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Spanien reformiert Knebelgesetz: Nur noch ein bisschen Polizeistaat

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Von: Marco Schicker

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Polizeieinsatz in Madrid 2011.
Was darf die Polizei, was nicht? Das „Knebelgesetz“ in Spanien ging vielen Demokraten zu weit, doch die Reform lässt auch unter der Linken auf sich warten. © EFE

Das repressive Polizeigesetz aus der Zeit nach der Finanzkrise in Spanien verstößt gegen Bürgerrechte und Verfassung. Es ist noch immer in Kraft und wird jetzt, 2023, halbherzig reformiert. Von Gummigeschossen, unfehlbaren Polizisten und bekifften Nackedeis.

Madrid - Die „Reparatur“ eines Gesetzes, das sowohl von der aktuellen Links-Regierung wie von breiten Schichten der Bevölkerung in Spanien gemeinsam abgelehnt wird, weil es als das erkannt wurde, was es ist, der Exzess eines repressiven Polizeistaates, kommt angesichts der legislativen Pleiten-Serie, mit der die Regierung Sánchez ihre ganz gute Krisen-Bilanz ruiniert, ganz gelegen. Zumal im spanischen Superwahljahr 2023. Kompetenz, Einigkeit und Volksnähe könnte man so gleichermaßen zelebrieren, nachdem man beim Gesetz für Frauenrechte genau das Gegenteil von dem erreicht hat, was man wollte. Und die spanische Staatsbahn Züge bestellt, die nicht durch Tunnel passen. Doch der Teufel liegt im Detail und es dürfen bereits Wetten abgeschlossen werden, ob es zuerst die Parteifreunde, die Koalitionspartner, Richter oder die „nationale“ Pressemeute sein wird, die auch diese Gesetzesreform zu Fall bringen oder bis zur Unkenntlichkeit entstellen werden.

Spaniens Polizeigesetz vor Reform: Knebel und Knüppel gegen das Volk - Erdogan und Orwell grüßen

Es geht um das „Ley mordaza“, das in Spanien als Knebelgesetz bekannt wurde, das die damalige PP-Regierung 2015 unter Mariano Rajoy als eine Art Ermächtigungsgesetz für polizeiliche Repressionen durchsetzte, um im Lichte der aus der Finanzkrise wachsenden sozialen Spannungen aufmüpfiges Volk und soziale Bewegungen in Schach zu halten, notfalls das Demonstrationsrecht und die Meinungsfreiheit einzuschränken und ausufernde Polizeigewalt zur legalen Taktik zu machen sowie mit exorbitanten Straf- und Haftandrohungen Angst und Apathie zu verbreiten. Offiziell heißt das Gesetz der konservativen Volkspartei „Gesetz zur Bürgersicherheit“, aus dem Titel grüßen Franco, Erdogan, Putin, Orbán und Orwell gleichzeitig.

Sánchez und die Seinen wollten das Paket zunächst gänzlich kippen, dann wurde daraus eine Reform, derzeit geht es noch darum, 36 der 54 Paragraphen „anzupassen“. Neben den Koalitionären PSOE und Unidas Podemos sind auch die Stimmenlieferanten PNV (Navarra), ERC und Junts (Katalonien), EH-Bildu (Baskenland) mit von der Partie, nicht alle nur mit hehren Motiven, sondern auf „Deals“ erpicht. Die Änderungswünsche am Knebelgesetz wandern derzeit durch Kommissionen und Ausschüsse, bevor sie im Kongress zur Abstimmung kommen. Ende des Jahres sind Parlamentwahlen... Die Tageszeitung „El País“ erhielt Zugang zu den wichtigsten Punkten, auch zu jenen, bei denen im linken Lager Diskrepanzen herrschen, weil sie so dehnbar wie eine Zwangsjacke sind.

Die Polizei hat immer recht: Spaniens „Knebelgesetz“ hebelt rechtsstaatliche Grundsätze aus

Laut Paragraph 16 hat die spanische Polizei heute das Recht, auch unbescholtene Bürger bis zu sechs Stunden auf einem Revier festzuhalten, wenn sie „erkennungsdienstlich behandelt“ werden sollen. Dazu genügen „Zweifel an der Identität“ oder der Mangel „an amtlich anerkannten Papieren“ aus. Die Reform will das Einsammeln von Bürgern unter diesem Vorwand nun zur „absoluten Ausnahme“ machen, in zwei Stunden soll das Prozedere beendet sein, es sei denn, es gibt „begründbare Komplikationen bei der Identifikation“, dann sind sechs Stunden auch wieder in Ordnung.

Spanische Nationalpolizei im Einsatz beim illegalen Referendum in Katalonien 2017
Spanische Nationalpolizei im Einsatz beim illegalen Referendum in Katalonien am 1. Oktober 2017. Kompetenzen überschritten? © EFE

In den Paragraphen 19 und 52 erklärt das aktuelle „Knebelgesetz“ praktisch die Unfehlbarkeit der Polizisten, ihre Aussagen über Einsätze und Vorfälle stehen im Gesetz nämlich unter „Wahrhaftigkeits-Annahme“. Das ist aus juristischer Sicht völlig aberwitzig und leistet dem Missbrauch durch Kameraderie Vorschub, verletzt Bürgerrechte bis ins Mark. Die linke Lösung dafür? Die „Wahrhaftigkeits-Annahme“ bleibt aufrecht, wenn die Aussagen der Polizisten „logisch, zusammenhängend und vernünftig“ sind oder klingen.

