Spaniens Verfassungsgericht verbietet Abstimmung: Justizreform eskaliert

Spaniens Opposition bringt das Verfassungsgericht in Stellung, um Abstimmungen im Parlament zu verhindern. Die Richter sitzen zwischen allen Stühlen, Spaniens Demokratie rutscht zumindest in eine institutionelle Krise und immer mehr an den Bürgern vorbei.
Aktualisierung, 20. Dezember, 12 Uhr: Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez hat in einer Regierungserklärung zum Urteil des Verfassungsgerichts versucht, die Lage zu deeskalieren. Zwar kritisierte er das Verbot der Abstimmung über die Justizreform im Senat durch die konservative Mehrheit der Verfassungsrichter (das gleichzeitig deren Abwahl verhindert) als „einmaligen Vorgang in unserer Demokratie“, erklärte aber gleichzeitig, dass „er das Urteil befolgen wird, so, wie sich das in einer Demokratie gehört.“ Allerdings sprach er auch von einer „richterlichen Blockade“. Er werde das Prozedere und die Gesetze so anpassen, dass sie passieren könnten, so Sánchez, der damit auch klar machte, dass er von seinen ursprünglichen Zielen (siehe Artikel unten) nicht abrücken will. Indirekt teilte er gegen die Opposition aus, die mit Hilfe „ihrer Richter“ ein Wahlergebnis, das ihr nicht passt, revidieren und demokratische Entscheidungsprozesse, also die Legislative durch die Judikative blockieren wolle.
Aktualisierung, 20. Dezember, 9.00 Uhr: Das spanische Verfassungsgericht (TC) untersagt dem Senat, Spaniens zweiter Parlamentskammer, eine Abstimmung über Teile der Justizreform, auch jene, die sich mit der Neuordnung des Wahlsystems für das Verfassungsgerichts selbst befasst. Diese war für den heutigen Dienstag geplant, nachdem das Gesetzespaket vorigen Freitag nach einer heftigen Debatte und Schuldzuweisungen durch den Kongress kam. Mit 6:5 Stimmen geben die Verfassungsrichter damit den Einwänden von PP und Vox nach. Der Vorgang ist in zweierlei Hinsicht ein Einschnitt in die Demokratie Spaniens: Erstmals in der Demokratie stoppt das Verfassungsgericht einen nationalen Gesetzgebungsprozess noch vor der endgültigen Abstimmung. Und das TC greift in eine Gesetzgebung ein, die die eigenen Mitglieder betrifft, deren Amtszeiten teils bereits abgelaufen sind. Einen Antrag der Regierungspartei PSOE, diese Mitglieder von der Abstimmung auszuschließen, lehnte das TC ab. Der Senat legt nun Widerspruch gegen das Urteil des TC ein. Regierunschef Pedro Sánchez hat für 11 Uhr eine Regierungserklärung angekündigt. Die Krise der demokratischen Gewalten in Spanien setzt sich fort. Die Details sind im untenstehenden Artikel erläutert.
Erstmeldung, 16. Dezember, Madrid - Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez ist das Lächeln vergangen. Das soll etwas bedeuten. Nach einem Albtraum von Parlamentssitzung am Donnerstag, 16. Dezember, spricht er vor den Medien unverblümt von einem „Komplott der Rechten, um die Demokratie zu überrollen“. In den Medien geistern Worte wie „institutionelle Krise“ sogar „Putsch“ umher, Kommentatoren werfen wechselseitig der oppositionellen Volkspartei (PP) vor, das Parlament mit der Straße zu verwechseln, oder Sánchez und seiner PSOE, die Integrität Spaniens zu gefährden.
Dass Parteien versuchen, über Gerichte eine Abstimmung im Parlament zu verhindern, nur Stunden vor dem Votum, sei etwas, „das es in 40 Jahren unserer Demokratie nicht gegeben“ habe. „Heute haben die Rechte und die Ultrarechte versucht, das spanische Parlament zu knebeln“, so Sánchez außer sich. Noch weiter ging der PSOE-Abgeordnete Felipe Sicilia, der das Handeln der PP mit dem Putschversuch Tejeros 1981 verglich: „Damals kamen sie mit dem Dreispitz (der Guardia Civil), heute kommen sie mit der Richterrobe.“
Justizreform in Spanien als Hebel zum Frieden in Katalonien
Sánchez verwahrt sich dagegen, dass PP und Vox seine Regierung wiederholt als „illegitim und kriminell disqualifizieren“, deren Mehrheiten gewählt wurden. Die PP würde die spanische Verfassung „als Geisel nehmen“, statt sie zu befolgen. „Die Verfassung und das Parlament sind zu respektieren, ebenso das Wahlergebnis und die Gewaltenteilung“, so der sichtlich genervte Regierungschef, der sich als Garant der spanischen Demokratie, „einer der großen Demokratien Europas“ deklarierte.
