bürotrott wird verlassen.
Zwar ist Amazon einer der ganz großen Gewinner der Pandemie, aber die kleinen Geschäfte, Restaurants und Dienstleister wurden eben auch durch Lockdown und Restriktionen gezwungen, sich mit Online-Plattformen und Lieferdiensten auseinander zu setzen und zukunftsfähig zu werden. Zudem vermissten die Kunden ihr Geschäft um die Ecke, Amazon kann eben doch nicht alles liefern.
Allein in Spanien sammelten sich im Coronajahr Klamotten für mehrere Milliarden Euro an, die man nicht verkaufen konnte. Die Shopping-Touren fielen flach und so mancher kam zur Einsicht, dass es die Bluse oder die Jeans aus der Vorsaison vielleicht doch noch machen. Die exzessive Globalisierung und der besinnungslose Konsumrausch bekamen zumindest einen Dämpfer.
Zugegeben, eine steile These, denn man hört das Hufescharren von Reisebranche und Touristen für Reisen nach Spanien überall, die nur darauf warten, so weiter machen zu können wie bisher. Aber: Das fast völlige Ausbleiben von Touristen, die Abhängigkeit von den Flugplänen, hat die Branche doch zum Umdenken gezwungen. Der ländliche Tourismus im „leeren Spanien“ erfährt einen Boom, wie die Anfragen belegen. Die Übertreibungen der Vermietungen über AirBnB und Co, die ganze Innenstädte gentrifizierten und ihrer alten Strukturen beraubten, werden zurückgefahren. Der verstaubt klingende Begriff der Naherholung wird in Zukunft als Urlaubskonzept wieder eine Rolle spielen.
Die Geschichten sind unzählbar, oft auch unscheinbar und reichten von selbstgenähten Masken oder Pizzen für die Mitarbeiter des Gesundheitswesens bis zu Restaurants, die in der Krise auf karitative Suppenküche umrüsteten. Entgegen dem Bild des ewigen Egoisten, des „Ich“-Rufers der Quer- und Leerdenker-Demos vor allem in Deutschland, war die Realität in Spanien überwiegend eine von Verständnis und Ruhe geprägte. Das hängt auch damit zusammen, dass die Spanier von ihrem Staat ohnehin nie viel zu erwarten hatten. Nachbarn halfen sich, schauten nach der alten Frau nebenan, das „barrio“ und das Ehrenamt sind zwei Institutionen auf die Spanien stolz sein kann.
Angeblich gehört der Kultursektor zu den großen Verlierern der Pandemie. Vielen fehlte die Kultur aber erst, als man ihnen das in Facebook per Sticker mitteilte. Gemeint war da doch eher der Event-Sektor, das Spektakel und verloren haben natürlich jene Künstler, die vom Eintrittsgeld des Publikums leben. Doch es gibt auch eine andere Seite der Corona-Medaille: Stierkämpfe wurden abgesagt, Museen konnten ihre Sammlungen endlich mal ordnen, Archäologen in Ruhe ausgraben und klassifizieren, Literaten Bücher fertig schreiben, Musiker komponieren und aufnehmen. Baudenkmäler konnten renoviert werden und sogar in mancher Bar, die gerade umgebaut wurde, machten Archäologen die spektakulärsten Entdeckungen.
Frust aufstauen oder das Beste daraus zu machen? Die meisten durchlebten während der Lockdowns wohl beide Extreme ein bisschen. Corona hat dafür gesorgt, dass Kinder und Eltern so viel Zeit miteinander verbringen, wie seit Generationen nicht mehr. Nicht in allen Familien war das gut, viele zerbrachen daran, andere aber genießen das Beisammensein und kamen sich näher. Kinder stellten sich oft als krisenresistenter und lebensbejahender heraus als ihre Erzeuger. Beide konnten voneinander lernen. Wann wird man in „normalen“ Zeiten das wieder erleben?
Einige fingen an zu kochen, Sport zu treiben, gesünder zu leben. Viele reflektierten darüber, was und wer ihnen im Leben wichtig ist und dass Zufriedenheit nicht unbedingt mit äußeren Reizen kommt. Ruhe und Zeit war für viele auch ein Gewinn, für andere zumindest eine Erkenntnis. Einige kommen damit, mit sich bis heute nicht klar. Dafür kann aber Corona nichts. Letztlich ist es für die Gesellschaft im Ganzen wie für jeden Einzelnen eine Frage der Perspektive, die bestimmt, ob Corona eine Krise bleibt oder schlicht ein Ereignis, das es zu meistern galt und gilt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.