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Nach Gruppenvergewaltigungen in Spanien: Experten fordern bessere Aufklärung

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Von: Judith Finsterbusch

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Auf einer Ausgehmeile stehen viele junge Leute auf einer Straße vor Bars.
Die meisten Gruppenvergewaltigungen in Spanien passieren nachts, oft bei oder nach Partys. © Clara Margais/dpa (Symbolfoto)

Im Mai erlebte Spanien einen schwarzen Monat mit drei Gruppenvergewaltigungen. Doch warum werden junge Männer, teilweise sogar noch minderjährige Jungen, zu Tätern?

Málaga/Valencia – Minderjährige Jungen, die in der Gruppe minderjährige Mädchen, Kinder, vergewaltigen. Minderjährige, die sich an einer jungen Erwachsenen vergreifen. Erwachsene, die eine erwachsene Frau vergewaltigen. Gleich drei Fälle von Gruppenvergewaltigungen binnen einer Woche schockierten Spanien im Mai, das Trauma der Manada, jenes selbsternannte Rudel, das 2016 in Pamplona eine junge Frau bei den Sanfermines vergewaltigte, ist zurück. Verschwunden war es freilich nie, doch so viele Fälle in so kurzer Zeit machten selten Schlagzeilen.

Drei Gruppenvergewaltigungen im Mai schockieren Spanien

In Burjassot, Region Valencia, sollen fünf Jungen zwischen 15 und 17 Jahren am 16. Mai ein 13-jähriges Mädchen in einem verlassenen Haus vergewaltigt haben. Zuvor hatte einer der Minderjährigen offenbar bereits die zwölfjährige Freundin des Opfers vergewaltigt. In Villarreal, im Nordosten von Spanien, erstattet eine 18-Jährige Anzeige wegen einer Gruppenvergewaltigung am 20. Mai während des Stadtfests. Die Polizei verhaftet drei minderjährige Verdächtige.

Eine dritte Gruppenvergewaltigung erschüttert den zu Pulpí gehörenden Küstenort San Juan de los Terreros in Andalusien. Am 21. Mai setzt ein Mann einen Notruf ab: Er habe eine Frau aufgegriffen, die ihm gegenüber erklärte, sie sei sexuell missbraucht worden. Es handelt sich um eine 30-jährige Touristin aus Lateinamerika. Nach einem Streit mit ihrem Freund sei sie alleine in dem Küstenort im Süden von Spanien unterwegs gewesen und von drei Männern angesprochen worden. Sie boten der Frau an, sie zu ihrer Unterkunft zu begleiten. In einer Straße am Entrevista-Strand sei es zu der Gruppenvergewaltigung gekommen. Die Polizei verhaftet wenige Tage später drei Männer zwischen 18 und 21 Jahren.

Gruppenvergewaltigungen und brutale Übergriffe in Spanien - „Was ist mit den Männern los?“

Im Alicantiner Ausgehviertel „El Barrio“ stürzen sich in der Nacht zum 29. Mai zwei junge Männer auf eine Frau, die zum Urinieren auf ein verlassenes Grundstück geht. Sie nehmen sie von hinten in den Würgegriff, begrapschen sie und stehlen ihre Tasche. In Barcelona macht eine 16-Jährige ihre Aussage, die im November brutalst vergewaltigt wurde, nachdem sie eine Diskothek verlassen hatte. Mit einem Schlag auf den Hinterkopf wurde sie außer Gefecht gesetzt, das Mädchen kann sich an nichts erinnern. Die Amnesie umfasst elf Tage, die Jugendliche musste sechs Mal operiert werden, sie ist schwer traumatisiert.

Vier Frauen wurden im Mai binnen einer Woche in Spanien von ihren Partnern oder Ex-Partnern ermordet, drei von ihnen in Andalusien. Eine weitere Frau wird mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus gebracht. Seit Jahresbeginn zählt Spanien 18 Todesopfer Häuslicher Gewalt.

Falsches Verständnis von Sexualität: Jugendliche konsumieren zu viel im Internet

Zu der Frage „Was ist nur mit euch Männern los?“ ließ sich die spanische Regierungsvertreterin in Valencia, Gloria Calero, hinreißen. In den Medien kochen Diskussionen hoch, weil die Verdächtigen sowohl im Fall Burjassot als auch im Fall Villarreal unter Auflagen auf freien Fuß gesetzt wurden. Unterdessen verabschiedet Spanien im Parlament das neue Gesetz zur Garantie der sexuellen Freiheit als Reaktion auf Gruppenvergewaltigungen.