Am Abend wollte er den Bürgern, die angesichts von Energiekrise und Inflation im doppelten Sinne wenig Verständnis für das Paragraphen-Geschacher um Richterposten und Strafrechtsartikel aufbringen, die Dinge sehr deutlich erklären. Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung sei Dank seiner Mühen erledigt, Spaniens Einheit sichergestellt. Nun gehe es noch darum, die Legalität des Verfassungsgerichtes und des Justizrates wiederherzustellen. Und im Übrigen werde er noch vor Weihnachten ein drittes Hilfspaket gegen die Inflation angehen, worin auch die exorbitant gestiegenen Lebensmittelpreise berücksichtigt werden. Brot und Spielchen.
Was ist nun eigentlich geschehen? So kompliziert ist es auch nicht, aber für die Demokratie sehr wichtig: Am Donnerstag kam im spanischen Parlament eine Justizreform zur Abstimmung. Ziel der Regierungsparteien PSOE und Vereinigte Linke/Podemos und ihrer vornehmlich katalanischen Unterstützer ist eine Neuinterpretation, grob gesagt Abschwächung der Straftatsbestände sedición (Aufruhr) und malversación (Unterschlagung). Offiziell, weil die Auslegungen veraltet seien, doch das eigentliche Ziel der Reform ist ein politisches Entgegenkommen an die katalanische Separatistenbewegung, mit dem Ziel der Befriedung des endlosen Konflikts und der Stärkung jener Kräfte in Katalonien, die dialogbereit sind (Republikanische Linke ERC), gegen jene, die kompromisslos an der Abspaltung der Region von Spanien festhalten (Junts).

Die Gespräche über diesen angesichts der realen Probleme im Lande zumindest ungeschickten Kuhhandel auf dem Rücken des Rechtsstaates laufen seit Monaten, so lange tobt darüber auch die Rechte. Deren Kritik mag technisch berechtigt sein, politisch bieten PP und andere Gruppen rechts von der Mitte zum Thema Katalonien aber keine Lösungen an, setzen nur wieder auf die alte Totalkonfrontation, die überhaupt erst zur Eskalation führte, die 2017 in dem illegalen Referendum, Polizeieinsätzen gegen Wähler, die Flucht und juristische Verfolgung der Separatistenführer gipfelte und letztlich das Land spaltete, was der Rechten, so glaubt sie selbst, wiederum nutzt. Je mehr Chaos, desto besser. Eine Wiederholung dieser Zustände zu verhindern, einen Kompromiss für die Zukunft zu finden, ist politisch also legitim, dafür ins Strafrecht einzugreifen, aber zumindest fragwürdig. Und Sánchez hat zudem ein hundsmiserables Timing gewählt.
Richter mit Ablaufdatum: Spaniens ewiger Streit um Verfassungsgericht und Justizrat
Zur Justizreform, die jetzt im Parlament für solchen Wirbel sorgte, gehört aber noch ein weiterer Punkt, den die Regierung relativ kurzfristig mit zur Abstimmung brachte. Darin geht es um die Lösung eines weiteren gordischen Knotens, den beide politische Lager seit Jahren fester und fester ziehen: Die Bedingungen zur (Neu)-Wahl der Richter des Verfassungsgerichtes (TC) und den Mitgliedern des Justizrates Consejo General del Poder Judicial (CGPJ), dem höchsten Aufsichtsgremium der spanischen Justiz, das sehr viel Macht besitzt, unter anderem auch jene, Richtern Fälle zuzuweisen oder sie von solchen abzuziehen. Das hat wiederum auch Einfluss auf den Ausgang etlicher Korruptionsaffären von Politikern.
Die Neubesetzung beider Gremien, drei der elf Mandate des TC sind seit Jahren überfällig, das Verfallsdatum des CGPJ ist seit vier Jahren abgelaufen, wird von Rechts wie Links blockiert, weil beide Lager „ihre“ Kandidaten durchsetzen wollen. Die Juristen wollen möglichst selbst über ihre höchsten Gremien entscheiden. Die Richter-Gremien, die einen Teil der Kandidaten selbst bestimmen, sind in der Frage aber genauso gespalten, in drei Lager: in „progressiv“, „konservativ“ und in Unabhängige. Alle drei fühlen sich benutzt und in ihrer Ehre und Unabhängigkeit verletzt. Mehrfach drohten sie mit einer Art Arbeitsniederlegung, nur ihr Gewissen würde sie bis dato davon abhalten, die Justiz des Landes praktisch lahm zu legen.

