Vom neuen Grundeinkommen, dem Ingreso Mínimo Vital (IMV), werden rund 850.000 Familien in Spanien Gebrauch machen können, denn profitieren wäre zuviel gesagt. 2,3 Millionen Menschen, ziemlich genau fünf Prozent der Bevölkerung werden damit erfasst. Doch laut Statistik leben fast 20 Prozent der Spanier an oder unter der Armutsgrenze. In 1,1 Millionen Haushalten in Spanien sind alle Bewohner arbeitslos, rund 600.000 Menschen im Land sollen überhaupt kein offizielles Einkommen beziehen, so die offiziellen Daten.
Regionale Verteilung des Armutsrisikos in Spanien, nach den Daten des Statistikamtes INE:
Das betrifft nicht nur Saisonarbeiter, die sich selbst überlassen werden oder Einwanderer, die als private Haushaltshilfen oder Pflegekräfte arbeiteten, ohne Verträge und Absicherung oder andere marginalisierte Gruppen wie die Gitanos. Die extreme Armut trifft auch Menschen, die kürzlich noch Arbeit hatten, schlecht bezahlte und mit Verträgen, die gegen alle Normen verstießen. Auch die Hypothekenkrise, die Pflege von alten oder kranken Angehörigen hat viele ins Elend gebracht. Das Coronavirus setzte die Spirale der Armut verschärft in Gang. Es sind meist Hilfsorganisationen, also Freiwillige, die sich mit Armutsbekämpfung befassen, weniger der Staat.
Ausgezahlt werden soll das neue Grundeinkommen erstmals bereits im Juni. Rund 3,3 Milliarden Euro wird die unbefristete Maßnahme den Staatshaushalt jährlich kosten.
Schon seit Beginn der Coronavirus-Krise wurde das Grundeinkommen als eine der Maßnahmen im Rahmen der Hilfs- und Rettungspakete der Regierung angesprochen und viel diskutiert. Vor allem Pablo Iglesias, Vizeregierungschef des Koalitionspartners Unidas Podemos, drängte immer wieder darauf. Das Grundeinkommen ist Teil seines Wahlprogrammes und war außerdem Gelegenheit, das Profil seiner Gruppierung wieder zu stärken und sich ins Gespräch zu bringen.
Iglesias hatte sich eine großzügigere Zahlung an eine deutlich breitere Bevölkerungsgruppe gewünscht, wurde aber aus PSOE-Kreisen immer wieder gebremst, was dazu führte, dass die Kreditlinien für Unternehmen offen sind, Kurzarbeitsgeld (ERTE) bezahlt wird, Hilfspakete für ganze Branchen auf dem Weg sind, aber wieder einmal die Ärmsten bis zuletzt warten müssen. Doch Sánchez wollte ideologische Grundsatzdebatten vermeiden.
Die von der Rechten als "sozial-kommunistisch" verunglimpfte Maßnahme, die noch dazu entwürdigend sei, weil man den Menschen "Almosen statt Arbeit" gebe, verärgerte nicht nur die wirtschaftsfreundliche PP, Vox und Arbeitgeberverbände, sondern machte auch jene liberaler werdenden Ciudadanos argwöhnisch, die Sánchez als Mehrheitsbeschaffer nicht nur für den Coronavirus-Notstand braucht und daher mit allzu linken Projekten nicht verägern will.
Wie ist das Grundeinkommen zu bewerten? Die 3,3 Milliarden Euro sind ein volkswirtschaftliches Nullsummenspiel. Die Familien können sich auch mit dem IMV nicht zurücklehnen, aber sie können essen und haben ein Dach über dem Kopf und ihre Kinder sind weniger gefährdet, schon in der Schule für den Rest ihres Lebens marginalisiert zu werden. Die materiellen und gesellschaftlichen Folgekosten von extremer Armut sind unberechenbar. Das einzudämmen, ist das Ziel. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Das Geld fließt also im Grunde im gleichen Monat in den Wirtschaftskreislauf zurück. Der Staat bezahlt über das IMV einen kleinen Teil jener Versäumnisse, die er auf dem Arbeitsmarkt, in der Steuer- und Sozialpolitik, aber auch bei den Arbeitsinspektionen über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zugelassen hat und versucht mit dem IMV, Zustände wie in der Dritten Welt in Spanien zu beenden.
Sánchez blieb trotz der Welle der Polemik und dem Widerstand aus den eigenen Reihen standhaft, seine Überlegung ist durch und durch sozialdemokratisch. Den Schwachen helfen, ohne das System in Frage zu stellen. Von der Idee seines Sozios Iglesias ist allerdings nicht mehr viel übrig geblieben. Das Argument der PP "Arbeit statt Almosen" ist indes reiner Zynismus. Denn Dank der Finanzkrise und ihres einseitigen Managements und vor allem der großen Arbeitsmarktreform von 2012 unter Mariano Rajoy, sind viele Spanier heute gerade in dieser prekären Lage. Oder in ihr geblieben.
Kilometerlange Schlangen an den Tafeln von Madrid:
Diese Arbeitsmarktreformen rückgängig zu machen, ist Teil des Regierungsprogrammes von Sánchez und Iglesias und wird der nächste große Aufreger der kommenden Monate sein. Dieser Tage schloss die Regierungskoalition, die in Minderheit regiert, dazu eine Vereinbarung ausgerechnet mit der baskischen Nationalistenpartei EH Bildu, die von der Rechten als Terrorunterstützer qualifiziert wird. Danach solle das gesamte Erbe Rajoys in der Arbeitsmarktpolitik getilgt werden. Oder vielleicht doch nur Teile davon, wie es aus PSOE-Kreisen bereits zu vernehmen war.
Denn eigentlich wäre genau jetzt, wo wieder Jobs reaktiviert werden oder durch Konjunkturprogramme neue entstehen, der richtige Zeitpunkt, den Rahmen dafür so zu stecken, dass die Menschen selbst aus der prekären Lage finden und sich absichern können. Doch Spaniens Wirtschaftssystem, das vor allem auf dem Massentourismus, der Bau- und Landwirtschaft beruht, also für prekäre Arbeitsverhältnisse besonders anfällige Branchen, scheint auf eine gerechtere Arbeitswelt noch nicht vorbereitet zu sein, das Land will schnell Jobs, egal welche. Ob die Regierung diesen Spagat aushält, werden die nächsten Monate zeigen.