Das Virus zirkuliert weiterhin – auch in Spanien. Doch längst hat es seinen Schrecken verloren, wird wie eine normale Erkältung angesehen, viele testen schon gar nicht mehr. Bei der letzten Aktualisierung der Infektionszahlen vom 5. Mai wurde eine 14-Tages-Inzidenz von 94 Fällen pro 100.000 Einwohnern registriert. Wohlgemerkt bei den über 60-Jährigen, denn seit März 2022 zählt das Gesundheitsministerium nur noch die Fälle in dieser – mehr gefährdeten – Altersgruppe. Nichts im Vergleich zur Inzidenz von 3.000 oder mehr, die Spanien auf dem Höhepunkt der Omikron-Welle erreichte.
Sieben Corona-Wellen hat das Land in den vergangenen drei Jahren erlebt. Die beiden letzten bereits mit einer deutlichen Reduzierung der Fall- und Sterbezahlen dank der wachsenden Immunität durch Impfung und durchgemachte Infektionen. Nach offiziellen Angaben hat die Pandemie in Spanien 120.924 Todesopfer (Stand 5. Mai) gefordert. Rund 500.000 Menschen mussten wegen einer Covid-Infektion im Krankenhaus behandelt werden.
Beinahe unwirklich erscheinen heute die prägenden Erlebnisse aus der schwierigsten Zeit der Pandemie, besonders während des am 15. März 2020 ausgerufenen Notstandes in Spanien, und dem Lockdown, einem der strengsten in ganz Europa, als nur systemrelevante Geschäfte öffnen durften, die Menschen nur mit triftigem Grund auf die Straße und Spaniens Kinder ihre Wohnungen sechs Wochen lang nicht verlassen durften, Hundebesitzer hingegen schon.
Im Juli 2021 erklärte das Verfassungsgericht diesen Notstand, den die Regierung von Pedro Sánchez verhängt hatte, als verfassungswidrig. Die rechtsextreme Partei Vox hatte gegen die Maßnahme geklagt, der die Freiheitsrechte der Bürger verletze. Kaum ein Spanier hingegen hat die Regierung deswegen auf Schadensersatz verklagt. Die allgemeine Erkenntnis, dass durch die strengen Maßnahmen unzählige Infektionen vermieden und damit Menschenleben gerettet wurden, wiegt mehr.
Dabei hilft, sich noch einmal den Schrecken von Corona in seiner Anfangszeit in Spanien in Erinnerung zu rufen, als andere Länder wie Deutschland noch weitgehend von dem tödlichen Virus verschont blieben: die fast 1.000 Toten täglich, der Kollaps in den Krankenhäusern, die aufgereihten Särge in einer Madrider Eissporthalle, weil die Aussegnungshallen die unzähligen Leichen nicht mehr aufnehmen konnten, der Mangel an medizinischem Material wie Masken oder Schutzanzügen beim Ausbruch der Pandemie.
Dazu zählt aber auch das einsame Sterben von Bewohnern in Seniorenresidenzen in Spanien, deren Angehörige noch heute eine Untersuchung der Vorfälle fordern und inwieweit die hohe Sterberate in den Altenheimen in Zusammenhang mit den Protokollen steht, die etwa in den Regionen Madrid, Katalonien oder Castilla y León älteren Personen eine ärztliche Behandlung absprachen. Insgesamt starben in der Pandemie 35.000 Menschen in spanischen Altenheimen am Coronavirus, viele, ohne dass ihre Angehörigen sie noch einmal sehen konnten.
Kaum noch vorstellbar sind heute die Regeln, die Spaniens Regierung aufstellte, um die Verbreitung des Virus einzudämmen: Kontaktbeschränkungen, die Abriegelung ganzer Regionen oder von Orten mit besonders hoher Inzidenz, nächtliche Sperrstunden – die 14-Tages-Inzidenz bestimmte über lange Zeit in der Pandemie, ob, zu wie vielen und wo man sich treffen konnte. Die Begriffe Testpflicht, Einreiseformular und Hochrisikogebiet haben sich ins Gedächtnis derer gebrannt, die oft zwischen Spanien und ihrem Heimatland reisen.
Eines der wohl bekanntesten „Markenzeichen“ der Pandemie aber war der Mund- und Nasenschutz, er gehörte seit Beginn und bis April 2022 zur Grundausstattung der spanischen Bevölkerung ab sechs Jahren, anfangs noch selbstgenäht, dann nur noch mit Gütesiegel. Doch auch nach Ende der allgemeinen Maskenpflicht im Freien behielten viele Spanier sie noch auf. Im Februar dieses Jahres wurde sie – nach 1.010 Tagen – auch in öffentlichen Transportmitteln abgeschafft. Heute ist die Maske nur noch in medizinischen Einrichtungen und Apotheken Pflicht.
Wie beim Tragen des Mund- und Nasenschutzes bewiesen die Spanier in der Pandemie auch beim Thema Impfen Verantwortungsbewusstsein. Am 27. Dezember 2020 startete in Spanien die Impfkampagne – zunächst mit Bewohnern von Seniorenheimen und medizinischem Personal. Es folgten die über 80-Jährigen, von da an ging es sukzessive in den Altersgruppen nach unten. Für Verwirrung sorgte anfangs, wie die Impfung von ausländischen Residenten, die nicht im spanischen Gesundheitswesen gemeldet sind, ablaufen würde. Doch dies wurde schnell geregelt.
Nur acht Monate nach Start der Impfkampagne hatten fast 70 Prozent der spanischen Bevölkerung ihre erste Dosis erhalten. Im September 2021 wurde mit den Auffrischungsimpfungen begonnen. Aktuell weist Spanien eine Corona-Impfquote von 86 Prozent auf, in der Bevölkerung der über Zwölfjährigen liegt sie sogar bei 92 Prozent (rund 39 Millionen Personen). Zum Vergleich: In Deutschland hatten bis April 2023 knapp 78 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Impfdosis erhalten.
Die hohe Impfbereitschaft in Spanien ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass die Bevölkerung schnellstmöglich zur Normalität zurückkehren wollte, um die Flaute in der Wirtschaft zu überwinden. Denn der Tourismus, der vielen im Land das tägliche Brot garantiert, war völlig zum Erliegen gekommen. Vielleicht saß der Schrecken der Pandemie bei den Spaniern aber auch um einiges tiefer.