Diese latente institutionelle Krise spitzt sich nun zu. Denn PP und Vox gingen, jeder für sich, kurz vor der Abstimmung im Kongress am Donnerstag, mit Einwänden zum Verfassungsgericht, um die Abstimmung im Parlament über die Justizreform durch ein Veto des TC zu verhindern. Sie sehen in der spanischen Verfassung verankerte Rechte der Parlamentarier bei der Einbringung von Anträgen und anderen Formalien verletzt. Das Verfassungsgericht, das nach landläufiger Meinung noch 6:5 zugunsten der Konservativen besetzt ist, sollte per einstweiliger Verfügung also einen Gesetzentwurf noch vor der Abstimmung im Parlament blocken, noch dazu einen Gesetzentwurf, bei dem es auch um das Verfassungsgericht selbst geht.
Wer ist der Souverän? Spaniens Gerichte dürfen nicht in Entscheidungsfindung gewählter Abgeordneter eingreifen
Das Verfassungsgericht berief am Donnerstag zwar eine Sondersitzung ein, vertagte die beiden Entscheidungen (Strafrechtsreform und Wahlreform Verfassungsgericht) aber auf Montag bzw. Dienstag. Daraufhin forderten PP, Vox und Ciudadanos, auch die Abstimmung zu verschieben. So als bräuchte das Parlament eine richterliche Erlaubnis, um zu arbeiten. Doch aufschiebende Wirkung von Einsprüchen vor dem TC bei Gesetzgebungsverfahren gibt es auf nationaler Ebene nicht, nur auf regionaler. Das TC kann die Justizreform, die am Donnerstag eine Mehrheit im Kongress fand, noch immer stoppen, denn der Senat muss ihr auch noch zustimmen. Das ist eine unerhörte Präzedenz, denn eigentlich hat die Justiz lediglich das rechtmäßige Zustandekommen von Gesetzen und deren Verfassungskonformität zu prüfen, nicht aber zu entscheiden, worüber Kongress oder Senat mit seinen frei gewählten Abgeordneten abstimmt.
Die demokratischen Gewalten stehen damit sozusagen auf dem Kopf, weil politische Kräfte versuchen, sie zu instrumentalisieren. Zwar soll die Justiz unabhängig agieren, der Gesetzgebungsprozess ist aber das freie Recht der durch den Souverän (auch in Spanien das Volk) gewählten Vertreter, also der Abgeordneten. Zudem steht das Verfassungsgericht vor dem Dilemma eines gewaltigen Interessenskonfliktes, wenn es in eine Abstimmung eingreift, die die Wahl der eigenen Mitglieder betrifft. Die Justiz, eigentlich Erfüllungsgarant des Gesetzgebers, würde sich so über den Souverän erheben, das wäre eine Aushebelung des Rechtsstaats und eine direkte Gefährdung der Demokratie.
Krise ohne Ausweg? Auch in Spanien gilt: Keine Demokratie ohne Demokraten
Bliebe anzumerken, dass fünf der elf aktuellen spanischen Verfassungsrichter ihre Jurastudien noch in der Franco-Ära absolvierten, als Spaniens Universitäten durchaus fundierte juristische Ausbildungen anboten, die demokratischen Grundsätze aber nicht gerade in Mode waren. Für Justizrat und Verfassungsgericht stehen Kandidaten bereit, doch da PSOE und PP praktisch nicht mehr ernsthaft verhandeln, nicht einmal mehr schachern, wie sie das früher taten, scheint eine Lösung des Konflikts unmöglich. Die Parlamentswahlen im Dezember 2023 könnten einen Ausweg bieten, wenn sie klare Mehrheiten schaffen - was im Moment eher zweifelhaft ist. Ob diese Lösung dann aber wirklich einen Gewinn für Demokratie und Rechtsstaat bringen wird, wäre damit noch lange nicht klar. Zu politisiert scheint die Justiz, zu blockiert die Politik. Das bestätigt sogar die EU, die das spanische Justizdrama mehr als einmal kritisierte. An diese EU will sich die PP nun wenden. Die Antwort dürfte ihr kaum gefallen. Wieder einmal bewahrheitet sich der Satz, dass eine Demokratie nicht ohne Demokraten funktionieren kann. Das gilt in der EU überall, in Ungarn wie in Spanien.
Zum Thema: Patchwork-Regierung in Spanien: Dritter Haushalt mit zwölf Parteien durchgeboxt