Was mit den Männern los sei, fragte Calero, was mit den Kindern oder Jugendlichen los ist, könnte man sich ebenfalls fragen. „Es findet nicht nur sexueller Missbrauch von Erwachsenen an Minderjährigen statt, sondern auch unter gleichaltrigen Minderjährigen. Meistens haben die Täter viel Pornografie konsumiert“, sagt Diana Díaz von der Kinder- und Jugendhilfe-Stiftung Anar gegenüber der Zeitung „La Verdad“. Immer wieder kommen in Spanien Experten zu Wort, die einen Zusammenhang zwischen immer früherem, frei verfügbaren Konsum pornografischer Inhalte im Internet und Gruppenvergewaltigungen sehen. Díaz schätzt, dass die meisten Kinder ab zehn bis elf Jahren beginnen, entsprechende Videos anzuschauen.

Nach Gruppenvergwaltigungen: Mehr sexuelle Aufklärungsarbeit gefordert

Oft wird die Frau darin in eine unterwürfige Rolle gedrängt. „Beunruhigend ist, dass Kinder ihre Vorstellungen von Sexualität auf einer irrealen Grundlage entwickeln – begründet in Ungleichheit und der Unterwerfung der Frau“, kommentiert die Zeitung „La Verdad“. Früher Porno-Konsum trifft auf mangelnde Aufklärung in Spanien, zu Hause und in den Schulen. „Wir müssen uns fragen, warum Sexualität zum Tabu-Thema geworden ist. Viele Eltern führen nicht mehr dieses Gespräch mit ihren Kindern, um mit ihnen über ihren Körper zu reden. Wir müssen den Kindern in aller Ruhe erklären, dass ihr Körper nur ihnen gehört“, sagt Díaz.

Parteien wie die rechtsextreme Vox lehnen sexuelle Aufklärung in Schulen ab. Sie stützen sich unter anderem auf absolute Einzelfälle wie den in Málaga: Am 8. Mai verhinderte die Ortspolizei eine angebliche Gruppenvergewaltigung, das vermeintliche Opfer gab an, von drei Männern am Strand Malagueta bedrängt worden zu sein. Jetzt hat die Frau ihre Anzeige zurückgezogen, nachdem herauskam, dass sie die Tat offenbar nur vorgetäuscht hatte – um eine finanzielle Entschädigung und eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen.

Spanien: Zahl der Gruppenvergewaltigungen nimmt zu

Der Anteil an Sexualverbrechen, bei dem zwei oder mehr Täter sich an einem Opfer vergehen, ist laut einer Anar-Studie in Spanien binnen zehn Jahren von 2,1 auf 10,5 Prozent in 2018 gestiegen. Etwa die Hälfte der Gruppenvergewaltigungen finden zwischen Mai und September statt, meist nachts, meist am Wochenende, meist in Verbindung mit Partys, oft in Verbindung mit Alkohol, Drogen oder K.O.-Tropfen, mit denen die Opfer willenlos gemacht werden.

Das spanische Innenministerium führte 2021 mehr als 17.000 Delikte gegen die sexuelle Freiheit oder Unversehrtheit auf, genaue Zahlen zu Gruppenvergewaltigungen gibt es nicht. Anhand von Fällen, die durch die Presse gehen, sammelt das Portal Geoviolencia Sexual Daten, hier ist von 211 Gruppenvergewaltigungen im Zeitraum 2016 bis 2021 die Rede.

Vergewaltigungen und sexueller Missbrauch in Spanien: Nur acht Prozent zeigen an

Nur acht Prozent der Opfer von sexuellen Übergriffen erstatten Anzeige, so eine Umfrage des Gleichstellungsministeriums unter 10.000 Frauen ab 16 Jahren in 2019. Die Hälfte der Frauen in Spanien hat demnach sexuelle Gewalt erlebt. Von einer tief verankerten machistischen Ideologie seit „Anbeginn der Zeiten“ spricht Bárbara Tardón, Expertin für sexuelle Gewalt und Beraterin des Innenministeriums. Psychologie-Professor Torre Laso von der Universität Salamanca stellt fest, dass die Täter sich oftmals keiner Schuld bewusst sind. „Der Angreifer interpretiert, dass das Opfer einverstanden war, etwa, weil beide betrunken waren.“

Sexuelle Gewalt ist ein gesellschaftliches Problem, nicht nur in Spanien. „Die machistische Ideologie unterdrückt die sexuelle Freiheit der Frauen“, sagt Tardón. „Entweder, wir sprechen mit den Jugendlichen darüber, was sexuelle Freiheit und gegenseitiges Einvernehmen ist, oder wir werden weiter Gruppenvergewaltigungen haben.“

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