Spontane Versammlungen in der Öffentlichkeit sind laut Artikel 37 des „Knebelgesetzes“ verboten, Teilnehmer begehen bei unangemeldeten Manifestationen eine Ordnungswidrigkeit, den Organisatoren drohen hingegen hohe Haftstrafen. Hier will die linke Regierung deutlich einschreiten, die Versammlungsfreiheit soll nun nicht mehr nur in der Verfassung, sondern auch auf der Straße gelten, so lange administrativer Aufwand und Schaden verhältnismäßig bleiben. Spanien folgt hier dem deutschen Modell, wonach eine spontante Demonstration durch eine mündliche Absprache zwischen Organisator und Einsatzleiter vor Ort als „provisorisch angemeldet“ gilt.

Reform des „Knebelgesetzes“ in Spanien: Versammlungsfreiheit wird wieder gestärkt

Die Polizei wird außerdem künftig dazu verdonnert, den Einsatz von „Material“, das zur gewaltsamen Auflösung von Versammlungen dient, also Knüppel, Pfefferspray, Schilde, Räumfahrzeuge, „vorher laut und klar hörbar anzukündigen“ und nicht - wie derzeit möglich - unangemeldet in die Parade zu grätschen. Uneins ist man sich indes selbst in linken Kreisen, ob der Einsatz von Gummigeschossen und Elektro-Tasern mit ihren bekannten Risiken grundsätzlich als Option bleiben soll oder nicht.

Organisatoren von Demos wurden bis dato - theoretisch - für alle Straftaten verantwortlich gemacht, die während der von ihnen angemeldeten Veranstaltung begangen wurden. Dieser Passus im Paragraph 30 wird dahingehend geändert, dass diese Mithaftung entfällt, wenn der Veranstalter alle Sicherheitsauflagen erfüllt hat. Auch die „Einkreisung des Parlaments“ und anderer Gebäude in denen gewählte Volksvertreter tagen, wird nicht mehr als „schwere Straftat“ geahndet. Rajoy outete mit diesem Passus die panische Angst, die er anno dazumal vor der Wut von mit Zwangsräumung bedrohten Hypotheken-Schuldnern hatte, deren Banken er gerade mit 47 Milliarden Euro Steuergeldern gerettet hatte. Damals, 2011, entstand die Bewegung 15-M und die machte Rajoy noch mehr Angst. Zu Recht, wie die Geschichte zeigen würde.

Neben der Unterdrückung von Demonstrationen und Streiks, kümmert sich das Knebelgesetz auch gesondert um Aspekte, die eigentlich im normalen Strafrecht geregelt sind, was ihm den Charakter eines „Sonderpolizeigesetzes“ verleiht. Die linke Koalition will zum Beispiel die unmittelbare Sanktionierung von Straßenprostitution nur noch für Freier und Zuhälter aufrecht erhalten, die Prostituierten aber verschonen. Sie sollen nur aus Zonen verschwinden, die Minderjährigen zu nahe kommen könnten.

Verfassungsgericht verbietet Verbot von Fotos und Videos von Polizeieinsätzen in Spanien

Der Besitz und der Anbau von Cannabis-Produkten und anderen „weichen“ Drogen zum Eigenkonsum soll weiter entkriminalisiert werden. Wie berichtet, ist in Spanien der Anbau und Besitz für den Eienbedarf legal, es genügte aber die schiere Sichtbarkeit einer Marihuana-Pflanze auf einem Balkon, um sich strafbar zu machen. Jetzt muss der Ort dafür mindestens „öffentlich zugänglich“ sein.

Polizisten demonstrieren in Madrid.
Nach einem Urteil des Verfassungsgerichts 2021 mobilisiert eine rechtsradikale Polizei-Gewerkschaft gegen eine Reform des „Knebelgesetzes“. © EFE

Ein besonders wichtiger Punkt ist das Verbot, Fotos oder Videos von Polizeieinsätzen zu machen. Dieses Verbot, das vor allem gedacht war, nichtpolizeiliche Beweismittel zu verhindern, fällt, aber nicht, weil die Politik es wollte, sondern weil es im Januar 2021 das Verfassungsgericht aufhob. Im Knebelgesetz betrifft dies den Artikel 37.1, der gestrichen werden muss. Lediglich bei der Publikation des Materials müssen „Sicherheit und Privatsphäre“ der Beamten gewahrt werden (verpixeln).

Polizei und Menschenrechte: Heiße Abschiebungen von Flüchtlingen in Ceuta und Melilla auf lange Bank geschoben

Reduziert werden auch Buß- und Strafgeldbemessungen, Polizisten, die an Demoeinsätzen teilnehmen, müssen an Lehrgängen zur „alternativen Vermittlung und Konfliktbeilegung“ teilnehmen. Keinen Konsens gibt es, so weiß es „El País“, beim Umgang mit „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ und „Fehlendem Respekt gegenüber Beamten im Einsatz“ sowie bei den „heißen Abschiebungen“ an den tödichen Grenzzäunen von Ceuta und Melilla, für das „Knebelgesetz“ den dortigen Polizisten eine Art Freibrief ausstellte, der aber gegen internationales Recht verstößt. Die PSOE will ihn in Kraft lassen, bis ein kommendes „Ausländer-Gesetz“ hier Klarheit verschaffe. Linke Parteien fordern die umgehende Abschaffung.

Und es gibt doch einen Fortschritt: Das aktuelle Knebelgesetz behandelt in Paragraph 37.5 die bloße Nacktheit in der Öffentlichkeit, also auch jene ohne sexuelle Hintergedanken, als „obszönen Akt“, der unterbunden und bestraft gehört. Die Linken, wohl in einer nostalgischen 68er Aufwallung, wollen diesen Punkt streichen, „um den Lebensstil des Nudismus besser zu schützen“. Davon könnten die Bürger besonders profitieren, denn bekanntermaßen kann man einem nackten Mann/Frau nur schwer in die Tasche greifen.

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